Wie weiter für die ägyptische Revolution? Ann Alexander analysiert aus Kairo die gegenwärtige Phase der Protestbewegung
Einleitung
Dieser Artikel [a] ist eine vorläufige und unvollständige Darstellung einer unvollendeten Revolution. [1] Der Artikel untersucht, in einem ersten Versuch, die Folgen der großen Streikwellen und sozialen Proteste, die dem Sturz Mubaraks vorangegangen sind und die die ersten Monate der Revolution dominiert haben. Ausgehend von Rosa Luxemburgs Texten zur Russischen Revolution 1905 wird argumentiert, dass eine mächtige Dynamik – die Dynamik der Wechselwirkung zwischen den sozialen und politischen Momenten des Klassenkampfs – die Revolution vertieft. Diese Dynamik beginnt das Potential für die Revolution zu schaffen, – in Trotzkis Worten – um von einem politischen Kampf innerhalb des Kapitalismus zu einer sozialen und politischen Revolution gegen Kapitalismus »hinüberzuwachsen«. [2]
»Potential« soll hier heißen: Ich versuche weder, eine vollständige Analyse der derzeitigen Kräfteverhältnisse in der ägyptischen Revolution zu liefern, noch urteile ich darüber, wie weit die hier beschriebenen Prozesse fortgeschritten sind. Die gegenwärtige Phase der Revolution ist von der Komplexität und ungleichen Entwicklung ihrer politischen Organisationen, Kampfformen und des Bewusstseins der Beteiligten gekennzeichnet. Einhundert Tage nach dem Fall Mubaraks war es in Ägypten möglich, zugleich in einer Militärdiktatur zu leben, als auch in einem demokratisch organisierten Betrieb zu arbeiten. In einer Militärdiktatur, die immer mehr dazu neigt, sogar noch härtere Repressionsmaßnahmen als das alte Regime anzuwenden. Andererseits in einem Betrieb, in dem der Chef durch einen Aufstand der Massen abgesetzt und zu Flucht gezwungen wurde; in einem Betrieb, der mittlerweile von einem demokratisch gewählten Gewerkschaftskomitee geführt wird.
Die angeführten Beispiele in diesem Artikel, bergen noch eine andere Kernaussage: Sie werfen ein neues Licht auf das Potential, dass in Revolutionen steckt. Der Aufstand gegen Mubarak hat die Möglichkeit gezeigt, wie sich die Menschen befreien und eine andere Welt verwirklichen können. Es sind die Kämpfe der Ägypterinnen und Ägypter, die uns die Möglichkeit geben, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: die Kämpfe der Fahrer und Mechaniker der Öffentlichen Verkehrsmittel in Kairo, des Pflegepersonals, der Portiere und der Ärzte des Manshiyet al-Bakri Krankenhauses, der Lokführer aus Beni Sueif und Fayyum, der Textilarbeiter aus Shibin al-Kom und die schlecht bezahlten Beamten des ägyptischen Finanzministeriums. Allein dieser Umstand bestätigt eindrucksvoll die fortbestehende Relevanz der sozialistischen Tradition, in der Luxemburg und Trotzki standen.
Weg von Entwicklungsstufen und Modellen
Sowohl Trotzki als auch Luxemburg versuchten in ihren Schriften zur Russischen Revolution von 1905 jene Wände niederzureißen, die versucht haben, die Energie der Revolution in eine Abfolge fein säuberlich geordneter Entwicklungsstufen und Schemen einzufangen. Luxemburgs Polemik zielte auf die bürokratische Führung der mächtigen deutschen Gewerkschaftsbewegung und der Sozialdemokratie ab. Diese Leute entwickelten die Vorstellung, dass der Klassenkampf durch eine Reihe »ökonomischer« und »politischer« Entwicklungsstufen gehen müsse. Diese mechanistische Formulierung des Klassenkampfes offenbarte deren Ablehnung der Revolution zugunsten ihres Reformismus. Luxemburg hielt die Annahme, dass die Kämpfe der Arbeiterklasse automatisch von einem ökonomischen in ein politisches Stadium übergehen und dabei von einem entsprechenden Wachstum der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Organisationen begleitet werden, für von Grund auf falsch. Ihre Analyse der Revolution von 1905 widerlegt die Annahme, dass die ökonomischen Kämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter notwendigerweise auf einem niedrigeren Niveau als die politischen Kämpfe stattfinden, geschweige denn ein früheres Stadium im revolutionären Prozess als die politischen Konflikte darstellen: »Jede von den großen politischen Massenaktionen schlägt, nachdem sie ihren politischen Höhepunkt erreicht hat, in einen ganzen Wust ökonomischer Streiks um. Und dies bezieht sich wieder nicht bloß auf jeden einzelnen von den großen Massenstreiks, sondern auch auf die Revolution im Ganzen. Mit der Verbreitung, Klärung und Potenzierung des politischen Kampfes tritt nicht bloß der ökonomische Kampf nicht zurück, sondern er verbreitet sich, organisiert sich und potenziert sich seinerseits in gleichem Schritt. Es besteht zwischen beiden eine völlige Wechselwirkung.«
Im Folgenden bricht Luxemburg nicht nur mit der Vorstellung des linearen Fortschritts von der ökonomischen zur politischen Entwicklungsstufe. Sie lehnt es auch ab, verschiedene Momente ein und desselben Klassenkampfes voneinander zu trennen: »Mit einem Wort: Der ökonomische Kampf ist das Fortleitende von einem politischen Knotenpunkt zum andern, der politische Kampf ist die periodische Befruchtung des Bodens für den ökonomischen Kampf. Ursache und Wirkung wechseln hier alle Augenblicke ihre Stellen, und so bilden das ökonomische und das politische Moment in der Massenstreikperiode, weit entfernt, sich reinlich zu scheiden oder gar auszuschließen, wie es das pedantische Schema will, vielmehr nur zwei ineinander geschlungene Seiten des proletarischen Klassenkampfes in Russland. Und ihre Einheit ist eben der Massenstreik. Wenn die spintisierende Theorie, um zu dem »reinen politischen Massenstreik« zu gelangen, eine künstliche logische Sektion an dem Massenstreik vornimmt, so wird bei diesem Sezieren, wie bei jedem anderen, die Erscheinung nicht in ihrem lebendigen Wesen erkannt, sondern bloß abgetötet.« [3]
Auch Trotzki bricht in seiner Theorie der permanenten Revolution, die er erstmals 1905 zu Papier brachte und später in der Geschichte der Russischen Revolution und anderen Schriften der 1930er Jahre vervollständigte, mit einer Reihe von Entwicklungsstufen und Modellvorstellungen. Viele seiner Zeitgenossen versuchten ebenfalls, die revolutionäre Energie der Arbeiterklasse in solche Schemen zu zwängen. [4]
Trotzki analysierte zuerst Eigenarten der ungleichen und kombinierten Entwicklung Russlands. Seine entscheidende Erkenntnis war, dass die organisierte Arbeiterklasse, durch diese besondere Entwicklung, notwendigerweise die revolutionäre Bewegung gegen die zaristische Diktatur anführen musste. Diese Entwicklung ermöglichte es deshalb den Arbeiterinnen und Arbeitern, über die Ziele der bürgerlich-demokratischen Umwälzung hinaus einen Kampf für Sozialismus zu führen. Genauso hartnäckig war Trotzki in seinem Angriff auf die Idee, dass die proletarische Revolution gegen ein globales System wie Kapitalismus innerhalb der Grenzen von Nationalstaaten isoliert bleiben könne. Joseph Choonara weist in diesem Journal [a] darauf hin, dass diese Erkenntnisse bereits in den Schriften Ergebnisse und Perspektiven und 1905 enthalten sind, im Kontext von Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus jedoch an Schärfe und Bedeutung gewinnen.
Trotzkis Theorie ist auf vielen Ebenen weitaus entwickelter als die Luxemburgs, da sie erklärt, wie Russlands ungleiche und kombinierte Entwicklung – die »ermöglichenden Umstände« bei Neil Davidson [6] – die permanente Revolution möglich macht (obwohl Luxemburg in Massenstreik ähnliche Schlüsse zieht). Trotzkis Argumente sind, was das Ende des revolutionären Prozesses angeht, radikaler als die Luxemburgs: Er kam zu dem Schluss, dass es die russischen Arbeiter waren, die vor ihren deutschen Genossinnen und Genossen die Staatsmacht erringen mussten.
Vorwärtsbewegung nach oben und innen
Rosa Luxemburg argumentiert, dass die Wechselwirkung zwischen ökonomischen und politischen Momenten des Klassenkampfes in einer Revolution aus der kapitalistischen Gesellschaft selbst entspringt. Im Kapitalismus vereint das Kapital die politische und ökonomische Herrschaft über die Arbeiterklasse. Die Wechselwirkung, wie sie Luxemburg beschreibt, ist der Ausdruck dieser Dominanz. Jeder Streik untergräbt die ökonomische Herrschaft, da die Arbeiterinnen und Arbeiter kurzzeitig die Macht über das Kapital erobern. Jeder Streik hat auch eine politische Dimension, selbst wenn diese nur unter der Oberfläche mitschwingt. Wenn die Werktätigen ihren Bossen am Arbeitsplatz die Stirn bieten, fordern sie in Konsequenz die Dominanz der Bosse über die Regierung heraus.
Die Wechselwirkung ist der Prozess, in dem diese »verflochtenen« Momente des Klassenkampfes während einer Revolution zusammenwirken. Zum einen bedeutet dies eine Seitwärtsbewegung, in der sich das relative Gewicht der politischen und ökonomischen Momente des Klassenkampfes ständig in einer Pendelbewegung hin und her verschiebt. Insgesamt muss es aber auch eine Vorwärtsbewegung geben: Der Kampf muss sowohl tiefer in das Herz des kapitalistischen Produktionsprozesses hineingetragen, als auch nach oben hin um die Staatsmacht geführt werden. Die Arbeiter bilden in diesem Prozess ihre eigenen Organisationsformen heraus. Die russischen Sowjets oder Räte können als eine Verschmelzung der ökonomischen und politischen Momente des Kampfes verstanden werden. In diesen speziellen Formen üben die Arbeiter ihre Macht direkt über die Produktion aus, während sie gleichzeitig nach der politischen Macht im kapitalistischen Staate selbst greifen. Wenn beide Aspekte so weit ausgereift sind, entsteht eine Situation, in der es möglich ist, von einer »Doppelherrschaft« im Sinne Trotzkis zu sprechen. [7]
Die genaue Bezeichnung und Form dieser Arten von Arbeiterorganisation sind nicht so wichtig wie das, was sie tun. Ein Beispiel sind die betriebsübergreifenden Streikkomitees, die sich in Polen während der Solidarno??-Bewegung gebildet haben. [8] Während der Iranischen Revolution bildeten sich in den Betrieben ebenfalls Räte. Wenn es zu einer landesweiten oder zumindest lokalen Zusammenarbeit gekommen wäre, hätten auch die iranischen Räte die kapitalistische Ordnung herausfordern können – sowohl im Knotenpunkt der Produktion, als auch in direkter Konfrontation mit dem Staat.
Um die vorübergehenden Erschütterungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und politischen Herrschaft in einen permanenten Systemwechsel zu verwandeln, ist noch etwas Weiteres notwendig: Die Arbeiterklasse muss die Staatsmacht ergreifen, und die Revolution muss sich international ausweiten.
Doppelherrschaft ist der kritische Moment zwischen der Wechselwirkung, wie sie Luxemburg beschreibt, und der permanenten Revolution. So gesehen kann man auch argumentieren, dass die Beziehung zwischen dem Kampf der Arbeiterklasse um bürgerlich-demokratische Reformen und der gleichzeitigen Schaffung von alternativen Organen der Arbeitermacht (wie der Sowjets) ein »Hinüberwachsen« bedeutet. Dabei muss dieser Prozess zuerst im Bewusstsein und der Organisation der Arbeiter stattfinden, bevor die Staatsmacht erobert werden kann. Trotzki schreibt in seiner Analyse der russischen Revolution von 1905: »Die Petersburger Arbeiter nannten schon im Jahre 1905 ihren Sowjet eine proletarische Regierung. Diese Bezeichnung ging damals in den Sprachgebrauch ein und deckte sich vollständig mit dem Programm des Kampfes der Arbeiterklasse um die Macht. Gleichzeitig jedoch stellten wir dem Zarismus das erweiterte Programm der politischen Demokratie entgegen (Allgemeines Wahlrecht, Republik, Miliz usw.). Anders konnten wir nicht handeln. Die politische Demokratie ist eine notwendige Etappe in der Entwicklung der Arbeitermassen – mit dem wesentlichen Vorbehalt, dass in dem einen Falle diese Etappe Jahrzehnte dauert, während in dem anderen Falle die revolutionäre Situation es den Massen erlaubt, sich von den Vorurteilen der politischen Demokratie zu befreien, noch bevor deren Institutionen in die Wirklichkeit umgesetzt worden sind.« [9]
Im engeren Sinne könnte man sagen, dass die Dynamik der Wechselwirkung – zwischen den politischen und ökonomischen Momenten des Klassenkampfes in einer revolutionären Phase – die Organisation und das Bewusstsein der Arbeiter bis zu jenem Punkt entwickelt, an dem es ihnen gelingt, den notwendigen Sprung über den bürgerlichen Staat hinaus zur Arbeitermacht zu tun. Revolutionen folgen natürlich keiner simplen arithmetischen Reihe. Es gibt immer Sprünge nach vorn und Schritte zurück. Auch dieser Prozess tritt nicht zwangsläufig ein. Wenn die Dynamik der Wechselwirkung auf der einen Seite stockt, kann sie von der anderen hinauf oder hinab gezogen werden. Nichtsdestotrotz sind es die Vergrößerung der politischen Dimension der Arbeiteraktionen auf der ökonomischen Ebene zum einen und wiederum die Vertiefung der ökonomischen Auswirkung ihrer politischen Kämpfe zum anderen, die als allgemeine Richtung der Bewegung die permanente Revolution möglich machen.
Die Massen betreten die Bühne der Geschichte
Es wäre immer noch völlig verfrüht, die Auswirkungen des Aufstandes vom 25. Jänner zu bemessen. Das Ausmaß dieser unglaublichen Massenmobilisierung von unten hat ihre Spuren nicht nur in Form unscharfer Videos auf YouTube hinterlassen oder Lawinen von Twitter-Nachrichten losgetreten: Sie hat sich in das Leben von Millionen Menschen eingeprägt, die sich nach Jahrzehnten der Erniedrigung und Ausgrenzung ihren Weg zurück auf die Bühne der Geschichte erkämpft haben. Die schiere Anzahl von Ägypterinnen und Ägyptern, die dem Tränengas getrotzt haben, Streiks organisierten, und die erleben mussten, wie ihre Freunde und Nachbarn in den Straßen erschossen wurden, geben der Revolution ihre Urgewalt, lassen sie in jede Pore der Haut eindringen. Sie durchdringt das tägliche Leben und transformiert während dieses Prozesses die Macherinnen und Macher der Revolution selbst. Selbstverständlich geht es dabei nicht nur um Arithmetik von Menschenmassen, sondern darum, wer diese Millionen sind. Manche sind sicherlich Teil der ägyptischen Mittelklassen: Studierende, Fachpersonal, englischsprachige Führungskräfte von Google und liberale Politikerinnen und Politiker. Die Ursache ihrer Unzufriedenheit mit dem Regime liegt in erster Linie in ihrer politischen Ausgrenzung: die alltägliche Erfahrung mit der polizeilichen Brutalität, die so große Teile der ägyptischen Gesellschaft miteinander verband. Der Ausschluss von der Politik ist für die große Mehrheit, die am Aufstand teilnahm, allerdings nur eine Seite der Medaille – die andere ist für sie die Armut. Zu dieser Mehrheit gehören Arbeiterinnen und Arbeiter, kleine Geschäftsleute, Handwerker, Arbeitslose und Unterbeschäftigte, die von ihren Familien nicht unterstützt werden können und diejenigen, die in der Schattenwirtschaft schuften, Straßenhandel betreiben oder anschaffen gehen.
In den Worten von Mustafa Bassiouny: »Die wichtigste aller Errungenschaften der Revolution war die Entfesselung mächtiger Kämpfe von breiten, bisher unterdrückten und marginalisierten Schichten der Gesellschaft, die ihre eigene Teilnahme als einen fantastischen Machtfaktor in der Revolution entdeckt haben.« [10]
Wie ich an anderer Stelle im Detail erörtert habe, war die Explosion von Arbeitskämpfen in der Woche vor Mubaraks Sturz der entscheidende Faktor im Aufstand. Den Anfang machten strategisch wichtige und symbolträchtige Betriebe, wo es in vielen Fällen bereits ein Untergrundnetzwerk von unabhängigen Gewerkschaftsaktivistinnen und -aktivisten gab, die bereits Erfahrungen im Organisieren von Streiks sammeln konnten: zum Beispiel die Postämter, die Kairoer Busgaragen der öffentlichen Transportmittel oder die technischen Betriebe des Suez-Kanals. Die Streikwelle breitete sich rasend schnell auf andere Betriebe aus. Bis zum 9. Februar traten mindestens 300.000 Arbeiterinnen und Arbeiter in Streik. [11]
Von Tahrir zu Tathir: die Säuberung des Staates
In einem verzweifelten Versuch den Zusammenhalt des ganzen Staates zu bewahren, zwang der Aufstand am 11. Februar schließlich einen Teil des Staates – die obersten Militärs – gegen einen anderen Teil – Mubarak und sein unmittelbares Gefolge – vorzugehen. Die Beseitigung des Diktators ermöglichte eine Welle von Kämpfen, ähnlich denen der Saneamento (Reinigung) in der portugiesischen Revolution von 1974. Das Ziel dieser Kämpfe war es, den Staat und das öffentlichen Leben von einstigen machtvollen Unterstützern des alten Regimes zu reinigen. Im Arabischen wird dieser Prozess Tathir (Reinigung) genannt. Der Kampf um die Entmachtung korrupter Bosse und Beamter ist die Fortsetzung des Aufstandes an einer vertrauteren Front -am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, im Krankenhaus oder in der Schule. So gesehen versteht man eher, wie die Revolution Millionen Menschen in ihren Bann zieht, anstatt nur eine Abfolge spektakulärer Ereignisse zu sein. Wie Tony Cliff in Bezug auf die portugiesische Revolution bemerkte, bedeutet »Saneamento… viel mehr als nur Geheimpolizisten einzusperren. Wenn sie effizient und in vollem Ausmaß durchgeführt wird, bedeutet es die faktische Zerstörung der Strukturen des bürgerlichen Staates. Weil der korporatistische Staat die Kontrolle über alle Bereiche des sozialen Lebens, Banken, Kirchen, Schulen, Universitäten, Büro- und Fabrikverwaltungen besaß, würde eine vollständige Saneamento die Zerstörung einer ganzen sozialen Hierarchie vom Direktorium bis hinunter zu den Vorarbeitern bedeuten.« [12]
Der Prozess der Tathir beginnt schon die Dynamik der sich gegenseitig verstärkenden Wechselwirkung zwischen politischen und ökonomischen Kämpfen zu zeigen, wie sie von Luxemburg erkannt wurde. Speziell die Beseitigung von Managern und Staatsbeamten durch öffentliche Proteste und Streiks hat zumindest vorübergehend die »Grenzen der Kontrolle« verschoben. [13] Viel bedeutender ist aber folgende Tatsache: In einigen wenigen aber sich häufenden Fällen haben die Arbeiterinnen und Arbeiter erfolgreich demokratische Kontrolle über ihre Manager erlangt. Sie haben die Nachfolger der entmachteten Beamten mittels Wahlen ernannt.
Zwei Aspekte der Tathir sind hier wichtig. Erstens ist die Tathir die buchstäbliche Wiederholung der Geschehnisse des Aufstands in Miniaturform. Der Prozess ist sowohl durch das Ausmaß der Massenmobilisierung als auch aufgrund des erbarmungslosen Kampfes mit dem Staat angetrieben worden.
So zum Beispiel in Mansoura am 13. Februar, dem ersten Werktag nach dem Sturz Mubaraks am 11. Februar: Ein Zeitungsartikel brachte detaillierte Berichte über Streiks und Proteste, bei denen die Angestellten die Entfernung hoher Regierungsbeamter in zwei lokalen Verwaltungsbehörden, im Obersten Strafgerichtshof, im Internationalen Krankenhaus und im Allgemeinen Krankenhaus von Mansoura forderten. Eine Demonstration von Arbeitern der Bezirksverwaltung verlangte zudem die Absetzung des Bezirksgouverneurs wegen Korruption. [14] Eine Protestwelle brach auch über die Universitäten herein, wo Studierende und Angestellte die Büros der verhassten Geheimpolizei unter ihre Kontrolle brachten und massive Demonstrationen gegen die verhassten, von Mubarak ernannten Rektoren organisierten. [15] Ministerien, Spitäler, das Postwesen und die großen öffentlichen Betriebe, wie die riesige Spinnerei und Weberei in Mahalla al-Kubra, erlebten ganz ähnliche Proteste und Streiks. [16]
Zweitens hat die Reinigung von korrupten Beamten tiefgreifende Auswirkungen in der sozialen Dimension, wenn sie durch Druck von unten zustande kommt – selbst wenn sie sich innerhalb eines reformistischen Rahmens bewegt. Die Beseitigung eines Direktors durch kollektive Aktion von unten hat zumindest zur Folge, dass die normalen Beziehungen zwischen Bossen und Arbeitern auf den Kopf gestellt werden. »Säuberungen« besitzen während einer Revolution das Potential, aus einer vorwiegend politischen Kampagne (und zwar einer, die nicht nur von Linken, sondern einer Vielzahl von politischen Kräften aufgegriffen werden kann) in einen tiefgreifenden sozialen Prozess hinüberzuwachsen. Die Tathir war in Ägypten seit Beginn der Streikwelle, die zu Mubaraks Sturz geführt hat, mit sozialen Forderungen, oft für bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen, verwoben. In einem bestimmten Ausmaß kann »Säuberung« ein Modell für soziale Kämpfe sein und umgekehrt, da beide oft mit denselben Mitteln durchgeführt werden. Auf einer anderen Ebene kann die erfolgreiche Beseitigung von korrupten Bossen durch Streiks und Proteste Arbeiter dazu ermutigen, neue soziale Forderungen zu stellen (und ein ähnlicher Rückkoppelungseffekt kann umgekehrt entstehen, wenn erfolgreiche kollektive Aktionen für soziale Ziele die Arbeiter dazu ermutigen, Veränderungen im Management einzufordern).
Die Politik des Kampfes um soziale Gerechtigkeit
Der explizit »politische« Kampf, um Teile des alten Regimes in den Betrieben und staatlichen Institutionen zu beseitigen, hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die soziale Dimension. Umgekehrt hat die Revolution die politische Bedeutung des Kampfes um soziale Gerechtigkeit vertieft. Das Aufstellen sozialer Forderungen war ein höchst politisches Statement. Es war ein Schlag gegen Selbstzufriedenheit der Liberalen, die die Armen gebeten hatten, in ihre Slums zurückzukehren und auf die Wahlen zu warten. Das politische Ausmaß der sozialen Forderungen wurde bereits vor der Revolution von den ersten unabhängigen Gewerkschaften vorgezeichnet. Während der Revolution unterzeichneten ungefähr 40 Streikführerinnen und Streikführer einen Aufruf mit den »sozialen Forderungen der Arbeiter in der Revolution«. Einer kleinen aktiven Minderheit von Arbeiterinnen und Arbeitern war von Anfang an klar, dass dies ein allgemein politisches Manifest eines radikalen sozialen Wandels bedeutet. [17]
Die Anforderungen des Kampfes vertiefen die politische Stoßwirkung der Arbeitskämpfe um soziale Gerechtigkeit auf einer weiteren Ebene. Die Notwendigkeit, Verbündete und Unterstützung in weiten Teilen der Bevölkerung zu finden, drängt die Streikenden zur Formulierung allgemeiner Forderungen. Sie zeigen damit, dass ihre Kämpfe größeren Teilen der Gesellschaft zu Gute kommen. Die Forderung nach einem landesweit erhöhten Mindestlohn, neben spezifischen Lohnforderungen einzelner Betriebe, wurde dadurch populärer. Andere verallgemeinerte Forderungen verlangen die Einführung eines Maximallohnes in verschiedenen Wirtschaftsbereichen. Der geforderte Maximallohn erhöht das politische Gewicht des Kampfes um bessere Löhne, weil dabei die Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeit im Kern des kapitalistischen Systems gelenkt wird.
Die Wirtschaftskrise ist der bei Weitem mächtigste objektive Faktor, der die sozialen Kämpfe vorantreibt und deren Auswirkungen vertieft. Zwei entscheidende Gesichtspunkte sind hier wichtig: Zum einen das Erbe der wirtschaftlichen Situation vor der Revolution, die von extremer Ungleichheit und grassierender Armut geprägt war. Zum anderen die ökonomische Situation nach der Revolution. Aus der Perspektive der Massen sieht die postrevolutionäre Krise folgendermaßen aus: Besonders die Armen haben mit steigenden Lebensmittelpreisen zu kämpfen, nachdem die Teuerung der Nahrungsmittel in den Jahren zuvor bereits einen historischen Höchststand erreichte. Die Lebensmittelpreise waren im April 2011 um 20 Prozent höher als im selben Monat ein Jahr zuvor. [18] Die Unzufriedenheit der Menschen wurde dadurch entscheidend verschärft. Die Krise wurde zudem durch die Auswirkungen von Lohnverlusten während des Aufstands geprägt (Menschen, die bereits ums Überleben kämpfen, haben keine finanziellen Rücklagen, die einen Lohnausfall ausgleichen können). Die besser organisierten Teile der ägyptischen Arbeiterklasse konnten sich kurzzeitig etwas Luft verschaffen, da sie mittels Streiks Zugeständnisse bei Löhnen und Bonuszahlungen erzwingen konnten.
Aus der Perspektive der herrschenden Klasse brachte die postrevolutionäre Krise nicht nur wirtschaftliche Einbußen – gemessen am Ausfall der industriellen Produktion während des Aufstands und der Streikwellen – mit sich. Darüber hinaus kam es zu dramatischen Fremdwährungsverlusten aufgrund der zwischenzeitlich zusammengebrochenen Tourismusbranche. [19]
Zuletzt wäre da noch die Reaktion des Staates: Die Vorgangsweise, sowohl mit Repression zu antworten, als auch auf die Forderungen der Arbeiter einzugehen, hat im Zusammenhang mit der Revolution eine höchst politische Bedeutung. Dort wo die Arbeitgeber oder der Staat auf die Forderungen der – von unten, selbst organisierten – Arbeiter mit Zugeständnissen reagieren ist die Wahrscheinlichkeit, dass weiteren sozialen Forderungen die Luft aus den Segeln genommen wird, viel geringer. Eher das Gegenteil findet statt: Siege können andere Arbeiter dazu ermutigen, ihre eigenen Forderungen zu stellen. Diesen Prozess sahen wir schon in der vorrevolutionären Periode, nach der Streikwelle von 2006. Das Selbstvertrauen und der Organisationsgrad der Arbeiter sind seit dem Ausbruch der Revolution dramatisch gewachsen. Damit sind die Chancen auf eine Verallgemeinerung der Forderungen quer durch sämtliche Industriebereiche und geographische Regionen beträchtlich gestiegen.
Andererseits kann staatliche Repression einen politisch radikalisierenden Effekt haben. Der Aufstand hat das Regime Schicht für Schicht demaskiert, seine inneren Strukturen nach außen gekehrt und vor den Massen entblößt. Die Armee hat eine neue Rolle übernommen, und übt jetzt direkte Repression gegen Streiks und soziale Proteste aus. Die Arbeiter wiederum können daraus radikale Schlussfolgerungen ziehen. Die Ereignisse der letzten Wochen lassen erahnen, was hier alles auf dem Spiel steht. Anfang Mai setzte eine Welle von Gerichtsverhandlungen gegen einige Streikführer ein. Als der Staat einschritt und Ali Fattouh, einen Streikführer und führenden Kopf der unabhängigen Gewerkschaften, vor Gericht stellte um die Kairoer Busfahrer wieder zu disziplinieren, führte dies in den Tagen vor seinem Prozess unmittelbar zu einem politischen Streik gegen seine Anklage. [20] Noch während des Streiks stellten die Busfahrer ökonomische Forderungen, die sehr rasch erfüllt wurden, um von der zentralen Forderung auf Aufhebung des Verfahrens abzulenken. Im Sinn der »Teile und Herrsche«-Strategie versuchte man, die Arbeiter zu besänftigen.
Der Staat und Konterrevolution
Die Ägyptische Revolution hat uns in ihren ersten vier Monaten eindrucksvoll gezeigt, wie die Befreiung der Menschen aussehen kann. Diese kurzen Einblicke sind umso faszinierender, als sich bisher am Herzstück des Staates nur sehr wenig verändert hat. Die Hierarchie der Armee, das eiserne Rückgrat des Staates Mubaraks, bleibt unter der Führung von Feldmarschall Tantawi intakt. Er verkörpert, mit den Worten von Shashank Joshi, all »die reaktionären Kräfte, die immer noch im Herz eines Regimes eingebettet sind, das vielleicht seinen Galionsfigur verloren hat, nicht aber seinen Kern.« [21]
Mubaraks alte Generäle leiten nun die Gerichtsverfahren gegen ihre ehemaligen zivilen Kollegen in der Regierungspartei. Nur wenige haben es daher gewagt, sie zu Rechenschaft zu ziehen. Die Generäle wenden dieselben Repressionsmaßnahmen gegen Kritiker an, aufgrund derer das alte Regime so verhasst war: Folterungen, militärische Strafgerichte, Unterdrückung abweichender Meinungen und Kriminalisierung von Protesten. Zudem bleiben, zum Zeitpunkt des Schreibens, zentrale, demokratische Forderungen des Aufstands, gänzlich oder teilweise unerfüllt. [22] Ein Referendum am 19. März unterstützte eine Reihe von Veränderungen an der Verfassung.
Es beinhaltete eine Begrenzung der Amtszeiten und Schwächung der Exekutivgewalt des Präsidenten, die Wiederherstellung der richterlichen Aufsicht bei Wahlen und eine Lockerung der Einschränkungen von Präsidentschaftskandidaten. Diese möglichen Verbesserungen auf der Ebene formeller Demokratie müssen allerdings der Wirklichkeit der Herrschaft der Militärs gegenübergestellt werden. Unabhängige Gewerkschaften haben zwar endlich rechtliche Anerkennung erlangt, jedoch wurde am 23. März ein neues Gesetz verabschiedet, das das Recht auf kollektiv organisierte Aktionen abschaffte. Streiks und Proteste wurden so kriminalisiert. [23]
Die Dynamik der Wechselwirkung – in den Grundzügen weiter oben umrissen – wird durch das Kräfteverhältnis zwischen der Massenbewegung und des Staates geformt. Dieses Verhältnis ist allerdings kein starres, nicht zuletzt weil die Masseninstitutionen des Staates, einschließlich der Armee selbst, unter permanentem Druck von unten stehen. Gerade die Dynamik der Wechselwirkung, die von dem Aufstand in Bewegung gesetzt wurde, verstärkt diesen Druck ungemein. Die repressiven Kräfte des Staates, namentlich des Innenministeriums, bekamen während des Aufstands die volle Wucht des Zorns der Massen zu spüren. Die Polizeiabteilung zur Aufstandsbekämpfung der Zentralen Sicherheitskräfte (ZSK) wurde in offenen Straßenschlachten zwischen dem 25. und 28. Jänner geschlagen. Hunderte Polizeistationen wurden dabei von Demonstrantinnen und Demonstranten zerstört.
Darüber hinaus leitete das Regime Maßnahmen ein, um den Zorn der Massen zu beschwichtigen und entfernte besonders verhasste Gestalten: Die Führung des Innenministeriums, insbesondere der Minister selbst, mussten ihre Posten räumen.
Das Regime war allerdings in der Lage, einen strategischen Rückzug zu inszenieren und entfernte die ZSK-Truppen am 28. Jänner von den Straßen. Dies geschah noch rechtzeitig, bevor ihre interne Disziplin zusammenbrach. Im Laufe der nächsten Woche vollzog das Regime einen Strategiewechsel und unternahm gezielte und äußerst brutale Versuche, um die Moral unter den Demonstranten zu brechen: sie mobilisierte die Baltagiyya. Sie bestand vermutlich aus Offizieren der Staatssicherheit und angeheuerter Schlägertrupps, und nicht, wie die ZSK-Truppen, aus einer unglaublichen Massen an Wehrpflichtigen. Diese Meute versuchte die Protestcamps auf dem Tahrir Platz und anderswo auseinanderzutreiben. Der Rückzug der regulären Polizeieinheiten von den Straßen wurde von vielen als bewusster Versuch gesehen, Chaos und Unsicherheit zu verbreiten. Dies veranlasste die Menschen dazu, lokale Verteidigungskomitees zu gründen, um die Sicherheit wiederherzustellen. Die Baltagiyya wurde am Tahrir selbst, mit Unterstützung großer Teile des jungen Flügels der Muslimbruderschaft zurückgeschlagen. Die immer größer werdenden Demonstrationen und schlussendlich die einsetzende Streikwelle nach dem 8. Februar bereitete den Weg für die Entmachtung Mubaraks. In der Folge führte dies relativ schnell zur Auflösung der Staatssicherheit am 4. und 5. März.
Von diesem Höhepunkt an versuchte das Regime allerdings, die Polizei wieder auf den Straßen einzusetzen: ausgehend von der Rückkehr der regulären Verkehrspolizisten im März bis zur Wiederkehr der ZSK in ihrer alten Rolle zur Unterdrückung von Protesten während den Demonstrationen vor der israelischen Botschaft am 15. Mai.
Die Kräfte des Innenministeriums hatten vorübergehend eine Niederlage erlitten. Im Gegensatz dazu neutralisierte der Aufstand zuerst die Armee und zwang dann ihre Führer im Interesse der Revolution, entgegen ihres eigenen Willens, zu handeln. Die Armeeführung wagte es nicht, die Demonstrationen mit Gewalt zu zerschlagen. Möglicherweise fürchtete sie sich die Militärführung davor (oder wusste), dass Schussbefehle nicht ausgeführt werden würden. Sie sah sich nicht nur gezwungen, Mubarak zu entmachten, sondern musste auch eine Säuberung der zivilen Führungsriege durchführen. Die Dynamik des Drucks von unten riss während der Monate nach dem Sturz Mubaraks nicht ab. Die regelmäßig wiederkehrenden Märsche »der Millionen« auf dem Tahrir Platz am Freitag erkämpften Zugeständnisse von oben, zumeist die Säuberung des alten Regimes von verhassten Persönlichkeiten.
Der Oberste Militärrat erklärte sich indessen selbst zum Beschützer der Revolution. Die mehr und mehr offene Repression der Armee untergrub jedoch diesen Deckmantel und schwächte die Anziehungskraft der Parolen, die die Armee und das Volk als »eine Hand« gegen Mubarak feierten. Nichtsdestotrotz beherrschte die Armeeführung immer noch ein Organ, dessen Zusammenhalt und innere Disziplin weitgehend ungebrochen blieb (mit einer bemerkenswerten Ausnahme, als Unteroffiziere am 8. April offen demonstrierten). Sie trat sogar einer Massenmobilisierung ziviler Herausforderer entgegen, und das obwohl gegen Ende Mai schon vermehrt Rufe nach einer »zweiten Revolution des Zorns« zu hören waren. [24]
Die politische Landschaft hat sich in der Periode nach Mubaraks Sturz grundlegend aus der widersprüchlichen Rolle der Armee geformt: Der oberste Militärrat sah sich aufgrund des Massenaufstands gezwungen im Interesse der Revolution zu handeln und musste Mubarak entfernen. Zugleich sind die Generäle aber die wesentlichsten Kräfte, die versuchen, die Konterrevolution zu leiten. Für einen Moment hat das schiere Ausmaß der Mobilisierung von unten, gefolgt von den enormen sozialen und politischen Protesten in einer sich verstärkenden Dynamik der Wechselwirkung, den demokratischen Spielraum erweitert und die Generäle gebannt.
Dieses Kräfteverhältnis zwischen der Massenbewegung und dem Staat formt auch die Konterrevolution. Allaa' Awad erinnert uns, dass die Konterrevolution ein Prozess ist, der »vom ersten Moment der Revolution an beginnt und dessen Taktiken und Verlauf vom Kräfteverhältnis der politischen Kräfte vor Ort bestimmt wird.« [25] Awad argumentiert, dass die Konterrevolution aus drei grundlegenden Achsen besteht: Erstens dem gemeinsamen Versuch der Militärführung und seiner zivilen Verbündeten, die Revolution auf ein schmales Band an Verfassungsänderungen zu beschränken, so wie im Referendum vom 19. März verankert. Zweitens der bewussten Eskalation des Glaubenskonflikts und drittens die Festigung einer stabilen, post-revolutionären Ordnung basierend auf dem Aufbau einer demokratischen Fassade, um ein undemokratisches Regime zu verhüllen. [26]
Die erste Runde der Kämpfe zur Einschränkung der Revolution wurde über das verfassungsmäßige Referendum vom 19. März ausgetragen. Der Oberste Militärrat, die Führung der Muslimbruderschaft und Überbleibsel der ehemaligen herrschenden Partei nahmen den Kampf gegen eine ziemlich breit gefächerte Koalition aus Liberalen und Linken auf. Sowohl die andauernden sozialen Proteste als auch das Wachstum neuer Formen von unabhängigen Arbeiterorganisationen veränderte die Beschaffenheit der Kämpfe und gestaltete die beteiligten gesellschaftlichen und politischen Kräfte um. Zum Obersten Militärrat und der Führung der Muslimbruderschaft gesellten sich Liberale, Geschäftsleute und sogar manche der revolutionären jungen Aktivisten, die während des Aufstands schnell zu Prominenz gelangten. Sie verurteilten die Streiks, weil diese nur »beschränkte« Interessen ausdrücken würden und verlangten von den Arbeitern, wieder das »Rad der Produktion« zu drehen. Ihnen gegenüber stand die erwachende gesellschaftliche Kraft der Arbeiterklasse und der städtischen Armen. Zwar noch immer schwach organisiert, erkannten sie zum ersten Mal ihre Kraft in der Revolution. An ihre Seite wiederum gesellten sich kleine Organisationen der Linken und die unabhängigen Gewerkschaften.
In Hinblick auf die zweite Achse der Konterrevolution argumentiert Sameh Naguib, dass das Auftreten der salafistischen Bewegung auf der politischen Bühne, ein ausdrücklicher Versuch der Militärführung ist, einen Glaubenskonflikt zu schüren, um ein Klima des Chaos zu erzeugen (Die Salafisten sind islamistische Aktivisten, die eine starke Betonung auf persönliches Verhalten in Übereinstimmung mit einer strengen Interpretation des Islams legen). [27]
In diesem Licht sind einige Zwischenfälle im Mai zu sehen, bei denen Salafisten gewalttätig gegen koptische Kirchen vorgingen. Diese sollen angeblich erst kürzlich zum Islam konvertierte christliche Frauen entführt haben. Dies schuf eine äußerst angespannte Atmosphäre und führte am 8. Mai zu Übergriffen auf Kirchen und deren Eigentum in Imbaba. Die Folge: zwölf Tote und hunderte Verletzte. [28] Der Kurs, von moralischer Panik über eine vermeintliche »Bedrohung des Islam« bis zu Angriffen auf koptische Gemeinden, wurde bereits im Ton der Debatten über das verfassungsmäßige Referendum im März gesetzt. Einige Islamisten warfen die Frage auf, ob man die Veränderungen in Artikel 2 der Verfassung (stellt den Islam als Staatsreligion sicher), akzeptieren oder ablehnen sollte.
Awad stellt außerdem fest, dass sektiererische Glaubensfragen den Protest gegen die Bestellung eines neuen Gouverneurs der Provinz Qina im März überschatteten und ablenkten. [29] Die Massen lehnten es ab, dass die Bezirksgouverneure weiterhin zentral vom Regime ernannt werden (besonders wenn die korruptesten und brutalsten unter ihnen einfach mit den ersten oder zweiten Stellvertretern ersetzt wurden). Obwohl dies den ursprünglichen Anlass für die Demonstrationen gab, gelang es durch eine Intervention der Salafisten, den Fokus der Proteste auf die Ablehnung des neuen Gouverneurs aufgrund seiner Religion zu verschieben.
Es reicht hier der Platz nicht, um die dritte Achse der Konterrevolution zu behandeln, also inwiefern die Militärführung und irgendeine Zusammensetzung ihrer zivilen Verbündeten daran arbeiten würde, eine Fassade bürgerlicher Demokratie zu festigen. Genauso ist es hier unmöglich zu sagen, in welchem Umfang dies einen größeren demokratischen Spielraum im Vergleich zur Situation vor der Revolution bedeuten würde. Eines können wir aber mit Gewissheit sagen: Angenommen die Hauptarchitekten dieser neuen politischen Ordnung sind die Generäle des Obersten Militärrates. Es ist in diesem Fall sehr wahrscheinlich, dass die Grenzen dieses stabilisierten »demokratischen« Systems haargenau von der Kampfbereitschaft und Organisation der Massen bestimmt werden. Ihre Kämpfe können das System offen halten.
Aus dieser Perspektive bietet sich uns ein düsteres Bild: Das Regime ist in seinem Herzstück extrem widerstandsfähig, es besitzt die Kapazitäten zur Mobilisierung der Konterrevolution und ist fähig, mit Massenorganisationen wie der Muslimbruderschaft Allianzen zu schließen. Diese Möglichkeiten erlauben es dem Regime, die Revolution einzuschränken oder sogar zurückzudrehen. Dabei ist allerdings dieselbe Dynamik der Wechselwirkung, die in der gesamten Gesellschaft in Gang gesetzt wurde, von entscheidender Bedeutung. Sie erhöht den Druck sowohl innerhalb der Masseninstitutionen des Staates als auch in den Organisationen mit einer Massenbasis, insbesondere der Muslimbruderschaft. Die Dynamik der Wechselwirkung lässt so Bruchstellen entstehen, an deren Fronten diese Massenorganisationen aufbrechen können. Naguib argumentiert genauso in Bezug auf die Bruderschaft: »Ständiges Schwanken zwischen Opposition und Kompromiss, zwischen Eskalation und Gelassenheit, ist das Resultat der Natur der Bruderschaft als eine massenhafte, religiöse Gruppe, die aus Teilen der städtischen Bourgeoisie, Seite an Seite mit Teilen des traditionellen und modernen Kleinbürgertums (Studierende und Universitätsabsolventen), aus Arbeitslosen und großen Teilen der Armen besteht. Diese Struktur bleibt stabil, solange die Zeiten politisch und gesellschaftlich ruhig sind. In Momenten großer Umwälzungen verwandelt sie sich allerdings in eine Zeitbombe, wenn es beinahe unmöglich wird, die verschiedenen widersprüchlichen Interessen unter einen Hut breiter und diffuser religiöser Sprache zu bringen«. [30]
Zur Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels sind lediglich ein paar flüchtige Eindrücke in die Basis der Armee und den Sicherheitskräften möglich. Dennoch kam es zu einigen wichtigen Ereignissen. Am 1. Mai kam es zu einem Streik der Zentralen Sicherheitskräfte im Gabal al-Ahmar Lager. Sie demonstrierten gegen die Bedingungen in ihren Baracken. Der Streik wurde offiziell bestätigt: Gemäß Zeitungsberichten warfen die Polizisten ihre Offiziere hinaus, übernahmen das Lager und wählten ein Streikkomitee, um mit dem Innenministerium zu verhandeln. [31] Noch aussagekräftiger war die kollektive Opposition einer Gruppe von Unteroffizieren, die am 8. April an einer gewaltigen Demonstration am Tahrir Platz teilgenommen und die Auflösung des Obersten Militärrates gefordert hatten. [32]
Organisationen zur Vertiefung des Kampfs
Eine der wichtigsten Rollen, die revolutionäre Sozialisten übernehmen, liegt im Aufbau und Gewinnen politischer Hegemonie über jene Organisationen, die den Prozess der Wechselwirkung zwischen politischen und ökonomischen Momenten des Klassenkampfes vertiefen können. Die Pendelbewegung, vom Politischen zum Ökonomischen und zurück, muss allerdings mit einer Bewegung nach oben, hin zur Spitze des Staates, und nach innen, hin zum Herz der Organisation der kapitalistischen Produktion verbunden werden. An seinem Höhepunkt bringt die Dynamik der Wechselwirkung ein Verschmelzen von politischen und ökonomischen Momenten des Klassenkampfs hervor: eine Kampfansage an den bestehenden Staat basierend auf der kollektiven gesellschaftlichen Kraft der Arbeiterklasse, die den kapitalistischen Motor in den Betrieben anhalten kann, und die den bestehenden bürgerlichen Staat stürzen und mit einem Arbeiterstaat ersetzen kann.
Die Dynamik der Wechselwirkung wird nicht von Seiten einer revolutionären Minderheit in Gang gesetzt: Sie entspringt der inneren Logik einer revolutionären Krise selbst, weil sie Ausdruck der vereinigten ökonomischen und politischen Herrschaft des Kapitals über die Arbeiterklasse ist. Allerdings hat das Eingreifen von Revolutionären in entscheidenden Momenten der Kämpfe einen wichtigen Einfluss darauf, wie sich die Ereignisse weiter entwickeln. Sie machen einen Unterschied darin, wie Argumente eingesetzt werden und welche Taktiken von den Werktätigen verwendet werden, um ihre Ziele zu erreichen. Reihenfolge und Timing von Ereignissen spielen eine entscheidende Rolle in der Formung des revolutionären Prozesses. Darüber hinaus ist Organisation nicht nur notwendig, um auf die positive Dynamik der Wechselwirkung, sondern auch auf deren Umkehrung einzuwirken, um der Ansteckungsgefahr der Arbeiterbewegung mit sektiererischen Spaltungsmechanismen und der Aushöhlung ihrer Einheit, die sie beispielsweise braucht, um ihre Bosse zu besiegen, Einhalt zu gebieten.
Es ist auch nicht sinnvoll, einfach nur Organisationen zu gründen, die bis zu einem gewissen Grad Initiativen auf der Linken sind. Im Gegenteil, die Mechanismen zu finden, um auf die Dynamiken der Wechselwirkung einzuwirken, bedeutet da zu sein, wo die Massen sind. Sozialisten bauen daher, wie noch weiter unten dargelegt wird, sowohl unabhängige Gewerkschaften unter den Lohnabhängigen im Gesundheitsbereich auf, als sie auch Kämpfe von unten in der bestehenden Ärztegewerkschaft leiten.
Unabhängige Gewerkschaften
Die unabhängigen Gewerkschaften sind momentan der Schlüssel, um die spontanen Proteste der Arbeiter in eine organisierte, kollektive Aktion zu übersetzen. Die Kämpfe können so über Teilbereiche hinaus zwischen Betrieben und sogar auf einer nationalen Ebene koordiniert werden. Die Gewerkschaften verbreiten und verstärken die Forderung nach einem nationalen Mindesteinkommen, das, einmal umgesetzt, der gesamten Arbeiterklasse zugute kommen würde. Während sie in Größe und Stärke wachsen, zeigen die unabhängigen Gewerkschaften ihr Potential, den Staat und die Bosse unter Druck zu setzen und ihnen diese Zugeständnisse abzugewinnen. Das Auftreten und die Festigung der Gewerkschaftsbewegung, die tatsächlich vom Staat unabhängig ist, fordert überdies die herrschende Klasse Ägyptens heraus. Mehr als 50 Jahre strebte sie danach, alle politischen und gesellschaftlichen Bewegungen unter ihrem eigenen Banner zusammenzufassen (Freilich scheiterten sie damit mit der Muslimbruderschaft. Allerdings sahen sie sich seit den 1940er Jahren auch nicht mit einer Massenbewegung für säkulare Ziele konfrontiert). Obwohl Mubarak vordergründig mit dem Nasserismus gebrochen hat, als er sich dem neoliberalen Projekt verschrieb, waren seine loyalsten Verbündeten bis zum bitteren Ende die Führer des korrupten staatlichen Gewerkschaftsverbands.
Die Erfahrung der Eisenbahnerinnen und Eisenbahner von Beni Sueif illustriert, welche Begeisterung und welchen Enthusiasmus die neuen Gewerkschaften unter den Arbeitern für unabhängige Klassenorganisation hervorrufen. Das alles passiert in einem Maße, wie es Ägypten in mehreren Generationen nicht mehr gesehen hat. Nach Mubaraks Sturz starteten Eisenbahnarbeiter in Beni Sueif im Bereich der staatlichen Eisenbahnen Ägyptens eine Kampagne für eine unabhängige Gewerkschaft, die alle Lohngruppen des Eisenbahnpersonals zusammenfassen sollte. Arbeiterinnen und Arbeiter hissten Banner in den Eisenbahnstationen. Bald hatten sie einen beständigen Zulauf an Leuten, die sich über die neue Gewerkschaft informieren wollten. Hunderte Eisenbahnarbeiter traten der Gewerkschaft bei. Lohnabhängige von benachbarten Städten begannen sich zu erkundigen, wie sie sich ebenfalls organisieren könnten. Die Gründungskonferenz der Gewerkschaft am 4. Mai in Beni Sueif wurde von circa 5.000 Arbeitern besucht, darunter die 1.200 Menschen starke Belegschaft der Zentralen Abteilung. Darüber hinaus nahmen beispielsweise auch umfangreiche Arbeiterdelegationen aus anderen Bereichen des Eisenbahnnetzes und der Umgebung an der Konferenz teil. [33]
Die Erfahrung der Gewerkschaft der Spitalsbediensten im Manshiyet al-Bakri Krankenhaus in Kairo veranschaulicht das Potential für ein Verschmelzen von politischen und sozialen Kämpfen. Dies eröffnet der Arbeiterklasse völlig neue Perspektiven. Diese Erkenntnis zeigt sehr deutlich, welchen Unterschied die Intervention sozialistischer Aktivistinnen und Aktivisten in diesem Prozess ausmachen kann. Als revolutionärer Sozialist kann man sich notwendigerweise eine andere Welt erdenken. Man kann sich in einer theoretischen Weise vorstellen, dass die Arbeit auch anders organisiert werden kann und man ist sich bewusst, dass gewöhnliche Menschen sowohl die Fähigkeit als auch den Willen besitzen, ihre eigenen Leben zu verändern. Die Kunst, die Theorie in die Realität umzusetzen, liegt darin, Wege zu finden, auf denen die Arbeiter diese Ideen durch ihre eigenen Kämpfe selber verwirklichen können – mit anderen Worten, die Methoden des Kampfes, die Formen der Organisation und die politischen Argumente zu finden, die das bereits Existierende organisch mit der transformierten Gesellschaft, für die wir kämpfen, zu verbinden.
Die Geschichte beginnt am Tahrir Platz mit Mohamed Shafiq, einem Arzt im öffentlichen Krankenhaus Manshiyet al-Bakri in Kairo. Shafiq, ein sozialistischer Aktivist, beschreibt die Situation, als er ein paar Tage vor dem Sturz Mubaraks in das Krankenhaus zurückkehrte: »Es begann am 7. Februar. Ich war am Tahrir Platz um in einem Notlazarett zu arbeiten. Ich ging zurück ins Krankenhaus und fand dort eine revolutionäre Stimmung vor. Sogar Menschen, die zuvor Mubarak unterstützt haben, meinten, es könne so mit der Situation in den Spitälern nicht weitergehen. Also erstellte ich ein Flugblatt mit den Forderungen der Ärzte. Anders als bei früheren Erfahrungen beim Sammeln von Unterstützungen, unterzeichneten dieses Mal alle Ärzte. Es war unglaublich. Eine paar Krankenschwestern fragten, ob sie unterschreiben könnten. Am Anfang sagte ich nein. Es gab immer eine unsichtbare Barriere zwischen den Ärzten und Krankenschwestern. Aber nachdem so viele fragten, dachte ich mir »Warum nicht?« »
Konfrontiert mit der Frage, an wen man diese Forderungen richten sollte, begannen Shafiq und seine Kollegen zu diskutieren, ob mit dem Ansuchen nicht einen Schritt weiter gehen sollte. Sie fingen sogleich an, sich in einer unabhängigen Gewerkschaft zu organisieren. Und wieder fanden sie überwältigendes Gehör bei der Belegschaft. Hunderte aus allen Bereichen wollten einbezogen werden. »Wir entschieden uns, eine Gewerkschaft für unser Krankenhaus zu gründen. Innerhalb von zwei Wochen hielten wir Wahlen ab. Manche waren unsicher, ob Ärzte, Portiere und Pflegepersonal das gleiche Mitspracherecht erhalten würden. Dieses Argument haben wir allerdings gewonnen.« Da nun die Mehrheit des Krankenhauspersonals gewerkschaftlich organisiert war und vor dem Hintergrund des Prozesses der Tathir, der sich über ganz Ägypten ausbreitete, musste es früher oder später zu einem Zusammenstoß mit dem Krankenhausdirektor kommen: »Wir ordneten das Krankenhaus und das Budget neu. Unser Manager weigerte sich diese Veränderungen umzusetzen. Spitalsmanager sind kleine Diktatoren – Mubaraks. Also sagten wir ihm, er solle gehen und nicht wieder kommen.«
Was diesen Akt der »Reinigung« kennzeichnete, war, dass das Krankenhauspersonal bereits organisiert war und es ihm deshalb möglich war, einen demokratischen Mechanismus vorzuschlagen und umzusetzen, mit dem sie die Neubesetzung des Direktorpostens bestimmen konnten. »Der Gewerkschaftsrat leitete das Spital, aber wir wussten, dass hier Probleme auf uns zukommen würden – Schecks mussten unterzeichnet werden und wir mussten mit der Regierung und örtlichen Beamten arbeiten. Also wählten wir einen Manager. Die neue Gewerkschaft des Öffentlichen Transports beaufsichtigte die Durchführung. Die Techniker machten Wahlurnen und wir hatten spezielle Wahlkarten, die man nicht kopieren konnte. Manche Arbeiter konnten nicht lesen, also verwendeten wir Fotos der Kandidaten. Über 500 Menschen wählten. Wir verlangten vom stellvertretenden Minister für Gesundheit unseren Manager einzusetzen, bevor die Neuigkeiten der Wahl in der Presse auftauchen. Er versuchte dagegenzuhalten – aber rief uns innerhalb von zwei Stunden zurück, um uns zuzustimmen.«
Der erste wesentliche Punkt ist hier, dass sich alles auf die Massenbewegung bezieht. Die einfachen, konkreten Forderungen, um die Situation der Ärzte und des Krankenhauses zu verbessern, wurden im Zusammenhang mit dem Aufstand zum Blitzableiter, der die Wut von unten wie in einem Gewitter konzentrierte. Die neue Gewerkschaft wurde zu dem Mittel, mit dem die Arbeiter ihre Kontrolle über das Management durchsetzen konnten. Das war nicht nur aufgrund der Vorbildwirkung der Entmachtung Mubaraks möglich, sondern auch, weil innerhalb des Spitals eine gewisse Schwelle für die Mobilisierung der Massen überschritten wurde. Die unglaubliche Rekrutierung der unabhängigen Gewerkschaft in der politisch brisanten Stimmung nach dem Sturz Mubaraks warf konkret die Frage über die Kontrolle der Produktion auf.
Der zweite Punkt ist in diesem Fall, dass die Form der Organisation selbst die Dynamik der Wechselwirkung verstärkt hat. Insbesondere die Tatsache, dass die unabhängige Gewerkschaft die alte Hierarchie im Krankenhaus niedergerissen hat. Das hatte weitreichende Effekte: Das Kräfteverhältnis zwischen Management und Belegschaft wurde relativ schnell aufseiten der Belegschaft verschoben, weil diese es schaffte, beinahe alle Angestellten, außer den hochrangigen Manager, zu organisieren. Die demokratische Struktur der Gewerkschaft selbst war zu einem mächtigen Faktor geworden. Die Gewerkschaft wurde so zum Attraktionspunkt für die Krankenschwestern, Portiere und sonstiges Krankenhauspersonal, weil sie ihnen ein echtes Mitspracherecht ermöglichte.
Die Erfahrung der Spitalsbediensteten des Manshiyet al-Bakri Krankenhauses brachte zudem die Frage von Führung aufs Tapet. In einer Reihe von Schlüsselmomenten spielte die Intervention von Sozialistinnen und Sozialsten eine bedeutende Rolle. Vom ersten Schritt an, um die Unterstützungen zu sammeln, um für eine einheitliche Gewerkschaft zu argumentieren, bis hin zu den Debatten über die demokratische Struktur innerhalb der Gewerkschaft. Nicht zuletzt bei den Initiativen, andere Arbeiter mit einzubeziehen, die sich ebenfalls in Kämpfen befinden, und den Bemühungen über das eine Krankenhaus hinaus zu denken, um sämtliche Spitalsbedienstete auf einer nationalen Ebene zu organisieren. Bisher fand dies in ständigem Austausch mit breiteren Schichten von Spitalsbediensteten statt, die an dem Aufbau der Gewerkschaft beteiligt waren. Mohamed Shafiq betont in seinen Aufzeichnungen, dass nicht er es war, der sich gemeinsam mit den Krankenschwestern organisieren wollte. Vielmehr war es der Verdienst derer, die vehement eine Ausweitung eingefordert haben und am erbittertsten mit ihm über die Demokratie in der Gewerkschaft gestritten haben. Die Fragen über Demokratie und Führung bringen uns daher direkt zur Frage der Politik der Massen. Um die Dynamik der Wechselwirkung zu verstärken, muss eine demokratische Organisation organisch mit den lebendigen Kämpfen von unten verbunden sein. Verliert sie diese Verbindung, verliert sie auch die Fähigkeit diesen Prozess zu vertiefen. Eine sozialistische Führung, die ihre Tätigkeit darin sieht, von außen theoretisch fehlerfreie Forderungen und Programme auf die Arbeitskämpfe zu projizieren, ist überhaupt keine Führung.
Das Ausmaß, mit dem die unabhängigen Gewerkschaften die Dynamik der Wechselwirkung prägen können, hängt somit nicht von der Natur der Führung oder deren interner demokratischer Strukturen ab. Entscheidend sind ihre Verbindungen mit den Arbeitskämpfen und das allgemeine Kräfteverhältnis in der Revolution. Sogar undemokratische, bürokratische Gewerkschaften können der Ausgangspunkt für die beschränktesten Forderungen sein. Diese können allerdings die Ketten von bloßen Einzelinteressen sprengen. [34]
Die landesweiten Ärztestreiks in Ägypten am 10. und 17. Mai unterstreichen dieses Argument. Das organisierende Zentrum für den Streik setzte sich aus einem Netzwerk von Aktivistinnen und Aktivisten innerhalb der Ärztegewerkschaft, dem ägyptischen Gegenstück zur British Medical Association, zusammen. [c] Im Fahrwasser der Revolution wäre es einfach gewesen, der alten Gewerkschaft mit ihren versteinerten Führungsstrukturen den Rücken zuzukehren. Sie erwies sich weder als fähig, die Wut von unten auszudrücken, noch war sie als Mittel zur Mobilisierung für den Klassenkampf zu gebrauchen. Tatsächlich konnte sich vor der Revolution (ähnlich wie in Großbritannien) niemand vorstellen, dass lohnabhängige Ärztinnen und Ärzte Teil einer breiteren Arbeiterklasse sind, geschweige denn, dass diese einen landesweiten Streik organisieren könnten. Der Druck der Massenbewegung von unten, und die Welle spontaner Streiks und Proteste in den Spitälern, die die Säuberung der Geschäftsleitung forderten, durchdrang aber selbst die Ärztegewerkschaft. Am 25. März nahmen 4.000 Ärzte an der Generalversammlung der Ärztegewerkschaft teil. Man diskutierte, wie man die Löhne erhöhen, die Arbeitsbedingungen und den professionellen Ruf verbessern könne und setzte dazu ein einfaches Forderungspapier auf. Auf einer weiteren Generalversammlung am 1. Mai stimmten 3.000 Ärzte über einen landesweiten Streik am 10. Mai ab und wählten ein Streikkomitee. Beide Versammlungen wurden von stürmischen und manchmal körperlichen Auseinandersetzungen zwischen linken und säkularen Aktivisten, und führenden Mitgliedern der Muslimbruderschaft unterbrochen. Die Streifrage war, ob man für oder gegen einen Streik eintreten sollte.
Der Streik war ein immens wichtiges Ereignis. Es war nicht nur der erste Ärztestreik seit 1951, es war auch die größte, landesweit koordinierte Streikaktion seit der Revolution. Die Streikbeteiligung lag bei 65 bis 75 Prozent in den Krankenhäusern in Kairo und Gizeh, und bei 90 Prozent am Land. [35] Obwohl der anfängliche Motor für den Streik die eigenen Forderungen der Ärzte nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen war, gewannen die führenden Aktivisten die Argumente, um die Forderungen breiter aufzustellen und für eine generelle Verbesserung des Gesundheitssystems einzutreten. [36]
Volkskomitees zur Verteidigung der Revolution
Die Volkskomitees zur Verteidigung der Revolution sind ein weiteres Beispiel für Organisationsformen, die revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten aktiv aufbauen, um den revolutionären Prozess zu vertiefen. Die Wirkung kollektiven Handelns auf der politischen Bühne wird auf die soziale Bühne, und umgekehrt, übertragen. Nach den großen Straßenschlachten, der Niederlage der Polizei und dem Rückzug der Sicherheitskräfte des Innenministeriums am 28. Jänner entstanden reihenweise spontane »Verteidigungskomitees«. Diese sind der Ursprung der Volkskomitees. In ihrer derzeitigen Form, anders als ihre Vorläufer, versuchen die Volkskomitees einige der breiten, aber noch zerstreuten Schichten der Bevölkerung zu organisieren, die während der Revolution radikalisiert wurden. Das Ziel ist, einen Mechanismus zu finden, um in lokale soziale und politische Kämpfe einzugreifen und die Revolution zu vertiefen. Konkret bedeutet das, dass die Volkskomitees Forderungen aufstellten und darüber mobilisierten. Sie forderten Verbesserungen in der Verteilung lokaler Dienstleistungen und organisierten Kampagnen für die Wahl lokaler Vertreter oder mobilisierten gegen die steigenden Preise. Die Volkskomitees hielten außerdem »Volksversammlungen« ab, auf denen Menschen in ärmeren Gegenden zum ersten Mal Erfahrung mit massenhaften, politischen Treffen machen konnten. Weitere Initiativen der Volkskomitees waren die Organisation von Demonstrationen über spezielle lokale oder nationale Belange, wie beispielsweise Solidaritätsdemonstrationen gegen Spaltungsversuche in der Bewegung. [37]
Die Volkskomitees zielen speziell darauf ab, die politische Energie, die beim Aufstand gegen Mubarak freigesetzt wurde, von nationalen Zielen auf das Erreichen sozialer und politischer Verbesserungen für gewöhnliche Menschen auf einem lokalen Niveau umzulenken. Damit wird der allgemeine revolutionäre Prozess vertieft und es können weitere politische und soziale Errungenschaften auf nationaler Ebene erkämpft werden. In den ersten Monaten ihres Bestehens besaßen die Volkskomitees einen hohen Grad an nationaler Koordination. Es gab ein nationales Komitee, bestehend aus Delegierten der lokalen Komitees, das sich regelmäßig in Kairo traf, um die nationale Strategie und ihre landesweite Zeitung, Misr al-Thawriyya , zu koordinieren. Die Gründungskonferenz der Volkskomitees am Tahrir Platz am 22. April wurde von vier- bis fünftausend Menschen besucht, die rund 30 lokale Komitees vertraten. Sie einigten sich auf ein Programm, das die Wahl von Bezirksgouverneuren und Nachbarschaftsvorsitzenden einfordert, sowie die Zerschlagung des Systems, welches Volksvertreter von oben einsetzt, und die Gründung einer nationalen Gewerkschaft für alle Arbeitslosen. [38]
Auf zu einer Arbeiterpartei
So wie alle Gewerkschaften unterliegen auch die unabhängigen Gewerkschaften in Ägypten einander konkurrierenden Triebkräften von oben und unten. Die Führerinnen und Führer der besser aufgestellten Gewerkschaften, wie der Gewerkschaft der Steuereintreiber und der Gewerkschaft der Gesundheitstechniker, müssen bereits im Auftrage ihrer Mitglieder mit den Ministerien verhandeln. Sie sind werden daher, wie andere Gewerkschaftsführer auch, von oben zu Kompromissen und Übereinkünften mit dem Staat gedrängt werden. Anstatt die Dynamik der Wechselwirkung zwischen politischen und ökonomischen Kämpfen zu vertiefen, ist es unausweichlich, dass manche führenden Gewerkschafter versuchen werden, diese in zwei Kategorien von Kämpfen zu trennen. Sie werden dabei probieren, als Transmissionsriemen für die Interessen der Bosse und Politiker zu fungieren, die wollen, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter die Produktion steigern und sich aus der Politik raushalten.
Deshalb ist es so immens wichtig, dass sich Arbeiterinnen und Arbeiter in einer unabhängigen politischen Kraft organisieren. Die Demokratische Arbeiterpartei ist eine Initiative, um genau das zu gewährleisten. In ihr arbeiten revolutionäre, sozialistische Aktivistinnen und Aktivisten und führende Köpfe der Arbeiterbewegung zusammen. In ihren ersten Monaten hat die Partei zahlreiche Werktätige aus bedeutenden Wirtschaftssektoren und Betrieben rekrutiert, eingeschlossen der Öffentlichen Transportmittel in Kairo, der Eisenbahnen, der Textilfabriken in Mahalla al-Kubra und Shibin al-Kom und den Postämtern in Alexandria. [39] Viele der Mitglieder sind führende Aktivisten in den aufkeimenden unabhängigen Gewerkschaften. Sie spielten eine entscheidende Rolle in den Streikwellen vor und nach dem Sturz Mubaraks.
Der Gründungstext der Partei enthält sechs einfache Prinzipien:
1. Unsere Partei spiegelt alle Produzenten der Gesellschaft wider: Arbeiter, Bauern, Fachkräfte, Angestellte, Studierende und alle jene, die an Gerechtigkeit, Bürgerrechte und die Wiederherstellung nationaler Würde angesichts des zionistisch-amerikanischen Projekts in der Region glauben.
2. Rückverstaatlichung der geplünderten Betriebe und des Lands, Durchführung der Verwaltung unter öffentlicher Aufsicht.
3. Ausbau des öffentlichen Bereichs durch Investitionen in strategische Projekte als Lokomotive für eine umfassend gesellschaftliche und unabhängige Entwicklung.
4. Festigung der Demokratie durch die Niederschrift einer Verfassung, die Menschenrechte, Bürgerrechte und freie Meinungsäußerung gewährleistet. Errichtung einer parlamentarischen Republik, die die Freiheit politischer Parteien, der Gewerkschaften und der Medien anerkennt, basierend auf der Wahl aller leitenden Stellen von lokalen Regierungsämtern (die Wahl von Dorfleitern, Bürgermeistern und Gouverneuren) bis zu Bildungs- und Forschungseinrichtungen und Öffentlichen Diensten.
5. Ausbau des Gesundheits- und Bildungssystems und Wohnbaus fernab von der Profitlogik, da diese Rechte der Gesellschaft sind, und die Tatkraft der Gesellschaft und ihre Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln, vorantreiben.
6. Erhöhung des Mindestlohns auf ein Niveau, um die Grundbedürfnisse abzudecken (zumindest 1.500 Pfund) [d], geknüpft an Preise
Der vollständige Entwurf des Programms behandelt diese Punkte detaillierter und verspricht auch den Bäuerinnen und Bauern, und Arbeitslosen Unterstützung in ihren Kämpfen. Er behandelt außerdem die Errichtung eines zivilen Staates mit gleichen Rechten für alle Bürger, unabhängig ihres Geschlechts, ihrer Religion oder Herkunft, und anderen Belangen. [40]
Die Schwierigkeit liegt nicht darin, ein Programm auszusprechen, sondern große Mengen lohnabhängiger Menschen dazu zu bringen, es zu unterstützen. Auf der ägyptischen Linken herrscht ein regelrechter Wettstreit: ständig sprießen neuen Parteien hervor, während alte wieder zum Vorschein kommen. Arbeiter, die an den Feierlichkeiten zum 1. Mai am Tahrir Platz teilnahmen, konnten mindestens zwischen einem halben Dutzend Parteien auswählen, die alle oberflächlich ähnliche Prinzipien verkündeten, wie sie auch die demokratische Arbeiterpartei in ihrem Programm angenommen hat. Es gibt allerdings einen Faktor, der den Unterschied bringen wird: Es wird sich die Partei durchsetzen, die imstande ist, große Mengen an Arbeitern davon zu überzeugen, dass sie in einer Art und Weise handeln kann, welche die Dynamik der Wechselwirkung zwischen politischen und ökonomischen Kämpfen vertieft und die revolutionäre Bewegung nach vorne bringt.
Die Kampagne über die Rückverstaatlichung der Textilfabrik Ghazl Schibin zeigt sehr klar, wie sozialistische Aktivistinnen und Aktivisten in genau einer solchen Weise eingreifen können. Die Fabrik, ehemals ein öffentliches Unternehmen, wurde 2007 privatisiert und an einen indonesischen Investor verkauft. Sie war über mehrere Jahre der Schauplatz einer Welle von Streiks und Protesten über Löhne und Arbeitsbedingungen. Mit der Zeit unterstützten immer größere Teile der Belegschaft die Forderung, den Betrieb wieder zu verstaatlichen. Nach dem Ausbruch der Revolution gewann die Forderung nach Rückverstaatlichung während eines zwei Wochen andauernden Streiks im April mehr und mehr an Dringlichkeit. Die Arbeiterinnen und Arbeiter stellten zudem weitere Forderungen, wie der Wiedereinstellung entlassener Arbeiter. [41]
Kamal Khalil erklärt, wie Aktivisten der Arbeiterpartei eine Reihe von Initiativen rund um den Streik ergriffen, und versuchten, die politische Wirkung der Arbeitskämpfe in Shibin auf die Spitze zu treiben. Sie ermutigten die Arbeiter, die gesamte Arbeiterklasse als entscheidenden Verbündeten in ihrem Kampf zu sehen und beflügelten sie, Mitglieder der Partei selbst zu werden: »Wir organisierten eine gemeinsame Delegation zur Fabrik aus Arbeitern der Arbeiterpartei aus Shibin und Mahalla. Wir hielten eine große Versammlung in der Fabrik ab, gingen dann raus auf eine große Demonstration zur Stadt Schibin al-Kaum, die ungefähr vier Kilometer von der Fabrik entfernt ist. Wir kamen bei den Bezirksämtern an und schickten eine Delegation aus Arbeitern hinein um mit dem Bezirksgouverneur und dem militärischen Befehlshaber zu verhandeln. Als die Arbeiter aus Mahalla gemeinsam mit den Arbeitern aus Shibin zu den Verhandlungen gingen, fragte der Militärbefehlshaber: »Was macht ihr hier? Wir verhandeln nur mit Ghazl Shibin.« Die Arbeiter aus Mahalla aber antworteten: »Was auch immer Shibin angeht, geht uns auch was an.« » [42]
Diese Schilderungen sprechen Bände. Sowohl das steigende Selbstbewusstsein der ägyptischen Arbeiter als auch der anhaltende Druck von unten auf den Staat, dass die Arbeiter dem militärischen Befehlshaber in diese Sache so selbstsicher gegenüber treten. Sogar als einige gepanzerte Fahrzeuge außerhalb des Menoufiyya Bezirksamtes auffuhren und der Demonstration drohten, wichen die Arbeiter nicht zurück. Khalil zeichnet das Bild weiter: Die Verhandlungen [über die Wiedereinstellung der 95 entlassenen Arbeiter] waren erfolgreich, es kam zu einer Übereinkunft; der Bezirksgouverneur und der militärische Oberbefehlshaber sagten: »Ok, wir sind damit einverstanden.« Die Arbeiter aus Mahalla aber hatten schon Erfahrung mit diesen Dingen und sagten: »Das ist nur eine mündliche Übereinkunft. Eine richtige Abmachung muss niedergeschrieben werden und der Gouverneur und der Befehlshaber sollten sie unterzeichnen.« Ein Ergebnis der Abmachung war, dass die entlassenen Arbeiter an ihren Arbeitsplatz zurückkehren konnten. Dann gingen wir wieder raus auf die Straße um die Demonstration zu Ende zu führen« .
Die Aktivisten der Arbeiterpartei taten noch einen weiteren entscheidenden Schritt, als sie die Werktätigen fragten, Mitglieder der Partei selbst zu werden: »Dann gingen wir und saßen mit den Arbeitern aus Shibin zusammen und forderten sie auf, der Partei beizutreten. Und sie sagten: »Ja klar, wir machen mit.« Und wir sagten: »Fein, jetzt müssen wir das Parteiprogramm besprechen.« Sie sagten: »Nein, jetzt können wir ja sehen, was das Programm bedeutet. Es ist die Demonstration die wir gerade machen.« Wir verfolgen dieses Muster in anderen Bereichen ».
Der Kampf um Ghazl Schibin zeigte eine breite Resonanz auf mehreren Ebenen. Er ist in Begriff ein Symbol für den Arbeiterwiderstand gegen jegliche Privatisierungsprogramme zu werden, die noch unter der Regierung Ahmad Nazifs in den letzten Jahren der Herrschaft Mubaraks vorangetrieben wurden. Die Forderung nach Rückverstaatlichung wurde nicht von den etablierten politischen Kräften beansprucht, sondern sie kam aus den Arbeitskämpfen vor Ort hervor. Sie fordert das ganze neoliberale Programm heraus. Gerade die Einbindung der Arbeiter aus Mahalla in der Verhandlungsdelegation ist in zweierlei Hinsicht von enormer politischer Bedeutung. Es ist ein wichtiger Schritt in Richtung Wiederherstellung einer Solidaritätskultur in der ägyptischen Arbeiterklasse, die während langer Jahre unter der Diktatur geschwächt wurde. Die Streiks und Proteste von Arbeitern 2006 drückten nur selten direkte Solidaritätsbekundungen zwischen verschiedenen Betrieben aus. Noch weniger wurden diese in solidarische Streikaktionen übersetzt. Es wurde aber unter den Arbeitern üblich, die Forderungen ihrer Kollegen in anderen Betrieben aufzugreifen und verschiedene Streiks als Muster für ihre eigenen zu sehen. In Abwesenheit von unabhängigen Gewerkschaften war es bisher für die Arbeiter schwierig, die Bedeutung ihrer Streiks für die gesamte Arbeiterklasse zu verstehen und über die Mauern ihrer individuellen Betriebe hinaus zu handeln. Unabhängige Gewerkschaften sind in der Lage, die Arbeiter innerhalb einer Industrie oder über räumliche Distanzen miteinander in Verbindung bringen.
Die Notwendigkeit einer eigenen Arbeiterorganisation, die über die Gewerkschaften hinausgeht, zeigt sich am deutlichsten im Kampf gegen Spaltungstendenzen und die Konterrevolution. Nach den Angriffen auf Kirchen in Imbaba am 8. Mai organisierten tausende koptische Christen Sitzblockaden vor den Radio- und Fernsehstationen in Maspero, bloß ein paar Schritte südlich des Tahrir Platzes. Sie demonstrierten gegen den Staat, der es unterließ, die Kirchen vor Übergriffen zu schützen. Eine Delegation der Arbeiterpartei schloss sich aus Solidarität mit den koptischen Forderungen den Protesten an. Sie brachten eine neue politische Parole ein, die sogleich von tausenden Demonstranten aufgenommen wurde: »Muslime und Christen, Hand in Hand – gemeinsam bauen wir eine neue Zukunft auf.« [43]
So wichtig der Aufbau von Solidarität unter den Lohnabhängigen gegen die Unterdrückung der Kopten auch ist; seine Bedeutung geht über reflexartige Handlungen gegen Spaltungsversuche hinaus. Nach den Zusammenstößen in Imbaba starteten liberale Politiker einige Initiativen, um die nationale Einheit wiederherzustellen, inklusive eines Aufmarsches unter der Leitung prominenter liberaler Persönlichkeiten, wie etwa Wael Ghoneim. [44] Die Arbeiterpartei hingegen versucht eine revolutionäre Einheit aus den muslimischen und christlichen Massen von unten zu schmieden, vereint in einem gemeinsamen Kampf für soziale Gerechtigkeit. Einige Linke sind bereits in abstrakte Debatten über die Trennung von Kirche und Staat abgedriftet. Deshalb ist hier die gegenseitige Befruchtung von sozialen und politischen Kämpfen von so wesentlicher Bedeutung. Sameh Naguib schließt daraus richtigerweise: »Säkularismus selbst, als ein abstraktes Prinzip ohne Verbindung mit den Interessen der Arbeiterklasse und der Armen, ist bedeutungslos. In Wirklichkeit ist die Verteidigung des Säkularismus auf einer solchen Basis nur der Nährboden für Islamisten«. [45]
Die zwei Seelen der demokratischen Revolution in Ägypten
Die fundamentale Kraft, um die gegenwärtige Phase der ägyptischen Revolution zu formen, sind die Kämpfe der Armen mit organisierten Arbeitern als ihrem Herzstück. Sie werden die Zukunft der Revolution gestalten. Die großen Streikwellen und Proteste, die vor dem Sturz Mubaraks eingesetzt und eine bedeutende Rolle in seiner Entmachtung gespielt haben, führten uns die Unmöglichkeit vor Augen, eine liberale, demokratische Revolution gegen die Diktatur von ihrer »sozialen Seele«, der Wut gegen ökonomische Ungerechtigkeit, zu trennen. Die liberalen Politiker glaubten, dass die Massen am 12. Februar in ihre Slums zurückkehren und ihren Kindern erzählen würden, dass sie nun dankbar auf die nächsten Wahlen warten müssten. Sie wurden bisher bitter enttäuscht.
Dazu kommt, dass die organisierte Triebkraft von unten, gepaart mit einer sich aufbäumenden Flut an sozialen Kämpfen zwischen Februar und Mai, gezeigt hat, dass eine andere Art von Demokratie die Menschen in ihren Bann ziehen kann. Es wäre verfrüht zu sagen, ob das Versprechen der unabhängigen Gewerkschaften, die Betriebe in der Tathir zu »säubern«, eingehalten werden kann. Genauso wenig können wir darüber urteilen, ob die Linke unter der Arbeiterklasse hinreichend Boden gewinnen kann, um einen führenden politischen Pol gegenüber dem Staat, den Islamisten und Liberalen zu bilden. Dennoch zeigen die kleinen Beispiele in diesem Artikel, dass die Frage der Revolution, die von einer Revolte gegen die Diktatur in eine Revolution gegen Kapitalismus »hinüberwächst«, nicht länger eine theoretische Spekulation ist. Die Frage ist nicht, ob die ägyptischen Arbeiterinnen und Arbeitern in der Lage sind, durch ihren eigenen Kampf die Saat einer fortschrittlicheren und vollständigeren Form der Demokratie zu säen – eine Form, die sich in den Betrieben fortsetzt, anstatt auf die Rotation bürgerlicher Parteien durch das Parlament beschränkt zu sein. Es geht vielmehr darum, ob diese Erfahrungen verallgemeinert werden oder ob sie auf dem Grad eines simplen inspirierenden Impulsgebers stehen bleiben, und lediglich kurzzeitig die »Grenzen der Kontrolle« in den Betrieben verschieben. Die revolutionäre Linke stellt sich selbst auf die Probe. Es muss ihr gelingen, Organisationen aufzubauen, die ausreichend Gewicht haben und die Fähigkeit besitzen, die Dynamik der Wechselwirkung jenseits und zwischen den einzelnen Betrieben zu vertiefen. Das wird den künftigen Kurs der Revolution bestimmen.
Der zwingende Grund, weshalb der Kampf um Demokratie und der Kampf um soziale Gerechtigkeit weder getrennt noch gegeneinander ausgespielt werden können, ist die unvollendete Natur der Februarrevolution. Der Aufstand erschütterte den Staat in seinen Grundfesten und zerklüftete seine äußerste Schale, jedoch blieb sein innerster Kern intakt. Ferner haben die Generäle ohne Gewissenbisse neue Repressionsmaßnahmen, wie die Kriminalisierung von Streiks und Demonstrationen, per Gesetz aufgefahren. Die entscheidende Kraft, nämlich die anhaltende Welle an Protesten von unten, verhindert, dass diese umgesetzt werden. Die Widerstandsfähigkeit des staatlichen Gerüsts kann nur von neuen Anläufen wechselseitiger politischer und ökonomischer Kämpfe gebrochen werden. Diese werden die bevorstehenden Kämpfe um soziale Reformen, wie der Erhöhung des Mindestlohns, mit dem Kampf um demokratische Strukturen von unten in den Betrieben und Nachbarschaften, und mit der Verteidigung und dem Ausbau der politischen Errungenschaften während des Aufstands, verbinden.
Zum Text: Der Text erschien zuerst auf Englisch in International Socialism 131. Übersetzung ins Deutsche David Albrich. Quelle: www.linkswende.org
Fußboten:
[a] Dieser Artikel ist in International Socialism 131 erschienen (Anm. des Übersetzers)
[b] Gemeint ist hier das Journal International Socialism 131 (Anm. des Übersetzers)
[c] Die ägyptische Ärztegewerkschaft wäre in dieser Hinsicht auch mit der österreichischen Ärztekammer vergleichbar (Anm. des Übersetzers)
[d] 1.500 Ägyptische Pfund sind umgerechnet circa 180 Euro (Anm. des Übersetzers)
[1] Während dreier Besuche in Ägypten zwischen Februar und Mai 2011 hatte ich die Gelegenheit, die ägyptische Revolution mitzuerleben und führende unabhängige Gewerkschafter zu interviewen. Ich habe davon profitiert, einige meiner Ideen mit Freundinnen und Freunden, Genossinnen und Genossen zu diskutieren. Besonders bedanken möchte ich mich bei Mustafa Bassiouny, Dina Samak, Hisham Fouad, Haitham Muhammadain, Sameh Naguib, Ibrahim al-Sahary, Dave Renton, Joseph Choonara, Charlie Kimber, Unjum Mirza, John Molyneux, Phil Marfleet, Alex Callinicos, John Rose and John Chalcraft.
[2] Der Artikel beschäftigt sich nicht mit anderen wichtigen Aspekten von Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, etwa der Rolle der ungleichen und kombinierten Entwicklung bei der Entstehung der Bedingungen für eine Revolution und der Internationalisierung der Revolution, die er als eine entscheidende Voraussetzung für ihren Erfolg betrachtete. Außerdem behandle ich die Revolution als eine rein ägyptische Angelegenheit, nicht als ein Phänomen, das bereits von Tunesien nach dem Fall von Ben Ali nach Ägypten gesprungen ist. Das ist eindeutig problematisch und ich hoffe, ich kann die regionalen und internationalen Aspekte der Revolution in zukünftigen Artikeln diskutieren.
[3] Luxemburg, 1906
[4] Trotzki, 1906, 1929, 1930
[5] Choonera, 2011
[6] Davidson, 2010
[7] Trotzki, 1906, Kapitel II
[8] Barker, 2002
[9] Trotzki, 1906, Vorwort
[10] Bassiouny, 2011
[11] Alexander, 2011a
[12] Cliff, 1975
[13] Bayat, 1987
[14] Salih and Al-Dib, 2011
[15] Ahmad, 2011
[16] AFP, 2011; Fouad 2011a
[17] Socialist Worker, 26. Februar 2011, siehe: www.socialistworker.co.uk/art.php?id=23984
[18] AP Cairo, 11. Mai 2011
[19] Khalaf, 2011
[20] Interview mit Haitham Muhammadain, Kairo, auf Arabisch, 2. Mai 2011
[21] Zitiert in Knell, 2011
[22] Schlüsselforderungen beinhalteten die Entmachtung Hosni Mubaraks und die Neutralisierung seines Vizepräsidenten, Omar Suleiman, die Auflösung des durch Betrugs gewählten Ober- und Unterhauses des Parlaments, die Auflösung des Staatssicherheitsapparates, die Aufhebung des Notstandsgesetzes, der Entwurf einer neuen Verfassung, Rechtsanspruch zur Gründung politische Parteien und unabhängiger Gewerkschaften, die Freilassung jener, die während des Aufstands eingesperrt wurden, die Strafverfolgung all jener, die verantwortlich für die gewaltsame Repression und das Inkraftsetzen des Gesetzes zur Erhöhung des nationalen Mindestlohns auf 1.200 Ägyptische Pfund pro Monat. Siehe Khalil, 2011
[23] El-Wardani, 2011a
[24] Zum Beispiel Thawra al-Ghadab, 2011
[25] Awad, 2011
[26] Awad, 2011
[27] Naguib, 2011
[28] El-Elyan, 2011
[29] Awad, 2011
[30] Naguib, 2011
[31] Al-Marsaqawi
[32] Alexander, 2011b
[33] Muhammadain, 2011
[34] Cliff, 1985
[35] Fathi, 2011
[36] Oberstes Komitee des Ärztestreiks, 2011
[37] Ausgewählte Artikel der Zeitung der Volkskomitees, Misr al-Thawriyya, wurden vom Tahrir Documents project ins Englische übersetzt, www.tahrirdocuments.org/category/revolutionary-egypt/
[38] Al-Wardani, 2011
[39] Khalil, 2011
[40] Hizb al-Ummal al-Dimuqraty, 2011
[41] Barthe, 2011
[42] Ein Video der Demonstration ist hier auf Youtube zu sehen: www.youtube.com/watch?v=ixxixLVfzw0
[43] Fouad, 2011b
[44] El-Wardani, 2011b
[45] Naguib, 2011
Literaturverzeichnis:
AFP, 2011, »Mahalla's Misr Spinning and Weaving workers strike" (16. Februar), english.ahram.org.eg/News/5695.aspx
Ahmad, Osama, 2011, »Tulab masr yu'akidun…al-thawra mustamira", Masr al-Thawriyya (15. März), www.e-socialists.net/node/6655
Al-Marsaqawi, Mustafa, 2011, »Idrab lilamn al-markazi fi muaskar al-jabal al-ahmar…wa al-junud yadrabun al-dubat", Al-Yawm, (1. Mai), www.almasryalyoum.com/node/420018
Al-Wardani, Salma, 2011, »Tatawir al-ligan al-sha'abiyya…fin wa siyasa wa adab", Al-Shorouk (5. Mai), www.shorouknews.com/ContentData.aspx?id=447394
Alexander, Anne, 2011a, »The Gravedigger of Dictatorship", Socialist Review (März), www.socialistreview.org.uk/article.php?articlenumber=11580
Alexander, Anne, 2011b, »Officers join Egypt's fight for deeper change", Socialist Worker (16. April), www.socialistworker.co.uk/art.php?id=24514
AP Cairo, 2011, »Egypt's Inflation Climbs on Surging Food Prices" (5. Mai).
Awad, Alaa', 2011, »Al-Masarat al-siyasiyya lil thawra al-mudada", (17. Mai), www.e-socialists.net/node/6913
Barker, Colin, 2002, Revolutionary Rehearsals (Haymarket).
Barthe, Benjamin, 2011, »Revolutionary spirit spreads to Egyptian industry", Guardian (12. April), www.guardian.co.uk/world/2011/apr/12/egypt-industry-workers-protest-barthe
Bassiouny, Mustafa, 2011, »Mustaqbal al-thawra yaktabuhu al-fuqara", Awraq Ishtrakiyya (Mai).
Bayat, Assef, 1987, Workers and Revolution in Iran, (Zed)
Choonara, Joseph, 2011, »The Relevance of Permanent Revolution", International Socialism 131 (Sommer), www.isj.org.uk/index.php4?id=745&issue=131
Cliff, Tony, 1975, Portugal at the Crossroads, www.marxists.org/archive/cliff/works/1975/portugal/3-masses.htmCliff, Tony, 1985, »Patterns of Mass Strike", International Socialism 29 (Sommer), www.marxists.org/archive/cliff/works/1985/patterns/index.htm
Davidson, Neil, 2010, »From Deflected Permanent Revolution to the Law of Uneven and Combined Development", International Socialism 128 (Herbst), www.isj.org.uk/?id=686
El-Elyan, Tamim, 2011, »12 dead, 232 injured, 190 arrested in Imbaba violence", Daily News Egypt (8. Mai), www.thedailynewsegypt.com/crime-a-accidents/12-dead-232-injured-and-190-arrested-in-imbaba-violence-dp1.html
El-Wardani, Lina, 2011a, »Egypt protests anti-protest law", Al-Ahram Online (24. März), english.ahram.org.eg/NewsContent/1/0/8484/Egypt/0/Egypt-protests-against-antiprotest-law-.aspx
El-Wardani, Lina, 2011b, »National unity march in Imbaba", Al-Ahram Online (9. Mai), english.ahram.org.eg/NewsContent/1/64/11768/Egypt/Politics-/National-unity-march-in-Imbaba-.aspx
Fathi, Yasmine, 2011, »Egyptian doctors hold first nationwide strike", Al-Ahram Online, (11. Mai), english.ahram.org.eg/NewsContent/1/64/11842/Egypt/Politics-/Egyptian-doctors-hold-first-
Fouad, Hisham, 2011a, »Al-shurta al-askariyya tuhasir muwadhafi mudiriyyat al-quwa al-amla wa tathahirat bil alaf fi qina and al-daqhiliyya" (16. Februar), www.e-socialists.net/node/6492
Fouad, Hisham, 2011b, »Muslim qubty al-yid fil yid…lajl ma nakhalq fajr jadid", (18. Mai), www.e-socialists.net/node/6917
Higher Committee of the Doctors' Strike, 2011, »Communiqué Number One" (1. Mai), www.e-socialists.net/node/6843
Hizb al-Ummal al-Dimuqraty, 2011, »Bayan ta'sisi", (1. Mai).
Khalaf, Roula, 2011, »Political Turmoil Need not Presage Economic Disaster", Financial Times (9. Mai)
Khalil, Kamal, Interview, Cairo, 1. Mai
Khalil, Wael, 2011 »Mutalib al-thawra al-misriyya", WaELK (10. Februar), waelk.net/node/33
Knell, Yolande, 2011, »Egypt after Mubarak: Mohamad Hussain Tantawi profile", BBC News website (12. Februar), www.bbc.co.uk/news/world-middle-east-12441512
Luxemburg, Rosa, 1906, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Kapitel IV, www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1906/mapage/kap4.htm
Muhammadain, Haitham, Interview, Cairo, auf Arabisch, 2. Mai
Muhammadain, Haitham, 2011, »Al-Yawm, al-i'lan ‘an niqaba mustaqila bimustashfa al-du'aa wa ukhra fi sikkak al-hadid" (4. Mai), www.e-socialists.net/node/6848
Naguib, Sameh, 2011, »Al-Islamiyun wal thawra", Awraq Ishtarakiyya (16. Mai), www.e-socialists.net/node/6911
Salih, Muhammad und Sharaf Al-Dib, 2011, »Bil suwar: ‘itisamat tatawasil bi addad min qita'yat dahaqillia", Al-Yawm al-Saba' (13. Februar), www.youm7.com/News.asp?NewsID=351252
Thawra al-Ghadab al-Misriyya al-Thaniyya, 2011, Facebook-Seite, www.facebook.com/THAWRA.MASRYA
Trotzki, Leo, 1906, Ergebnisse und Perspektiven, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1906/erg-pers/index.htm
Trotzki, Leo, 1929, Die permanente Revolution, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1929/permrev/index.htm
Trotzki, Leo, 1930, Geschichte der russischen Revolution, www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/index.htm