Nach mehr als 30 Jahren will die PKK den bewaffneten Kampf einstellen. Das ist ein Zeichen der Stärke der kurdischen Bewegung gegenüber dem türkischen Staat, meint Serdar Damar
Am 21. März kündigte der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) Abdullah Öcalan ein Ende des seit 1984 geführten bewaffneten Kampfes gegen den türkischen Staat an. Seine Erklärung wurde vor über einer Million Menschen auf der großen kurdischen Neujahrsfest in der Stadt Diyarbakir verlesen.
Damit läutete Öcalan eine neue Ära ein: den Übergang vom bewaffneten Widerstand hin zum politischen Kampf für Gleichheit und Freiheit. Aus seiner Sicht sollen die Kurden gleichberechtigt neben anderen Minderheiten wie Armenier und Araber gemeinsam mit Türken in einem Land leben. Die Errichtung eines eigenständigen Staates für die Kurden lehnt er ab.
Waffenstillstand und Rückzug
Dieser Ankündigung gingen offizielle Verhandlungen seit Januar dieses Jahres zwischen dem türkischen Staat und dem seit 13 Jahren auf der Imrali-Insel festgehaltenen Öcalan voraus. Bereits zwei Tage nach Öcalans Rede verkündete die PKK einen sofortigen Waffenstillstand.
Es wird erwartet, dass sich die PKK-Einheiten noch in diesem Sommer Stück für Stück aus der Türkei in den Nordirak zurückziehen. Im Laufe der weiteren Verhandlungen sollen sie die Waffen ganz niederlegen.
Erfolge der kurdischen Bewegung
Was als eine Reihe von Zugeständnissen an den türkischen Staat oder gar als Anerkennung einer militärischen Niederlage erscheinen könnte, ist in Wirklichkeit das Ergebnis einer Reihe von Erfolgen der kurdischen Befreiungsbewegung der letzten Jahrzehnte. Noch bis vor wenigen Jahren lehnte der türkische Staat demokratische Forderungen der Kurden nach Anerkennung als Volk und nach Ausübung ihrer kulturellen Rechte ab. Er unterdrückte ihre Bewegung politisch und militärisch massiv.
Trotzdem wurde die kurdische Bewegung immer stärker: Sie trotzte allen Verboten, organisierte sich immer wieder neu, die Zahl der Demonstrationen mit kurdischen Parolen und Symbolen wuchs von Jahr zu Jahr. Die heutigen Verhandlungen zwischen der türkischen Regierung und der PKK sind, angesichts der erreichten Massenbasis der kurdischen Bewegung, Versuche, den Konflikt zu entschärfen, um das Land vor einer gefürchteten blutigen Spaltung zu bewahren.
Unterdrückung und Widerstand
Gegen die Verleugnung, Unterdrückung und Massakrierung der Kurden seit Gründung der Türkei 1923 startete die PKK 1984 Guerilla-Angriffe auf die militärischen Stellungen in den unter Kriegsrecht stehenden kurdischen Gebieten. Die zunächst als »Banditen« und »Terroristen« bezeichneten kurdischen Kämpfer sollten bereits in den 1990er Jahren zu einer großen Herausforderung für den türkischen Staat werden.
Die kemalistische Staatsdoktrin zielte auf die Vorherrschaft der Türken in Anatolien und leugnete die Existenz der dort lebenden Minderheiten. Doch weder die Zerstörung von über 4000 Ortschaften und Ermordung tausender politisch aktiver Menschen, noch die Verhaftung von Öcalan im Jahre 1999 konnten verhindern, dass die kurdische Bewegung nach 2000 zur größten und dynamischsten Demokratiebewegung innerhalb der Türkei werden konnte.
Erfolglosigkeit des türkischen Militärs
Aufgrund der anhaltenden Proteste und des beharrlichen Widerstands mussten die türkischen Eliten die Existenz der Kurden als eigenständiges Volk und die Verwendung der kurdischen Sprache in allen öffentlichen Räumen (sogar im Parlament) sowie das Benennen des kurdischen Gebietes als »Kurdistan« nach und nach anerkennen.
Weiterhin hat die Erfolglosigkeit der türkischen Armee, die PKK- Kämpfer militärisch zu besiegen, dazu beigetragen, dass unter der türkischen Bevölkerung Stimmen nach einer politischen Lösung des Konfliktes stärker wurden. Zudem wurde die Macht des bis dahin die türkische Politik bestimmenden Militärs seit 2011 den zivilen Eliten untergeordnet.
Folgen des arabischen Frühlings
Außerdem führten die Ereignisse in Syrien im Rahmen des arabischen Frühlings seit 2011 dazu, dass der türkische Staat auf die kurdische Bewegung zugegangen ist. Die Türkei hat die syrische Opposition von Beginn an politisch und militärisch mit der Bedingung unterstützt, in einem zukünftigen System kurdische Forderungen nach einer Autonomie oder Selbstverwaltung nicht zu berücksichtigen.
Während aber die Opposition trotz ausländischer Unterstützung noch keinen Sieg über das Assad-Regime erringen konnte, brachten die ideologisch mehrheitlich dem PKK-Chef Öcalan nahestehenden Kurden große Teile in Nord-Syrien mit insgesamt neun Städten unter ihre Kontrolle und verwalten diese selbst. Die Sorge vor einer weiteren autonomen Region der Kurden im Nahen Osten, ähnlich wie im Irak, und vor einem möglichen Zusammenschluss dieser beiden zu einem kurdischen Staat, treibt letztendlich die türkischen Eliten zu Kompromissen mit den Kurden in der Türkei.
Demokratisierung der gesamten Türkei
Von der aufgebrochenen Staatsideologie profitieren auch andere Minderheiten wie die Armenier oder die Sinti und Roma. Insgesamt wächst die Tendenz, die Türkei als ein multiethnisches und multikulturelles Land wahrnehmen zu wollen. Im Gegenzug zur Waffenniederlegung der PKK soll die Türkei eine neue Verfassung bekommen, in dem die Türken als herrschende Ethnie und Türkisch als einzige Landessprache nicht mehr vorkommen.
Außerdem soll die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug in das Parlament gesenkt werden und Einschränkungen gegen die Charta der kommunalen Selbstverwaltung der Europäischen Kommission aufgehoben werden. Weiterhin soll durch eine Justizreform die Meinungsfreiheit so ausgeweitet werden, dass die meisten politischen Häftlinge frei kommen. Für die verfassungsrechtliche Verankerung dieser Rechte will die PKK ihren Kampf nun allein durch die Massen auf der Straße mittels ziviler Proteste und Engagement fortsetzen.
Führende linke Bewegung der Türkei
Die kurdische Bewegung hat sich in den letzten Jahren zu der führenden linken Bewegung in der Türkei entwickelt. Durch die Zusammenarbeit mit der türkischen Linken wurden zwei Abgeordnete aus deren Reihen über die Liste der pro-kurdischen Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) in das Parlament gewählt. Der einzige christliche Abgeordnete gehört ebenfalls der kurdischen Partei an. Die Frauen- und LGBT-Bewegung werden von der kurdischen Partei aktiv unterstützt.
Der Konflikt mit den Kurden rückte bisher alle anderen gesellschaftlichen Kämpfe in den Hintergrund, wie etwa die gewerkschaftlichen Kämpfe für Lohnerhöhungen oder die Aktivitäten der Umweltverbände. Durch die erkämpften Errungenschaften entstehen heute bessere Bedingungen, unter denen die unterschiedlichen Oppositionsgruppen zum neoliberalen System in der Türkei sich Gehör verschaffen und noch stärker werden können.
Deutschland bleibt zurück
Die Regierungen in Deutschland haben Jahrzehnte lang die Türkei politisch und militärisch unterstützt. Noch im Frühjahr 2010 versprach Bundeskanzlerin Merkel der Türkei die Lieferung von 56 »Leopard-II«-Panzern. Mitglieder der PKK und ihr nahestehende Vereine werden hier verfolgt und ihre politische Arbeit massiv eingeschränkt.
Während die türkische Erdogan-Regierung mit dem PKK-Führer Öcalan als Vertreter der kurdischen Bewegung über eine Verfassungsänderung verhandelt, sind in Deutschland lebende Kurden nicht als eine eigenständige Migrantengruppe anerkannt und haben keine rechtliche Gleichstellung mit Migranten anderer Herkunft. Die Politik der Bundesregierung bleibt hinter den Realitäten in der Türkei zurück.
Linke sollten sich für das Selbstbestimmungsrecht der Kurden einsetzen und von der Bundesregierung die Anerkennung der Kurden sowie ein Ende der Waffenlieferungen an die Türkei fordern.
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