Christine Buchholz und Frank Renken über Entwicklung und Charakter der NATO und die Frage, wie sich DIE LINKE gegenüber der Militärallianz positionieren soll.
Im April wird die NATO 60 Jahre alt. Kein Grund zum Feiern, meint DIE LINKE – zu Recht: Sowohl der Krieg in Afghanistan als auch die anderen Militäreinsätze des Bündnisses haben den Menschen in den betroffenen Regionen nichts anderes als Tod und Elend gebracht. Die NATO steht für eine kriegerische Welt, für Rüstung und für Nuklearprogramme. Daher fordert DIE LINKE ihre Auflösung.
Innerhalb der Partei existieren jedoch verschiedene Vorstellungen darüber, wie die Auflösung der Militärallianz vonstatten gehen soll. So hat die Bundestagsfraktion der LINKEN im vergangenen November ein Diskussionspapier veröffentlicht, in dem es heißt: "(…) entweder die NATO wird aufgelöst – wie es DIE LINKE vorschlägt – und durch ein regionales nichtmilitärisches Sicherheitssystem ersetzt oder die NATO wandelt sich selbst in einem tiefgehenden Prozess in eine echte, ebenfalls nichtmilitärische Sicherheitsorganisation um."
Das Papier stellt des Weiteren die gegenwärtige aggressive Politik der NATO einer vermeintlich defensiven Haltung des Militärbündnisses in der Vergangenheit gegenüber. Die Autoren fordern nicht nur die „Verhinderung einer weiteren Ausdehnung der NATO", sondern auch "die Refokussierung auf reine Landesverteidigung."
Diese Positionierung wirft die Frage nach dem Charakter der NATO auf. Sie berührt zudem die grundsätzliche Frage, wie sich die LINKE in der imperialistischen Staatenkonkurrenz heute positioniert und welche Strategien zur deren Überwindung sie einschlägt.
Instrument imperialer Interessen
Die NATO entstand 1949 als Instrument zur Durchsetzung der imperialen Interessen der USA und ihrer europäischen Bündnispartner. Den USA ging es vor allem darum, die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs dauerhaft abzusichern. Ab 1941 waren die USA und die Sowjetunion Verbündete gegen die Expansionsbestrebungen des imperialistischen Nazi-Deutschlands und seines Verbündeten Japan. Doch als sich das Ende des Krieges abzeichnete, kam es zu ersten Konflikten zwischen den Siegermächten. Das letzte Kriegsjahr wurde zunehmend zu einem militärischen Wettlauf um die größtmöglichen Einflusssphären.
Auf der Konferenz in Jalta zu Beginn des Jahres 1945 diskutierten die Siegermächte USA, Großbritannien und UdSSR die Aufteilung der Kriegsbeute. Am Tag vor der Folgekonferenz in Potsdam zündeten die USA in der Wüste von New Mexico erstmals erfolgreich eine Atombombe und demonstrierten damit ihre militärische Überlegenheit. Sie waren zudem die einzige Großmacht, die in den Kriegsjahren einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hatte. 1945 vereinigten die USA die Hälfte des weltweiten Industrieausstoßes auf sich.
Vor diesem Hintergrund konnten die Vereinigten Staaten bereits auf einer Konferenz 1944 in Bretton Woods eine Nachkriegsordnung durchsetzen, die den US-Dollar als internationale Leitwährung mit fixen Wechselkursen festschrieb. Dies erleichterte es amerikanischen Waren und amerikanischem Kapital, ausländische Märkte, insbesondere in Europa, zu erobern. Lediglich der durch das sowjetische Außenhandelsmonopol abgeschirmte Ostblock konnte sich dem entziehen.
Der Ost-West-Konflikt wurde von den USA zu einem ideologischen Kreuzzug mystifiziert. US-Präsident Truman erklärte im März 1947 die Welt als zweigeteilt: Global stünden die Kräfte der "Freiheit" jenen der „Tyrannei" unversöhnlich gegenüber, wobei mit "Freiheit" die von Markt und Kapital gemeint war.
Die von der Sowjetunion kontrollierte Einflusssphäre war dem Westen ökonomisch unterlegen und konnte nur durch militärische Macht zusammengehalten und abgeschirmt werden. Entsprechend agierte die UdSSR defensiver und stilisierte sich als Vorkämpfer für den "Frieden" gegen den expansiven Westen. Dementsprechend konzentrierte sich die sowjetische Geopolitik in den Jahren nach 1945 auf die Machtübernahme in Osteuropa. Dies schloss jedoch nicht aus, dass die in Moskau herrschende Bürokratie mit militärischer Aggression reagierte, sobald sie ihre Interessen im unmittelbaren geografischen Umfeld gefährdet sah. So marschierten in den 1950er und 1960er Jahren sowjetische Truppen mehrfach in Ostblock-Staaten ein, um Reformbewegungen blutig niederzuschlagen – so geschehen 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei.
Auch die NATO verkaufte sich als Bewahrerin des Friedens. Tatsächlich hatte sie aber von Beginn an andere Ziele. Es ging um die Absicherung der weltweiten Einflusssphären des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systems. Die USA boten sich hierfür als militärische "Schutzmacht" an. So wurden in verschiedenen europäischen Ländern unter dem Dach der NATO amerikanische Stützpunkte eingerichtet, was die westeuropäischen Herrschenden sehr begrüßten. Für die herrschende Klasse der Bundesrepublik Deutschland war der NATO-Beitritt 1955 zudem ein Weg, um überhaupt wieder eine eigene Armee aufbauen und schließlich auch an Kernwaffen teilhaben zu können.
Neue Weltordnung
1991 brach die Sowjetunion auseinander. Der 1955 von ihr gegründete Warschauer Pakt löste sich im Zuge dessen ebenfalls auf. Jeder konnte sehen: Die USA und ihre Verbündeten hatten den „Kalten Krieg" gewonnen. Doch die NATO – angeblich als reines Verteidigungsbündnis gegen den Ostblock entstanden – bestand fort. Mehr noch: Sie dehnte sich nach Osten bis in den Machtbereich der ehemaligen Sowjetunion aus. 1999 führte sie zudem einen Krieg gegen die ehemals jugoslawische Republik Serbien.
Die Anschläge des 11. September 2001 in den USA wertete die NATO als Kriegserklärung und rief erstmals den Bündnisfall aus. In der Folge bombardierten Bündnistruppen Afghanistan, marschierten in das Land ein und führen dort bis heute einen Besatzungskrieg. Die NATO wandelte sich zu einer globalen Interventions- und Ordnungsmacht der USA und ihrer europäischen Verbündeten.
Mit dem Sieg des Westens im Kalten Krieg hat sich die bipolare Weltordnung aufgelöst. Über Jahrzehnte steckten die USA einen – für „Friedenszeiten" extrem großen – Anteil ihres Bruttosozialproduktes in die Rüstung. Damit schufen sie die Rahmenbedingungen für eine massive Expansion der Weltwirtschaft. Sie selbst profitierten davon allerdings nicht in dem gleichen Ausmaß wie einige ihrer Verbündeten. Insbesondere Japan und die Bundesrepublik Deutschland, die zunächst entmilitarisierten Verlierer des Zweiten Weltkriegs, konnten anfangs nur einen verhältnismäßig kleinen Teil ihres Sozialprodukts in die Rüstung investieren. Ihre exportorientierten Wirtschaften profitierten daher besonders vom expandierenden Weltmarkt. Deutsche und japanische Unternehmen entwickelten sich zu mächtigen Konkurrenten der großen US-Firmen. Während in den USA 1945 noch 50 Prozent des globalen Ausstoßes an Industriegütern gefertigt wurde, waren es in den 1980er Jahren nur noch 25 Prozent. Diese relative wirtschaftliche Schwächung der USA gewann nach dem Ende des Kalten Krieges an Bedeutung – insbesondere, weil seit Mitte der 1970er Jahre die Weltwirtschaft nicht mehr expandierte, sondern stagnierte.
1992 prophezeite ein im besorgten Ton gehaltenes Gutachten des US-Kongresses, dass die japanische Wirtschaft die der USA binnen zwölf Jahren einholen würde. Mit Blick auf Europa erwarteten die US-Strategen zu diesem Zeitpunkt, dass vor allem das wiedervereinigte Deutschland vom Auseinanderbrechen der Sowjetunion und der in Angriff genommenen EU-Integration profitieren würde. In Ostasien erwuchs zudem mit China ein neuer aufstrebender Rivale, der über Atomwaffen und ein eigenes Weltraumprogramm verfügt und in dem ein Viertel der gesamten Menschheit lebt. Sowohl wirtschaftlich als auch geostrategisch befürchteten die Entscheidungsträger der USA eine globale Kräfteverschiebung zu ihren Ungunsten.
Ein neues amerikanisches Jahrhundert?
Die Schlussfolgerung aus dem Widerspruch zwischen dem relativen Verlust an wirtschaftlicher Stärke und der weiter bestehenden militärischen Überlegenheit der USA lag nahe. Letztere sollte genutzt werden, um geostrategischen Positionen zu festigen, neues Terrain unter den eigenen "Einfluss" zu bringen und eine neue globale Ordnung durchzusetzen.
Diese Ausrichtung gewann während der zweiten Amtszeit des demokratischen US-Präsidenten Bill Clinton an Kontur. Die NATO-Osterweiterung spielte dabei eine zentrale Rolle. 1999 wurden mit Polen, Tschechien und Ungarn drei Staaten des ehemaligen Ostblocks in das transatlantische Bündnis aufgenommen. Sie dienen der US-Armee seither als Stützpunkte.
Dies bedeutete aber nicht nur eine Wende im Verhältnis zu Russland. Auch die Beziehungen zu den westeuropäischen „Partnern" veränderten sich. Unter der Präsidentschaft von George W. Bush erhielt der Kurs der USA eine unilaterale Ausrichtung. Die „Neokonservativen" übernahmen mit ihrem „Projekt für ein neues amerikanisches Jahrhundert" die Kontrolle über die Außenpolitik. Unter ihrer Führung wurden mit Estland, Lettland und Litauen nun auch ehemalige Sowjetrepubliken in die NATO aufgenommen. Polen und Tschechien sollten zum Standort für eine Neuauflage der bereits unter Ronald Reagan geplanten weltraumgestützten Raketenabwehr werden. Schließlich erklärten die Neokonservativen nach dem 11. September mehr als drei Dutzend Länder zu potenziellen Angriffszielen, bedrohten den Iran mit einem nuklearen Angriff und überzogen Afghanistan und Irak mit zwei bis heute andauernden Besatzungskriegen, die Hunderttausende das Leben kosteten. Die Bush-Administration betrieb für eine gewisse Zeit über die Frage, ob man den Irak angreifen solle, sogar die Spaltung der europäischen Verbündeten in eine "Allianz der Willigen" und das "alte Europa". Zu Beginn des Jahres 2003 war die NATO vorübergehend nicht mehr als ein Bündnis zu erkennen.
Die Neokonservativen haben versucht, über die rücksichtslose Anwendung ihrer militärischen Überlegenheit die relative Schwächung ihrer Wirtschaft auszugleichen. Sie sind gescheitert, weil ihr Feldzug in Afghanistan und im Irak massiven Widerstand hervorgerufen hat. Die Aussichtslosigkeit dieser Kriege, die Brutalität der US-Außenpolitik und die wachsende Unzufriedenheit der US-Bevölkerung mit den daraus wachsenden wirtschaftlichen Lasten haben Bush zum unpopulärsten US-Präsidenten aller Zeiten werden lassen. Schließlich mussten die USA im vergangenen Sommer auch noch tatenlos mit ansehen, wie der russische Staat im Konflikt um Südossetien dem US-Klienten Georgien eine demütigende Niederlage beifügte und das erste Mal seit langem an seinen Außengrenzen den eigenen Einflussbereich erfolgreich militärisch absichern konnte.
Change?
Der neue US-Präsident Barack Obama versucht nun, die NATO-Mitglieder dafür zu gewinnen, mehr Truppen für – wie er es nennt – „kollektive Sicherheitseinsätze" bereitzustellen, mehr in Wiederaufbau- und Stabilisierungseinsätze zu investieren und die Entscheidungsprozesse innerhalb des Bündnisses zu vereinfachen, um den NATO-Kommandeuren mehr Flexibilität im Feld zu geben. Das heißt im Klartext: Auch unter Obama werden NATO-Kriege wie der in Afghanistan fortgeführt. Die Besatzungen erhalten ein "zivil-militärisches"-Gesicht. Obamas Ziel unterscheidet sich nicht von dem der Neokonservativen, sondern nur der Weg dorthin.
Die NATO ist von den USA geschaffen, geprägt und verändert worden, um ihre ökonomischen Interessen in der Welt durchzusetzen – in Zeiten der Stärke und auch in Zeiten der relativen Schwäche. Die verbündeten Regierungen haben die NATO genutzt, um im Windschatten der USA ihre eigene Stärke aufzubauen. In Deutschland gilt dies nicht nur für die Nachkriegsregierungen. Seit Anfang der 1990er Jahre haben alle Bundesregierungen die NATO genutzt, um die Wieder-Militarisierung der Außenpolitik voranzutreiben. Mit der Beteiligung am Jugoslawienkrieg 1999 und dem seit 2001 geführten Afghanistankrieg haben sie praktisch das durchgesetzt, was in den Nachkriegsjahren ein Tabu war: Die Beteiligung der Bundeswehr an weltweiten Kriegseinsätzen.
Die NATO ist Instrument und Ausdruck verschiedener imperialistischer Interessen der Verbündeten. Sie kann keine friedensstiftende Rolle einnehmen und von daher auch nicht in ein nichtmilitärisches Sicherheitssystem umgewandelt werden.
Auflösung der NATO
Die Auflösung des Militärbündnisses ist durch den Austritt der einzelnen Mitgliedsstaaten zu erreichen. Formal muss der Nordatlantikvertrag von den Vertragsparteien gekündigt werden, wie es dort in Artikel 13 heißt. Deshalb ist es richtig, die Forderung nach einem Austritt aus der NATO an die Bundesregierung zu stellen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist jedoch entscheidend, den politischen Druck auf sie zu erhöhen.
Der Kampf um einen Austritt aus der NATO ist nicht einfach. Denn die Bundesrepublik (und damit ihre Regierung) ist Teil der imperialistischen Staatenkonkurrenz, die wiederum Ausdruck der wirtschaftlichen und militärischen Kräfteverhältnisse im heutigen Kapitalismus ist. Sie wird die Mitgliedschaft in der NATO einerseits nicht einfach aufgeben, weil die NATO die Durchsetzung von deutschen Interessen mit absichert – und das sind nach Ansicht der Machteliten Überlebensinteressen. Zudem würde Deutschland bei einem Austritt seinen Konkurrenten das Feld überlassen. Auch das ist nicht im Interesse der deutschen Herrschenden.
Das Agieren der NATO ist nicht Ergebnis einer falschen Politik, sondern Ausdruck einer imperialistischen Weltordnung. Deswegen greift die Hoffnung, unter diesen Bedingungen auf ein anderes, linkes Management internationaler Beziehungen, auf ein „nichtmilitärisches Sicherheitssystem" zu orientieren, zu kurz.
Die Lösung liegt vielmehr im Kampf "von unten" – ökonomisch und politisch: Als sozialer Kampf gegen die Auswirkungen der kapitalistischen Krise und als politischer Kampf gegen Imperialismus und Krieg kann er den Druck erzeugen, der nötig ist, die Herrschenden zur Auflösung der NATO zu zwingen. So kann eine Alternative zur kapitalistischen Konkurrenz und deren Staatenkonflikten entstehen.
Die NATO hat eine Achillesferse: Afghanistan. Dieser Krieg bedroht sogar ihre Existenz: „In Afghanistan steht die Glaubwürdigkeit der NATO auf dem Spiel (…) Die NATO steht am Scheideweg und droht zu scheitern", so der frühere niederländische Oberkommandierende Henk van den Bremen, Co-Autor des zentralen strategischen Papiers zur Neuausrichtung der NATO. Wenn das stärkste Militärbündnis der Weltgeschichte gegen eine Bauernguerilla in einem bitterarmen Land verliert, wird es in eine tiefe Krise geraten und vielleicht sogar zerbrechen. Ähnlichkeiten mit der Niederlage der USA im Vietnamkrieg und den verheerenden Folgen für deren imperiale Ambitionen werden mittlerweile offen diskutiert.
Der Kampf für den Abzug der Truppen aus Afghanistan ist eine gemeinsame Aufgabe der Antikriegsbewegungen in den NATO-Staaten und des Widerstands in Afghanistan. Sie werden ergänzt durch die vielfältigen Bewegungen gegen NATO-Militärbasen, die Osterweiterung und das Raketenabwehrschild. Deshalb ist es notwendig – auch über die Anti-NATO-Proteste hinaus – den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen und die Forderung nach dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan auf die Straße zu bringen.
Zu den Autoren:
Christine Buchholz ist Mitglied des geschäftsführenden Parteivorstandes der LINKEN. Sie ist seit Jahren in der Friedensbewegung aktiv und derzeit an der Vorbereitung der Anti-NATO-Proteste beteiligt. Frank Renken ist Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft "Frieden und internationale Politik" der LINKEN.
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