Seit über einem Monat verbreitet sich von den USA aus die Bewegung gegen die Macht der Banken. marx21.de sprach mit einem Organisatoren aus New York über ihre Anfänge und die Möglichkeiten zur Ausweitung
marx21.de: Es ist schwierig, sich von der Ferne ein Bild von der »Occupy Wall Street«-Bewegung zu machen. Kannst du uns ihre Anfänge schildern und wie weit sie seitdem gediehen ist?
Doug Singsen: Den Ball ins Rollen gebracht hat die kanadische Zeitschrift »Adbusters« – ein ziemlich populäres Magazin gegen den Konsumwahn. Sie veröffentlichte einen Demoaufruf und machte dafür viel Werbung, obwohl sie zu keinem Zeitpunkt selbst dabei war.
Unsere Gruppe, die New Yorker gegen Kürzungen, griff die Idee auf und lud zu einer Veranstaltung ein. Aus dem ersten Treffen wurde sehr schnell die New York Generalversammlung, die eigentliche Organisatorin von »Occupy Wall Street«. Es kamen jedes Mal zwischen 50 und 100 Aktivisten.
Am Tag selbst, den 17. September, waren wir 500, und 150 blieben über Nacht. Es war ein bescheidener Anfang. Es änderte sich aber, als die Polizei in der Woche darauf Demonstranten mit Pfefferspray attackierte. Die nächste Eskalation war die Verhaftung von 700 Menschen auf der Brooklyn Brücke. YouTube quoll über mit Videos von der Polizeigewalt. Das war kostenlose Werbung für uns. Das war der Punkt, als die Gewerkschaften der Bewegung ihre Unterstützung erklärten und die Demonstrationen auf 20.000 und mehr anwuchsen. Die Bewegung breitete sich dann auf hunderte Orte im ganzen Land aus. Überall fanden Kundgebungen und Besetzungen statt.
Der bisherige Höhepunkt war der 15. Oktober, als zwischen 40.000 und 100.000 Menschen im Zentrum von New York demonstrierten und es in unzähligen anderen Städten zu Besetzungsaktionen kam.
Wer ist alles dabei?
Auffallend ist die geringe Präsenz der organisierten Linken. Das ist allerdings kein Zeichen von Passivität, sondern davon, dass die Bewegung so groß ist, dass die Linke in der Masse einfach untergeht.
Am Anfang war die Bewegung von Weißen dominiert, Studenten und Ex-Studenten, Leuten in ihren Zwanzigern. Das ist keine Kritik, denn sie taten genau das Richtige. Aber die Bewegung musste noch andere Gesellschaftsschichten erreichen, die Arbeiter und ethnischen Minderheiten.
Das Blatt wendete sich, als die Gewerkschaften auf die Bühne traten. In New York ist ihre Mitgliedschaft überwiegend schwarz, so dass die Bewegung auf einmal entschieden vielfältiger wurde.
Das Netzwerk »Besetzt die Viertel« (Occupy the ‚Hood) trug ebenfalls dazu bei. Es begann wohl in Detroit, einer mehrheitlich schwarzen Stadt, die von der Wirtschaftskrise besonders hart getroffen ist. »Occupy the ‚Hood« organisierte Demonstrationen und Versammlungen in den ärmeren, zumeist von Minderheiten bewohnten Vierteln. Damit wird die Bewegung insgesamt bunter, obwohl das Thema Antirassismus viel mehr im Mittelpunkt stehen müsste.
Warum ist das so wichtig?
Weil die wirtschaftliche Notlage auch nach ethnischer Herkunft unterscheidet. Die höchste Arbeitslosenrate, die meisten Zwangsräumungen, die größte Armut sind in den schwarzen und Latino-Vierteln anzutreffen. Ausgerechnet dort werden öffentliche Schulen privatisiert. Die nicht weiße Bevölkerung trägt die Hauptlast der Wirtschaftskrise.
Eine Bewegung, der es nicht gelingt, diese Menschen an vorderster Front aufzustellen, erfüllt eben nicht ihren Slogan, 99 Prozent der Menschen zu vertreten. Sie richtet sich nur gegen die weniger schlimmen Auswirkungen der Wirtschaftskrise. Auch strategisch ist es sehr wichtig, das Potenzial der nichtweißen Bevölkerung zu organisieren. Eine nach Ethnien gespaltene Bewegung schwächt sich selbst und wird früher oder später an ihre Grenzen stoßen.
Was ist mit dem angeblichen Fehlen klarer Forderungen? Ist das eine gute Sache?
Die Abwesenheit von Forderungen ist direkte Folge des stark anarchistischen Charakters der ersten Organisationsanstrengungen. Obwohl es auch viele Sozialisten und Menschen ohne politische Erfahrung gab, war eine Mehrheit der Organisatoren Anarchisten. Sie setzten das Konsensprinzip und den Verzicht auf Forderungen durch. Das hat die Bewegung nachhaltig geprägt.
Der Vorteil ist, dass die Bewegung unheimlich erfinderisch ist. In allen Winkeln ist eine Kampflust entstanden, wie wir sie seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben. Das Fehlen von Forderungen geht einher mit starker Dezentralisierung der Bewegung. Unser Ziel ist es, so viele Menschen wie möglich mitzunehmen und sie nicht durch das Aufstellen von klaren Forderungen auszugrenzen.
Schwierig ist aber die dogmatisch anarchistische Position, wonach alle Forderungen nach Reformen den Staat nur stabilisieren und deshalb abzulehnen seien. Wir haben dagegen argumentiert. Aber im Moment, wo die Bewegung so offen ist und rasant wächst, ist das Fehlen von zentralen Forderungen kein großes Problem.
Außerdem werden innerhalb der Bewegung sehr wohl Einzelforderungen entwickelt. Manche Gruppierungen verlangen mehr Geld für Bildung, andere fordern eine Reform der Wirtschaft, und so weiter. Die zentrale Kontroverse wird sich, glaube ich, aber weniger um spezifische Forderungen drehen, sondern um die Frage, ob wir uns damit an die Demokratische Partei wenden sollen oder nicht.
Wie stark beteiligt sich die Gewerkschaftsbewegung?
Die Führung der Gewerkschaften in New York unterstützt aktiv die Bewegung. Sie mobilisiert in einem Ausmaß, das wir seit mindestens einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen haben. Sie ruft ihre Mitglieder sogar ganz konkret dazu auf, um 6 Uhr morgens Präsenz zu zeigen, um die Besetzung gegen die Polizei zu schützen. Das ist einfach fantastisch.
Es ist aber nicht nur die Führung. Einfache Gewerkschaftsmitglieder sind in Scharen erschienen. Es gab kein Gefühl der Trennung zwischen den Zielen, die die Besetzung verfolgt, und den Zielen der Gewerkschaftsbewegung. Beide Seiten sind wirklich zusammengekommen.
Auf Bundesebene sieht die Sache leider anders aus. Die wichtigste Gewerkschaftskampagne dreht sich um die Forderung »Move Your Money«, verlagert euer Geld vom Bankkonto auf ein Konto bei der Kreditgenossenschaft. Das ist mehr oder minder eine Geschäftsstrategie, die von den wirklichen Problemen ablenkt.
Im Rahmen der Besetzung selbst hier in New York haben wir ein sehr aktives und großes Komitee mit dem erklärten Ziel gegründet, uns mit der hiesigen Gewerkschaftsbewegung zu vernetzen. Es sieht danach aus, dass 10.000 Arbeiter der Kommunikationsbranche von New York im Herbst streiken werden, und auch der gesamte Postdienst. Wenn unsere Bewegung solange durchhält, könnte sie dann einen erneuten Schub erfahren und die Verbindungen zwischen beiden Bewegungen vertieft werden.
Was waren die Reaktionen von Obama und den Demokraten?
Die Gefahr, uns von den Demokraten und anderen liberalen Organisation vereinnahmen zu lassen, wird heftigst diskutiert. Obama hat seine Sympathie für »Occupy Wall Street« verkündet. Das ist scheinheilig, widersprüchlich und ehrlich gesagt verrückt, denn er steht voll hinter den Bankenrettungsaktionen, er hält die Steuernachlässe seines Vorgängers Bush aufrecht und die Hälfte seines »Ankurbelungspakets« besteht aus Steuererleichterungen für die Reichen. In seiner Unterstützung für Wall Street steht er keinem amerikanischen Politiker nach. Dennoch versuchen die Demokraten, die Energie und den Schwung der Bewegung auf ihre Wahlmühlen zu lenken.
Die Organisatoren von »Occupy Wall Street« sehen das, und es besteht nicht die Gefahr der Vereinnahmung der Bewegung selbst. Die Demokraten könnten aber sehr wohl ihre Organisationen und Medien einsetzen, um die öffentliche Meinung in ihrem Sinn zu beeinflussen. Die Bewegung diskutiert sehr intensiv, wie wir die Demokraten am besten konfrontieren sollen. Sogar die Liberalsten unter uns haben nicht viel übrig für die Demokraten. Aber da das Konsensprinzip herrscht, ist es schwer, eine einheitliche Antwort zu entwickeln. Dazu fehlt uns auch eine zentralisierte Medienstruktur.
Die Polizeigewalt stand im Mittelpunkt während der ersten Protestwochen. Hat sie ihren Ton gemäßigt?
Die Polizei hat sicherlich dazu gelernt und greift uns nicht mehr von sich aus an. Solange niemand das Gesetz bricht, lässt sie uns gewähren. Aber sie sucht ständig nach Ausreden, um wieder gewalttätig zu werden. Beispielsweise, wenn Demonstranten statt auf dem Gehweg auf der Straße marschieren wollen. Aber jeder Versuch, die Besetzung zu zerschlagen, ist misslungen. Die Polizei merkt, dass sich das Kräfteverhältnis etwas zu unseren Gunsten verschoben hat.
Was sind die nächsten Ziele der Bewegung?
Es sind einige Demonstrationen bereits in Planung, aber ich will keine Termine nennen. Wichtig ist vor allem die massive Ausbreitung der Bewegung auf andere Städte. Chicago und Los Angeles sind wichtige Zentren und es hat Demonstrationen in hunderten anderen Städten gegeben. Aber keine hat eine so große Besetzungsaktion wie in New York zustanden gebracht. Eine solche Entwicklung würde die Bewegung auf ein höheres Niveau bringen.
Jedenfalls sieht es nicht nach einer Abkühlung aus. Es ist die größte politische Bewegung, die ich je erlebt habe. Ihr Schwung und ihre Energie werden nicht so schnell nachlassen.
(Das Interview führte Loren Balhorn. Aus dem Englischen von David Paenson)
Zur Person:
Doug Singsen ist Mitglied der amerikanischen »International Socialist Organization« und seit August aktiv am Aufbau der »Besetzt Wall Street«-Demonstrationen.
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