Es begann mit einem Warnstreik bei einer Callcenter-Tochter der Sparkasse. Daraus wurde eine der längsten betrieblichen Arbeitsniederlegungen der jüngsten Geschichte. Wir sprachen mit dem Betriebsratsvorsitzenden Thomas Bittner über Warteschleifen, Biohühner und neues Selbstbewusstsein. Vorabveröffentlichung aus marx21 Nr. 27, erhältlich ab 26. September
marx21.de: Thomas, als Callcentertochter der Sparkassen seid ihr derzeit über acht Wochen im Vollstreik. Das ist der längste Ausstand in der Callcenterbranche und bei den Sparkassen zugleich. Wofür kämpft ihr?
Thomas Bittner: Unsere Löhne sind seit 15 Jahren nicht mehr erhöht worden. Seit 1996 liegt das Einstiegsgehalt bei Vollzeitarbeit bei 1280 Euro. Viele bekommen – weil ihr Lohn nicht ausreicht – zusätzlich Hartz IV. Durch den fehlenden Inflationsausgleich sind die Gehälter um 24 Prozent entwertet worden. Eigentlich müsste das Einstiegsgehalt heute bei 1600 Euro liegen, was etwa einem Stundenlohn von 9 Euro entspricht.
Ein Drittel unserer Arbeitsverträge ist befristet. Wir haben eine Fluktuationsrate von 30 Prozent, einen hohen Krankenstand. Jedem Beschäftigten steht weniger Fläche als Arbeitsplatz zur Verfügung als einem Biohuhn. Im Sommer steigen die Temperaturen auf über 30 Grad, die Luft ist schlecht, außerdem gibt es zu wenig Toiletten.
In den letzten Jahren hat sich die Situation im Unternehmen immer mehr zugespitzt, die Geschäftsleitung wurde immer selbstherrlicher. Dienstpläne für Sechstagewochen und Überstunden ordnet sie kurzfristig an und ohne dabei die Rechte der Arbeitnehmervertreter zu respektieren. Die Kollegen können kaum soziale Kontakte pflegen.
Vielleicht sagst du noch kurz etwas zu eurem Unternehmen.
Die S Direkt-Marketing in Halle ist ein Callcenter-Unternehmen, das den verschiedenen Sparkassen und Verbänden gehört. Wir sind bundesweit zuständig für den Sperrnotruf 116, den man anrufen kann, wenn man seine EC- oder Kreditkarte verloren hat. Wir sind zudem der Telefondienstleister des Sparkassenbrokers. Und wir sind die freundlichen Stimmen, die kompetent und qualifiziert Dienstleistungen für mehr als die Hälfte der über 400 regionalen Sparkassen und deren Kunden erbringen. Über die Jahre ist das Unternehmen gewachsen. Zurzeit gibt es etwa 800 Beschäftigte.
Ihr streikt für einen Haustarifvertrag: Was sind eure konkreten Forderungen?
Wir wollen als Einstiegsgehalt einen Stundenlohn von mindestens 8,50 Euro mit zeitnaher Erhöhung und die Einführung einer Entgelttabelle. Die Arbeitszeit soll auf 40 Wochenstunden und eine Fünftagewoche beschränkt werden. Daneben gibt es noch weitere Forderungen wie die Einschränkung der Befristungen, Zuschläge für Sonderzeiten, drei freie Sonntage im Monat, Qualifizierungsansprüche und Maßnahmen zum Gesundheitsschutz. Und wir fordern Regelungen zum Einsatz von Leiharbeitskräften bei der S-Direkt, sowohl bezüglich ihres Entgelts als auch ihrer Arbeitsbedingungen.
In einer Urabstimmung stimmten über 92 Prozent der ver.di-Mitglieder für diese Forderungen und einen unbefristeten Arbeitskampf. Im Prinzip wollen wir nichts anderes als das Sparkassenmotto »Fair.Menschlich.Nah« umsetzen: Wir wollen faire Löhne und menschliche Arbeitsbedingungen in naher Zukunft.
Anders als im Rest der Branche ist bei euch ein Großteil der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. Ist das ein Resultat des Streiks oder war das schon davor der Fall?
Das Ganze hat sich über mehrere Jahre entwickelt. Lange war die Politik des Betriebsrats davon geprägt, Arbeitsplatzsicherung zu betreiben. Keiner von uns war in der Gewerkschaft. Aber dann begann die Geschäftsleitung, die betriebliche Mitbestimmung immer mehr mit Füßen zu treten. Ein Schlüsselereignis war die Einführung von Kurzarbeit. Das passierte, als aktive Werbeanrufe bei Kunden ohne deren Zustimmung verboten wurden. Doch der Betriebsrat wurde darüber nicht informiert. Damals haben wir uns noch mit Hilfe des Arbeitsgerichts wehren können. Doch danach wurde es immer schlimmer: Überstunden am Betriebsrat vorbei, Mobbing der übelsten Sorte, außerdem Versuche, uns Betriebsräte loszuwerden und zu kriminalisieren. Da haben wir gemerkt, dass wir allein nicht weiterkommen und sind zu ver.di gegangen.
Und dann?
Wir hatten das Glück, dort einen tollen Gewerkschaftssekretär als Ansprechpartner zu bekommen. Der sagte: Lasst uns etwas machen! Wir haben dann als Betriebsrat klare Kante gezeigt. Beispielsweise haben wir Einstellungen nicht mehr zugestimmt, wenn gleichzeitig Zweijahres-Befristungen von guten Leuten ausgelaufen sind, die dann wieder auf der Straße standen. Mit Unterstützung von ver.di haben wir viele Mitbestimmungsrechte für die Kolleginnen und Kollegen durchgesetzt und vor die Arbeitsgerichte gebracht – mit gigantischen Anwaltskosten.
Im Betrieb sind wir mit zwölf ver.di-Mitgliedern gestartet. Erste Flugblattaktionen führten im wahrsten Sinne des Wortes zu Handgreiflichkeiten mit dem leitenden Personal. Wir gründeten eine Betriebsgruppe und führten offene Mitgliederversammlungen durch. So bekam die Gewerkschaft ein Gesicht im Betrieb. Auf diesen Treffen war anfangs noch eine gewisse Skepsis zu spüren und die Angst, dass dort die Spione der Unternehmensleitung sitzen, was auch der Fall war. In vielen Einzelgesprächen haben wir immer wieder deutlich gemacht: »Wenn du willst, dass sich etwas ändert, wenn du mehr Geld willst, musst du in die Gewerkschaft eintreten.« Parallel dazu gab es den Versuch der Geschäftsleitung, den Betriebsrat abzuwählen. Wir sprachen danach mit den Kollegen, die zum Teil gar nicht wussten, was sie da unterschrieben hatten. Nicht wenige traten dann bei ver.di ein. Im Nachhinein muss man sagen: Diese Aktion fiel den Arbeitgebern ganz schön auf die Füße. Über diese Zeit und mit einem Warnstreik im Mai ist die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder auf fast 400 gestiegen, was deutlich mehr als die Hälfte der festen Belegschaft ist.
Ein wochenlanger Streik im Callcenter war bisher nicht vorstellbar. Wie habt ihr das hinbekommen?
Eigentlich war das so gar nicht geplant. Doch nachdem monatelang im Unternehmen nichts passierte, war für die meisten Kollegen klar: Ohne Streik geht nichts voran. Von einzelnen Kolleginnen und Kollegen gab es großen Druck endlich loszulegen. Wir haben das dann mit allen diskutiert und am 21. Mai zum Warnstreik aufgerufen.
Alle waren unsicher, keiner hatte Streikerfahrung, ich habe die Nacht nicht geschlafen. Aber um sechs Uhr morgens standen die Leute wie eine Eins. An diesem Tag gab es auch noch einmal viele Gewerkschaftseintritte und die Hoffnung, dass sich etwas bewegt. Es ging aber gar nichts vorwärts.
Doch die Angst war weg und wir stellten uns auf eine längere Auseinandersetzung ein. Ab dem 9. Juli ging es dann bis heute weiter. Und bis heute ist die Stimmung gut. Denn alle sind überzeugt: Ohne einen Tarifvertrag gehen wir nicht wieder rein!
Welche Erfahrungen hat die Belegschaft mit dem Streik gesammelt? Ein Vollstreik über Wochen muss auch erst einmal organisiert werden.
Es gibt ein neues Zusammenhaltsgefühl. Viele Kolleginnen und Kollegen des Unternehmens, die sich davor nicht kannten, reden jetzt miteinander. Die Leute sind auf jeden Fall selbstbewusster geworden, bringen sich ein, sind kreativ. Das hat sich nach und nach im Streik entwickelt. Erst lag die Verantwortung für die Organisation bei der Betriebsgruppe, jetzt läuft ganz viel eigenverantwortlich. Viele Streikende waren zu Beginn des Ausstands zehn, manchmal zwölf Stunden da. Jetzt gibt es Dienstpläne für die Streikposten, weil wir nur so die Freiwilligen in »geordneten Bahnen« streiken lassen können. Wir sind im Streik viel unterwegs, oft mit dem Bus. Die Listen für die Bustouren organisieren sich die Leute selbst. Der Streik ist nicht mehr von oben organisiert, sondern von unten.
Welchen ökonomischen Druck übt ihr mit euren Streik aus? Bekommt ihr mit, wie die Geschäftsleitung reagiert?
Natürlich versucht sie, Aufträge in andere Callcenter zu verlagern und zum Teil durch Leiharbeit aufzufangen. Aber das ist nicht so einfach, denn die anderen Firmen können nicht alle auf die Systeme der Sparkasse zurückgreifen. Die sind dann nur lebende Anrufbeantworter. Sie müssen dann Rückrufe anbieten. Uns wurde übermittelt, dass es in den Hotlines enorme Wartezeiten gibt, Leute in der Warteschleife hängen. Die Beschwerden von Mandanten und Sparkassenkunden über mangelnde Problemlösungen haben sich seit dem Beginn des Streiks massiv erhöht.
Parallel zu eurem Streik fanden Warnstreiks von Beschäftigten eines Callcenters von Bosch und des großen Callcenteranbieters Walter Service statt. Würdest du sagen, dass sich etwas in Branche ändert, die Belegschaften selbstbewusster werden?
Ja, auf jeden Fall.
Wie erklärst du dir das?
Langsam gibt es so etwas wie langjährige, qualifizierte Beschäftigte. Es haben sich Belegschaftsgruppen gebildet. Gewerkschaftliche Arbeit kann nur über die Stammbelegschaft laufen. Es ist auch nicht so, dass die Arbeitgeber massenhaft auf qualifizierte Arbeitskräfte zurückgreifen können. Allein in Halle gibt es bereits über 4000 Beschäftigte in Callcentern. Zugenommen hat auch die Vernetzung zwischen den Betrieben, da ist gewerkschaftlich in den vergangen Jahren einiges passiert.
Abschließend: Was sind für dich bisher die wichtigsten Erfahrungen eures Streiks?
Dass die Kollegen bereit sind, den Rücken durchzudrücken, sich selbst einzusetzen. Die Leute haben vor dem Streik viel mit sich machen lassen, sie haben sich sogar den Gang zur Toilette verbieten lassen.
Persönlich finde ich die vielen positiven Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen toll. Das gibt einem als Betriebsrat das Gefühl, doch auf dem richtigen Weg zu sein. Eines ist klar: Nach dem Streik wird eine andere Belegschaft in den Betrieb zurückkehren.
(Das Interview führte Olaf Klenke.)
Zur Person:
Thomas Bittner arbeitet seit 2001 bei dem Callcenter-Unternehmen S Direkt-Marketing in Halle an der Saale. Er ist Mitglied der ver.di-Betriebsgruppe und seit dem Jahr 2004 Betriebsratsvorsitzender.
Mehr auf marx21.de:
- Solidarität mit dem Ufo-Streik: Nach drei Nullrunden in Folge und einem 13-monatigen Verhandlungsmarathon mit der Lufthansaführung haben die Flugbegleiterinnen und die Flugbegleiter zum Mittel des Arbeitskampfes gegriffen. Klaus Ernst und Jutta Krellmann, die Sprecherin für Arbeits- und Mitbestimmungspolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE unterstützen ihre Forderungen für eine Tariferhöhung, eine verbesserte Vergütungsstruktur und den Kampf gegen den Einsatz von Billig-Flugbegleiterinnen und Flugbegleitern. marx21.de dokumentiert
- »Unkonventionelle Methoden der Gewinnsteigerung«: Ständig belegen neue Studien: Der Niedriglohnsektor explodiert. Mit welchen Methoden Unternehmen dabei vorgehen, zeigt der Fall Maredo. Er illustriert aber auch, dass Belegschaften sich wehren können. Die Chronik eines Arbeitskampfes von Volkhard Mosler
- Wer standhält, kann gewinnen: In einem Krankenhaus in Südhessen machen Azubis eine Aktion gegen ihre schlechten Ausbildungsbedingungen. Am nächsten Tag ermittelt die Polizei wegen Einbruch, ein Azubi wird von der Arbeit freigestellt und ihm wird, obwohl er schwerbehindert ist, mit fristloser Kündigung gedroht. marx21.de sprach mit Elmar Siemens von der Gruppe ver.quer