Den Kapitalismus überwinden, aber was dann? Ein Gespräch mit Slavoj Žižek über offene Fragen in einer Zeit der Revolte
Slavoj, wir schauen fasziniert auf die arabischen Aufstände. Sie kamen unerwartet und erschütterten das westliche Bild des apathischen und dem religiösen Fanatismus verfallenen Arabers. Was passiert dort?
Die Revolte ist ein universelles Ereignis. Wir sehen die Menschen auf dem Tahrir-Platz, wir hören ihren Ruf nach Freiheit und Demokratie und verstehen sofort, worum es geht. Dazu bedarf es keines Übersetzers, die Revolten und ihre Motivationen sprechen uns direkt über Kultur- und Ländergrenzen an. Das ist aber nicht der langweilige Unesco-Universalismus, der hier ein Weltkulturerbe ausruft und da sagt: »Das alte Bauwerk ist aber toll«. Hier geht es um einen Universalismus des Kampfes. Vielleicht brauchen wir Übersetzer, um ägyptische Inschriften zu entziffern – für das Verständnis der ägyptischen Revolte brauchen wir jedenfalls keine.
Ja, die Bewegung kam unerwartet, aber machen das Revolutionen nicht immer? Zwei Monate vor der russischen Februarrevolution im Jahr 1917 hielt Lenin eine Rede vor sozialistischen Jugendlichen und sagte: »Vielleicht werden eure Kinder Glück haben und die erste Revolution miterleben.« Im Jahr 1871 wurde Karl Marx von der Ausrufung der Pariser Kommune überrascht. Revolutionen sind eine seltsame Sache, schwer vorherzusehen. Sie beginnen nicht einfach, wenn die Situation am schlimmsten ist oder die Unterdrückung am unerträglichsten. Vor dem Arbeiteraufstand in Ungarn 1956 gab es unter Imre Nagy eine politische Öffnung. Die Unterdrückung im Land wurde zu dieser Zeit keineswegs verschärft, sondern eher zurückgenommen. Wie gesagt: Erhebungen und Revolutionen sind unvorhersehbar. Das ist eine sehr schlechte Nachricht für die Tyrannen dieser Welt.
Was bedeutet die arabische Revolte für das Selbstbild des Westens als Hort von Freiheit und Demokratie?
Böse formuliert sah das Bild, das der liberale Westen von der arabischen Welt hatte, doch so aus: Gerne hätten wir Demokratie im Nahen Osten. Doch leider ist das Einzige, was Araber in Massen auf die Straße treibt, aggressiver Nationalismus, religiöser Fanatismus, Antisemitismus oder womöglich alles zusammen. Ein Freund von mir, ein slowenischer Journalist, war während des Aufstands zwei Wochen lang auf dem Tahrir-Platz. Er wollte provozieren, wollte sehen, wie tief der Liberalismus der Aktivisten wirklich geht. Deshalb hat er in jedem Interview gefragt: »Und was ist mit den Juden? Glaubt ihr, die Zionisten stecken hinter allem hier?« Das Wunderschöne: Nicht einer ist in diese Falle getappt, alle haben gesagt: »Lasst Israel aus dem Spiel, hier geht es um unseren Kampf, um unsere Rechte.« Der Einzige, der permanent von Israel sprach, war Mubarak, der die ganze Bewegung als zionistische Verschwörung darstellte.
Der Westen hat nun also bekommen, was er vorgeblich immer wollte: eine säkulare Bewegung. Doch damit fühlt er sich jetzt sehr unwohl. Und das zu Recht: Die arabische Revolte geht in entscheidenden Aspekten über liberale Forderungen wie Bürgerrechte hinaus. Die Revolutionen in Osteuropa 1989 konnte man als Liberaler noch bedenkenlos feiern – schließlich ging es dort mehr oder minder darum, so zu werden und zu leben wie Westeuropa. Die Aktivisten in der arabischen Welt hingegen fordern auch eine solidarische Gesellschaft. Sie wollen nicht einfach einen liberalen westlichen Kapitalismus haben. Auf einer Versammlung des neugegründeten ägyptischen Gewerkschaftsdachverbands wurde Geld gesammelt – nicht für sich, sondern für die streikenden amerikanischen Arbeiter in Wisconsin!
Der Prozess geht also weiter …
Ja, die Entwicklung ist offen. Ich mag das Konzept des »erhabenen Moments« im Sinne von Kant nicht: Millionen Leute auf der Straße, wir schauen als interessierte Beobachter zu und nehmen teil am Enthusiasmus. Das ist einfach – viele mittlerweile rechte Politiker in Frankreich können Geschichten von erhabenen Momenten auf den Barrikaden 1968 erzählen, wie wunderschön es war. Eine andere Politik machen sie deshalb jetzt nicht. Für mich ist entscheidend: der Tag danach. Wie wird dieser Moment des Enthusiasmus institutionalisiert, wie wird er in eine neue Ordnung übersetzt? Die Linke ist besessen vom Konzept des Massenaufstands und denkt zu wenig über die spätere Ordnung nach.Das Problem ist weniger, zu gewinnen, sondern was wir dann mit dem Sieg anfangen. Der interessanteste Zeitabschnitt in der Russischen Revolution ist für mich der direkt nach dem Sieg der Roten im Bürgerkrieg.
Vorher ging es ums Überleben, dann stand die Frage der Überführung der Revolution in die Institutionen des Alltags an: Wie heiraten Leute, wie haben sie Sex, werden sie beerdigt? Das ist doch der eigentliche, stille Kampf. Und so ist es auch in Ägypten: Dort passieren große Dinge, die von der westlichen Presse völlig ignoriert werden. Auf der einen Seite existiert der gesamte Mubarak'sche Staatsapparat noch. Auf der anderen Seite stampfen die Menschen eine Zivilgesellschaft aus dem Boden: Gewerkschaften, Studentenorganisationen, feministische Organisationen. Das ist der Kampf.
Kein Wunder, dass die westlichen Medien ihre Berichterstattung mit großer Freude von Ägypten nach Libyen verschoben haben. Ägypten war etwas Neues, Libyen hingegen ließ sich ganz gut in das alte Raster einpassen: Diktator auf der Achse des Bösen, unschuldige Zivilisten, Leid und der Westen als Retter. Die Lehre lautet: Nicht die arabische Welt war unreif für die Demokratie, sondern der Westen war nicht reif genug – weder für die Demokratie der Araber noch für die eigene. Die Araber sind bessere Anhänger des europäischen Universalismus als wir.
Wir sollten das jedoch nicht nur als ein arabisches Moment sehen – die Dinge bewegen sich an vielen Orten. Es gibt große Rebellionen, von denen wir hier überhaupt nichts hören In Indien habe ich mit Vertretern der Naxaliten, maoistischen Rebellen, gesprochen. Die Naxaliten haben mittlerweile eine Million Anhänger. Eine Million! Des Weiteren gibt es die Bewegungen in Lateinamerika, natürlich auch mit problematischeren Entwicklungen. Ich denke zum Beispiel, dass Hugo Chávez sich zu einem gewissen lateinamerikanischen Populismus hat verführen lassen. Dennoch wurde hier viel erreicht. Selbst in Europa fangen die Dinge an sich zu bewegen, erst in Griechenland und jetzt in Spanien. Jetzt ist die Zeit – nicht, um sich in Illusionen zu verlieren und zu denken, der Kommunismus steht vor der Tür. Aber die Zeit, die Nerven zu behalten, nüchtern zu bleiben und vor allem engagiert.
Der Revolutionsexport scheint schon im Gange zu sein. Formen des Protests vom Tahrir-Platz gibt es jetzt auch in Barcelona, Madrid und Athen.
Dass diese Übertragung möglich ist, macht etwas Wichtiges deutlich: dass wir einen Protest gegen lokale Auswirkungen einer globalen Ordnung haben – und eben nicht nur einen Protest gegen lokale, korrupte und undemokratische Politiker. Dann müsste man nur die korrupten Politiker austauschen und hätte schon eine funktionierende Demokratie und Wirtschaft. Dass die Proteste aber auf Länder überschwappen, die offiziell eine Demokratie haben, zeigt, dass es um mehr geht. Ich sage nicht, dass wir die Demokratie abschaffen müssen. Aber Tatsache ist, dass die klassische westliche Mehrparteiendemokratie nicht mehr in der Lage ist, den hohen Grad an sozialer Unzufriedenheit auszudrücken. Ein Beispiel: Vor ein paar Jahren war ich in England – kurz vor den letzten Wahlen, die Labour noch gewann. Zwei Wochen zuvor gab es bei der BBC eine Sendung, in der das Publikum entscheiden durfte, wer der meistgehasste Mensch Großbritanniens sei. Tony Blair gewann mit großem Abstand. Zwei Wochen später wurde er wieder zum Premierminister gewählt.
Was bedeutet das? Es zeigt, dass die Leute auf jeden Fall mit der politischen Situation unzufrieden waren. Das äußerte sich im Hass auf Blair. Gleichzeitig gab es bei der Wahl aber keine aussichtsreiche Alternative, mit deren Wahl die Menschen ihre Unzufriedenheit hätten ausdrücken können. Wir sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die Folgen sind oberflächlich gesehen irrationale Aktionen wie das Anzünden von Autos in Frankreichs Vorstädten – ein reiner Protest ohne klares politisches Programm. Die Konsequenzen sind aber auch Strukturveränderungen, die ins Autoritäre gehen. Der Kapitalismus hat immer mal wieder zwanzig Jahre Diktatur gebraucht. Letztendlich waren seine effizientesten Formen doch die, in denen es gewisse Freiheiten und Demokratie gab. Aber die Heirat von Kapitalismus und Demokratie läuft jetzt auf eine Scheidung hinaus.
Nehmen wir China: Ich bin zwar dagegen, immer auf China herumzuhacken. Dort werden immense Dinge geleistet. Trotzdem sollten wir uns genau anschauen, was dort passiert. Dort funktioniert der Kapitalismus perfekt, auch ohne Demokratie. Und ich glaube nicht, dass sich das in den nächsten zehn Jahren unbedingt ändern wird. Tatsächlich sind die effizientere Formen des Kapitalismus heute die des autoritären Kapitalismus: Singapur, Malaysia, China. Sogar Konservative sehen das so: Als ich Peter Sloterdijk einmal auf einem Flughafen traf, haben wir uns unterhalten und er sagte: »Weißt du, wem sie in hundert Jahren ein Denkmal setzen werden? Lee Kuan Yew, dem ›Vater‹ Singapurs.« Er ist der Erfinder des Kapitalismus mit asiatischen Werten, des autoritären Kapitalismus. Als Den Xiaoping in den 1970er Jahren Singapur besuchte, sagte er: »Das ist ein Modell für ganz China.«
Die gegenwärtig stattfindende Scheidung zwischen Kapitalismus und Demokratie zeigt sich auch im Westen. Dabei glaube ich nicht, dass es eine Rückentwicklung zum alten faschistischen Autoritarismus gibt.
Möglich hingegen sind Entwicklungen, wie wir sie zurzeit in Italien sehen: das Phänomen Berlusconi. Wir haben hier eine offen obszöne Funktionsweise der Macht. Berlusconi erzählt geschmacklose Witze, macht sich lächerlich, aber die interessante Frage ist: Was passiert in der Machtstruktur? Das gegenwärtige Italien erinnert mich immer ein bisschen an »Brazil« von Terry Gilliam, obwohl der Film schon dreißig Jahre alt ist. Gilliam hat damals schon diesen neuen Typus eines autoritären Regimes beschrieben: nicht mehr faschistisch, aber oberflächlich gesehen ein halb obszönes, hedonistisches Regime. Als ob Groucho Marx an der Macht wäre.
Auch die Rückkehr der großen ökonomischen Krisen führt von der Demokratie weg. Diese Krisen sind enorm und entfalten sich mit explosionsartiger Geschwindigkeit. Um sich zu schützen, brauchen die Regierungen schnelle, radikale, weitreichende Maßnahmen. Das funktioniert aber nicht innerhalb einer formellen Demokratie.
Ein gutes Beispiel dafür ist das, was in den USA im Herbst 2008 passiert ist. Der damalige Präsident George W. Bush hatte den Banken 750 Milliarden Dollar Hilfe versprochen. Das wären natürlich heute Peanuts, damals war das ungeheuerlich. Die Hilfe wurde vom Kongress blockiert, mit einer Zweidrittelmehrheit. Und dann passierte etwas Merkwürdiges: Die politische Elite, also Bush, McCain und auch Obama, haben den Kongress unter Druck gesetzt. Sie haben praktisch dem Kongress gesagt: »Hört zu, eure demokratischen Debatten sind ja schön, aber dieses Hilfspaket muss innerhalb einer Woche bewilligt werden. Also hört auf mit dem Quatsch.« Sie haben die Demokratie suspendiert. Und der Kongress hat es akzeptiert. Eine Woche später war der Beschluss durch. Ich finde das beängstigend.
In Ägypten stellt sich die Linke im Zuge der Proteste neu auf, in Europas Bewegungen spielte sie anfangs hingegen keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Woran liegt das?
Die Linke hat noch nicht voll begriffen, dass das 20. Jahrhundert zu Ende ist. Die drei wesentlichen Organisationstypen der Linken aus dem letzten Jahrhundert sind gescheitert. Offensichtlich ist das beim kommunistischen – beziehungsweise stalinistischen – Staatssozialismus. Nach der Wende kam dann der politische Bankrott der Sozialdemokratie, vor allem in den Ländern, in denen sie an der Macht war. Ich würde aber auch sagen, dass sich die im Rahmen der Proteste von Seattle und des Weltsozialforums entstandene Form des losen »Schwarms« erschöpft hat. Die Idee von losen, selbstverwalteten Strukturen, die den Staat umgehen, findet ihre Grenzen. Anders als Michael Hardt oder Antonio Negri sehe ich den magischen Moment nicht, wo aus vielen kleinen Strukturen die Multitude wird und alles übernimmt.
Nein, wir müssen neu denken und bei null anfangen. Die Problemstellung ist folgende: Große Fragen brauchen große Lösungen, also auf Staatsebene oder sogar auf transnationaler Ebene. Kleine, selbstverwaltete Einheiten sind gut für diejenigen, die darin eingebunden sind. Sie sind aber keine Lösung für globale Probleme wie die drohende ökologische Katastrophe. Wir sollten uns einmal vorstellen, der Tsunami, das Erdbeben und die Atomkatastrophe in Japan wären noch stärker ausgefallen – etwa so, dass der ganze Norden Japans jetzt unbewohnbar wäre. Wohin dann mit den Leuten? Wer organisiert das? Der Markt wird es nicht sein – die unterschiedlichen Akteure können sich gar nicht so schnell koordinieren, wie es nötig wäre, um schnell und weitreichend einzugreifen. Der Staat also. Aber wie vermeiden wir, dass es einfach technokratisch und autoritär durchgeführt wird? Der Dreischluchtendamm in China ist gewiss eine technische Errungenschaft, aber eine soziale und ökologische Katastrophe. Das kann nicht die Art von Lösung großer Probleme sein.
Da haben wir ein Dilemma. Die Leute merken, dass sie tief in der Scheiße sitzen. Wir können analysieren, was sie zur Rebellion treibt – materielle Umstände, die Idee von Freiheit, was auch immer. Und dann können wir auf Wunder warten. Ägypten zeigt, dass Wunder an den unwahrscheinlichsten Orten geschehen. Vor drei Jahren habe ich noch geschrieben, dass die linke Subjektivität verschwindet und die Rechte auf dem Vormarsch ist. Ich lag falsch. Ich glaube mittlerweile weniger, dass unser Job als Intellektuelle ist, Antworten zu geben – damit hatten wir im 20. Jahrhundert nicht so viel Glück. Wir sollten die Menschen dazu befähigen, die richtigen Fragen zu stellen und Probleme zu benennen. Dann wäre schon viel erreicht.
Zum Autor: Slavoj Žižek ist ein aus Slowenien stammender Kulturphilosoph. Er ist Professor für Philosophie an der Universität in Ljubljana und an der European Graduate School im Schweizerischen Saas-Fee. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Zuletzt ist von ihm auf Deutsch erschienen »›Ich höre dich mit meinen Augen‹. Anmerkungen zu Oper und Literatur« (Konstanz University Press 2010).
Video: »Wie aktuell ist die kommunistische Idee?« Veranstaltung beim Kongress Marx is muss 2011 mit Alex Callinicos, Dietmar Dath, Janine Wissler, Slavoj Žižek; in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung: Teil 1/2, 2/2