Witze machen über den Diktator – was vor vier Wochen noch Hochverrat war, ist jetzt Alltag. Philip Bethge gibt einen Einblick in das Leben im Nildelta nach Mubaraks Sturz
Mi, 23.02.11: Ein relativ ruhiger Tag in Tanta, aber auch eine Gelegenheit herauszufinden, wie die Revolution sich außerhalb der Hauptstadt ausgewirkt hat. Omnia hat mir erzählt, dass der Widerstand gegen Mubarak zuerst in Tanta ausgebrochen sei. Die Leute in Mahalla erzählen aber das Gleiche über ihre Stadt. Klar ist, dass die Menschen zuerst in den armen Städten im Norden auf die Straße gegangen sind, bevor die Revolution nach Kairo gekommen ist.
Und Tanta ist arm. Die Einwohner sind stolz und würdevoll, aber es gibt keine Grünfläche, die Straßen sind höchst reparaturbedürftig und es bläst ein kräftiger Sandsturm durch die engen Gassen. Kein Wunder, dass es Tantas Jugend nach Kairo zieht. Die Einwohnerschaft wächst trotzdem, weil die Bevölkerung der umliegenden Dörfer immer noch nach Tanta drängt.
Anders als in Kairo
Obwohl Tanta eine Quelle der Revolution war, fehlt die Stimmung von Kairo hier. Kairo ist überall mit Fahnen verziert – hier sind die Bäume und Laternenmasten immer noch schwarz-weiß-rot angemalt, aber die Flaggen fehlen. Wie in Kairo werde ich als Ausländer ständig begrüßt, aber hier ist es mehr aus Neugier als aus Solidarität. Die Kairoer empfangen mich als Unterstützer ihrer Revolution – die Tantaer wundern sich, was ich hier mache. Sie sind freundlich, aber das Gefühl ist ein anderes.
Ich frage Omnia, wie das kommt. Sie sagt, dass die Revolution in die Hauptstadt umgezogen sei. Die Tantaer seien immer noch wachsam – wenn die Konterrevolutionäre versuchen würde, zurückzukommen, werde es wieder militante Demos in Tanta geben. Wird es eine Demo am kommenden Freitag geben ? »Ich weiß nicht. Die Muslimbrüder sind hier in Tanta stark. Vielleicht rufen sie auf. Wenn ja, werden wir dabei sein.«
In den Händen der Profis
Die Vorstellung, dass Widerstand und Demonstrationen plötzlich an- und abgeschaltet werden können, ist mir diese Woche oft begegnet. Und mit gutem Grund – wenn man eine der größten Diktaturen der Welt gestürzt hat, ist alles möglich. Viele glauben, dass die Revolution schon gewonnen hat. Die Konterrevolution bleibe zwar immer eine Gefahr, aber die Bevölkerung habe schon gezeigt, dass sie für Demokratie und Gerechtigkeit kämpfen werde.
Das ist eine plausible Meinung, aber sie trennt die Revolution von ihren Hauptakteuren und lässt sie in den Händen von vermeintlichen Profis, die entscheiden, wann und wie Widerstand geleistet werden soll. Das ist keine gute Basis für eine neue, von der Bevölkerung kontrollierte Gesellschaft. Es ist auch nicht das effektivste Mittel, um Schutz zu organisieren, denn so geht die Dynamik der Bewegung langsam verloren.
Konterrevolution durch die Hintertür
Es gibt ein zweites Problem. Die Konterrevolution kämpft nicht nur mit Polizisten und Blutbädern – sie kann auch auf dem Weg demokratischer Wahlen kommen. Und wenn ein neuer Präsident versucht, die Erfolge der Revolution schrittweise zurückzudrängen, beispielsweise wegen wirtschaftlicher Probleme oder um die US-Außenpolitik zu beschwichtigen, wie stark wird die Straßenbewegung dann sein, um die Revolution zu verteidigen?
Diese Frage bleibt offen und muss von den ägyptischen Aktivisten diskutiert werden. Ich glaube auf alle Fälle, dass Ägypten nicht wieder werden wird, wie es war. Der Stolz der Menschen, die ich treffe, und das Wissen, Geschichte gemacht zu haben, sind da und werden bleiben. Es ist kaum anzunehmen, dass Mubarak irgendwie zurückkehren kann. Nur diese Tatsache ist Rechtfertigung genug für die Revolution. Aber um eine neue Gesellschaft in Ägypten aufzubauen, muss der Widerstand sichtbar bleiben – nicht nur in Kairo, sondern überall.
Bedürfnisse im Mittelpunkt
Doch es hat sich schon viel geändert, auch in Tanta. Heute treffe ich mich mit Omnias Freundeskreis, der seit 2005 Wohltätigkeitsarbeit macht – sie sammeln Kleider von Verwandten und Bekannten, verkaufen sie billig an arme Leute und benutzen den Gewinn, um Operationen für kranke Arme zu organisieren, die anders unbezahlbar wären. Ein Beispiel, wie Menschen zusammenarbeiten können, wenn Bedürfnisse und nicht Profit im Mittelpunkt stehen.
Ich frage die jungen Leute, die meisten Studenten und Mitte zwanzig, wie sich Tanta im letzten Monat verändert hat. Alle sind sicher, dass es Veränderungen gegeben hat – auch wenn nicht alle greifbar sind. Die Leute seien glücklicher, der Umgang miteinander besser, mehr Leute kümmerten sich umeinander.
Die arabische Revolution geht weiter
Aber am wichtigsten sei die Möglichkeit, offen zu reden, über Politik zu diskutieren. Diese Woche habe ich mehrere Witze über Mubarak gehört. Die meisten waren für mich nicht besonders lustig. Vielleicht braucht man auch nach 30 sprachlosen Jahren ein bisschen Zeit, um den Humor wieder zu lernen. Vor einem Monat waren solche Witze jedenfalls noch Hochverrat. Jetzt sind sie Teil jeder Unterhaltung.
Heute werden mehr Witze über Gaddafi gemacht, den alle als verrückt ansehen. Die Überzeugung, dass Diktaturen ewig währen, ist weg. Sie haben zwar Angst, dass Gaddafi ausländische Söldnertruppen benutzt, um den ägyptischen Fall zu vermeiden, dass die Soldaten sich weigern zu schießen. Aber alle glauben, dass Gaddafis Tage gezählt sind. Die arabische Revolution geht weiter.
Wir reden über die Probleme der Welt. Omnia sagt, es sei ganz einfach: »Es gibt die Leute, die herrschen, und es gibt die Bevölkerung. Und die Herrschenden werden die Bevölkerung immer ignorieren und verarschen. In Ägypten war das offensichtlich, aber das gibt es auch in Europa und den USA. Das heißt, die Revolution darf nur ein Anfang sein. Man muss bereit sein, alle Regierungen in Frage zu stellen.«
Zur Person:
Philip Bethge wird ab dem 27. Februar wieder in Deutschland sein und steht für Berichte und Veranstaltungen zur Verfügung. Wer ihn auch einladen möchte, kann per E-Mail an mit ihm in Kontakt treten
Mehr auf marx21.de:
- Internettagebuch »E-Mail aus Kairo«: #1 Ägypter feiern die Befreiung (18.02.11) – #2 Die Angst vor den Neuwahlen (19.02.11) – #3 Erfolgreicher Streik in Mahalla (20.02.11) – #4 Vereint und doch verschieden (21.02.11) – #5 Ägypter wollen Gerechtigkeit (22.02.11) – #7 Illusionen in Europa (24.02.11) – #8 Alle sollen gehen (25.02.11) – #9 Neue Linke in Ägypten (26.02.11)