Die gegenwärtige Islamfeindlichkeit hat tiefe Wurzeln. Wie weit sie zurückgehen, erklärt Achim Bühl im Gespräch mit marx21.
marx21: In Ihrem Buch ziehen Sie eine Kontinuitätslinie der Islamfeindschaft von den Kreuzzügen bis heute. Ist das nicht arg weit hergeholt?
Achim Bühl: Nein. Viele sehen die Anschläge vom 11. September als Geburtsstunde der Islamfeindlichkeit. Das greift jedoch zu kurz. Sie ist über eintausend Jahre alt, eine ihrer zentralen Quellen ist die christlich-mittelalterliche Islamfeindschaft. Die Entstehung des Feindbildes setzt im späten elften Jahrhundert ein und zwar im Kontext der Kreuzzüge.
Die vorherige Entstehung eines islamischen Großreichs im siebten Jahrhundert wird im Abendland kaum registriert und nicht als Bedrohung wahrgenommen. Da sich die Ausdehnung des Kalifats in westlicher Richtung zunächst auf Territorien erstreckt, die zuvor unter westgotischer wie byzantinischer Herrschaft stehen, werden diese Konfrontationen noch nicht als christlich versus muslimisch begriffen. Antimuslimische Elemente tauchen erstmals nach dem Angriff auf Rom im Jahre 846 auf, bleiben jedoch sporadisch und ohne Breitenwirkung. Die Eroberung der iberischen Halbinsel durch die Mauren im achten Jahrhundert sowie die arabische Eroberung Siziliens und Süditaliens im neunten Jahrhundert führten ebenfalls nicht zu einem Aufschrei in der »christlichen Welt«. Das alles ändert sich erst mit der Wiedereroberung Spaniens von den Mauren, der Reconquista, und dann mit den Kreuzzügen. Der Kunsthistoriker Silvio Lange hat darauf hingewiesen, dass zu dieser Zeit an den Kapitellen, Portalen und Kragsteinen der Kirchen neuartige Bilder auftauchen – Bilder, die Muslime als hässlich und verabscheuungswürdig darstellen und Mohammed als Epileptiker, als Wahnsinnigen zeigen.
Solche Darstellungen sollen dazu führen, die Tötungshemmnung zu senken. Die Tötung eines »Heiden« galt bis zum 11. Jahrhundert noch als Sünde. Das ändert sich mit dem ersten großen Kreuzzug von 1096.
Das Ideal des christlichen Ritters bildet sich heraus, dessen Ethik nicht im Prinzip der Toleranz und Nächstenliebe besteht, sondern in der gottgewollten Aufgabe, den bekehrungsunwilligen Heiden »auszurotten«. Entsprechend blutig waren dann auch die Kreuzzüge.
Trotzdem finde ich es gewagt, einen Kriegszug vor tausend Jahren an die Wiege moderner Islamfeindlichkeit zu stellen.
Das wäre richtig, wenn es keine Kontinuität gäbe. Doch die gibt es. Seit den Kreuzzügen verlässt das Thema der Islamfeindlichkeit das Abendland nicht mehr, es wird nur unterschiedlich variiert. Nehmen wir zum Beispiel die sogenannten Türkenkriege. Im Unterschied zur kaum beachteten Expansionswelle im siebten und achten Jahrhundert wird der Fall Konstantinopels im Jahre 1453 zu einem Fanal für die antitürkische Propaganda der frühen Neuzeit. Zwar wird es leider wie in allen Kriegen Plünderungen, Vergewaltigungen und Raub der Soldateska auf beiden Seiten gegeben haben, die erhaltenen Holzschnitte und Flugschriften sind indes Dokumente einer türkenfeindlichen Propaganda, welche die Osmanen gezielt als »Unmenschen« stilisiert, die mit Vorliebe kleine Kinder pfählen. Den eigentlichen Hintergrund derartiger »Türkenbilder« bildet nicht die »Türkenfurcht«, sondern die sogenannte »Türkenhoffnung« vieler einfacher Leute. Die steuerliche Finanzlast der christlichen Landbevölkerung an den Sultan fiel niedriger aus als der vergleichsweise höhere Tribut an den christlichen Adel. Insbesondere niedrigere soziale Schichten versprachen sich ein besseres Leben unter osmanischer Herrschaft. Dazu kam eine religiöse Hoffnung: Unter der osmanischen Herrschaft wurde Christen und Juden überwiegend mit Toleranz begegnet, da sie nach der Auslegung des Korans als »Schriftbesitzer« gelten, deren Religionsausübung zu respektieren ist.
Wo liegen abseits von konkreten Anlässen weitere historische Wurzeln der Islamfeindlichkeit?
Wesentlich ist die Definition des mittelalterlichen Abendlands als christlich und zwar in einer Art doppelter Abgrenzung sowohl vom Judentum als auch vom Islam. Das sehen wir unter anderem bei Martin Luther, der zur Zeit der Türkenkriege gleichermaßen extrem antijüdische wie antimuslimische Schriften verfasst. Der »frühe« Luther betrachtet die »Türkengefahr« als eine Strafe Gottes für das verwerfliche Treiben der Kirche. Er lehnt deshalb zunächst einen erneuten Kreuzzug oder Krieg gegen das Osmanische Reich entschieden ab. Als sich die Situation des belagerten Wiens aber zuspitzt und der Papst Druck ausübt, verfasst Luther im Jahre 1530 eine »Türkenschrift« mit dem Titel »Eine Heerpredigt wider den Türken«. Hier ist der Türke für Luther der »äußere Antichrist«, der Papst stellt den »inneren Antichrist« dar. Schließlich sagt Luther: »Wir gedenken dem Türken zu wehren, dass er Mohammed nicht an unseres lieben Herrn Jesu Christi Statt setzt. Darum führen wir einen gottseligen Krieg gegen die Türken und sind heilige Christen und sterben selig.« Mit diesen Worten knüpft Luther nunmehr an die Erzählung der Kreuzzüge als Glaubenskriege an. Damit ist auch vonseiten der Reformation die Kontinuität zur Islamfeindlichkeit der Kreuzzugszeit hergestellt und ebenso zum Judenhass.
Der Antisemitismus ist die ältere und wesentlich hassgetränktere Variante der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Ihr Potenzial wird für die Ächtung weiterer Kollektive genutzt. Geläufige antisemitische Stereotype hat Luther auf den Islam bzw. auf »die Türken« übertragen. Auffallend ist zum Beispiel die Vorstellung, dass »die Türken« Christus von Gottes Thron stoßen wollen: Ein Bild, welches an das deutlich ältere antisemitische Stereotyp vom Juden als Christusmörder anknüpft.
Juden wie Muslime werden von Luther als Lügner und Lästerer Gottes gesehen, da sie den »König Christus« schmähen. In Luthers »Gerichtspredigt« wird die Menschheit unterteilt in Gut und Böse, den evangelischen Christen stehen die Türken, Papisten und Juden als die vom Teufel verführten »Gotteslästerer« gegenüber.
Die Folgen sind bis heute spürbar: Prozentual ist die Islamfeindschaft stärker in christlichen als in nichtchristlichen Gruppierungen verankert – diese Kontinuität verweist auf die christliche Wurzel dieses Phänomens genauso wie dies der christliche Judenhass beim Antisemitismus ist.
In Ihrem Buch behaupten Sie, solche alten Argumentationen würden auch in der Sarrazin-Debatte auftauchen. Inwiefern?
Es gibt historisch betrachtet vier große Muster der Islamfeindlichkeit. Alle vier finden sich bei Sarrazin. Das erste Muster ist die Spaltung der Gesellschaft bei Sarrazin in »Wir« und die »anderen«. Es ist das Motiv des sich als christlich definierenden Abendlandes. Die bipolare Orient-Okzident-Konstruktion, die Definition des Islams als das Fremde, das Nichtdazugehörige spiegelt Sarrazin. Der zweite Argumentationsstrang ist der gewalttätige, der blutrünstige Muslim. Dieses Muster stammt aus den erwähnten Türkenkriegen. Heute finden wir es vor allem in der Debatte über Kriminalität, die mittels der Figur »kriminelle Ausländer« ethnisiert und zu einem Wesensmerkmal insbesondere des muslimischen Migranten erklärt wird.
Das dritte Muster stammt aus der Zeit des Orientalismus, im 19. Jahrhundert. Damals geriet das lange Zeit expandierende Osmanische Reich in die Defensive, verlor zunehmend an Boden und musste schließlich gar um seine Existenz bangen. Das Interesse der europäischen Staaten bestand nunmehr am Erhalt des Osmanischen Reichs, um eine hegemoniale Position Russlands im östlichen Mittelmeerraum wie im Gebiet des Schwarzen Meeres zu verhindern.
Der mächtige Feind von einst, der zum Verbündeten geworden ist, wird zum Gespött und zur romantischen Figur des Orientalismus, einer Geistesströmung, die sich sowohl der Malerei, der Literatur, der Architektur, der Mode, der Musik – etwa die »Entführung aus dem Serail« von Mozart – wie des Alltags bemächtigt.
Zu diesem Zeitpunkt kommt das Bild des Muslims als »Parasit« auf. Er will nur genießen, tut nichts, hascht, sitzt zu Hause und lässt sich von Frauen bedienen. Dieses Muster finden wir ebenfalls bei Sarrazin: Der Migrant kommt nach Deutschland, um den Sozialstaat abzuzocken, er will nicht arbeiten und ist nicht produktiv.
Das vierte Muster ist die Übertragung antijüdischer, antisemitischer Stereotype auf neue Sündenböcke. Zum Beispiel die Vorstellung von der Inzucht bei Muslimen, die früher immer den Juden vorgeworfen wurde. Oder etwa die Vorstellung von der Islamisierung Europas, früher »Judaisierung« oder »jüdische Weltverschwörung«. Auch die Figur des Fremden, des »Schmarotzers«, welcher den Wirt aussaugt und sich nicht anpassen will – das finden wir auch in den antijüdischen Ressentiments in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts im wilhelminischen Deutschland.
Wolfgang Benz vom Zentrum für Antisemitismusforschung behauptet: »Antisemiten des 19. Jahrhunderts und manche ›Islamkritiker‹ des 21. Jahrhunderts arbeiten mit ähnlichen Mitteln an ihrem Feindbild.« Dafür wurde er hart angegriffen. Würden Sie seine Aussage unterschreiben?
Ja, ohne Frage. Es ist allerdings wichtig zu betonen, dass nicht nur die Schoah in der Geschichte singulär ist, sondern auch der Antisemitismus an sich. Er ist nicht nur ein Ausgrenzungsdiskurs, sondern ein Diskurs des Mordes. Von Anfang an zeichnet sich der Antisemitismus dadurch aus, dass er ein mörderischer ist. Die Kreuzritter, die sich ins »Heilige Land« aufmachten, ermordeten auf dem Weg dorthin ganze jüdische Gemeinden. Der Antisemitismus ist in diesem Sinne singulär. Das verbietet aber keinen Vergleich, weil vergleichen nicht gleichsetzen bedeutet und es eben auffällt, dass vielfältige Parallelen bestehen. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, nach dem großen Börsencrash, wurde der Antisemitismus auch in der deutschen Elite salonfähig. Es erschienen viele Artikel, die anhand von Statistiken nachweisen sollten, dass der Börsencrash von jüdischen Spekulanten verursacht wurde. Auch heute, wo sich im Gefolge der Krise Verängstigung breit macht, versucht etwa Sarrazin anhand von Zahlen und Statistiken zu belegen, dass muslimische Migranten ursächlich für aktuelle und zukünftige soziale Probleme des Landes verantwortlich sind. Das ist auffallend und ebenso auffallend ist, dass beides zu einem Zeitpunkt stattfindet, in dem das Selbstbewusstsein der Opfer gestiegen ist: Im wilhelminischen Kaiserreich stieg das Selbstbewusstsein der Juden, derzeit steigt das Selbstbewusstsein der Muslime. Diese Prozesse sind vergleichbar, ebenso wie die fremdenfeindlichen Stereotype. Einen Vergleich mit der Schoah, mit der Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden, den Benz auch nie beabsichtigt hat, halte ich indes für gänzlich inakzeptabel, dies wäre ein Holocaust-Revisionismus.
(Die Fragen stellte Stefan Bornost)
Zur Person:
Achim Bühl ist Professor für Soziologie an der Beuth-Hochschule für Technik in Berlin. Kürzlich ist sein neues Buch über »Islamfeindlichkeit in Deutschland« erschienen.