Die ersten freien Wahlen nach dem Sturz von Diktator Ben Ali hat die religiöse En-Nahda für sich entschieden. Droht nach dem arabischen Frühling ein islamistischer Winter, fragt Karl Naujoks
Das Ergebnis der Wahlen spricht eine deutliche Sprache: En-Nahda konnte 89 der 217 Sitze der verfassungsgebenden Versammlung erobern. Auf den Plätzen folgen die linksliberale Republikanische Kongresspartei (29 Sitze), die populistische Millionärspartei »Volkspetition« (26 Sitze) und das sozialdemokratische »Forum für Arbeit und Freiheit« (Ettakattul, 20 Sitze). Den Rest der Sitze teilen sich über 20 weitere Parteien. Die vom ehemaligen Außenminister des Ben Ali-Regimes geführte »Initiative« errang lediglich 5 Sitze.
Vor den Wahlen grassierte angesichts des bevorstehenden Durchbruchs der Islamisten um En-Nahda eine gewisse Hysterie in liberalen Kreisen. Es drohe eine Theokratie wie im Iran, das war vor allen Dingen die Angst der wohlhabenderen Schichten. Den Islamisten wurde das Kaufen von Stimmen unterstellt und eine Anfechtung der Wahlen ins Spiel gebracht, lange bevor die Ergebnisse feststanden. Dies reflektierte nur die eigene Denkweise mancher Liberaler. Die Süddeutsche Zeitung zitierte eine Dame aus La Marsa, eines der vornehmen Viertel der Hauptstadt: »Von mir aus können sie die Wahlen fälschen, Hauptsache, wir verhindern En-Nahda!«
Doch nun hat sich die Situation etwas beruhigt. En-Nahda ist sehr wohl bereit, eine Politik für das tunesische Kapital und die säkularen Mittelschichten zu betreiben. Verhältnismäßig problemlos ist sie mit Kongresspartei und dem Ettakattul eine Koalitionsregierung eingegangen und überließ dem renommierten Menschenrechtler und Führer der Kongresspartei Moncef Marzouki das Amt des Staatspräsidenten. En-Nahda empfiehlt sich dem internationalen Kapital so als Garant für die Stabilität im Land, der nach allen Seiten integrierend wirkt.
Wurzeln des Islamismus
Diese Entwicklung kann nur jene überraschen, die sich durch das Zerrbild haben täuschen lassen, das arabische Diktatoren wie Ben Ali und ihre westliche Bündnispartner vom Islamismus gezeichnet haben. Der Islamismus ist keine Bewegung von Fanatikern, die die Welt ins Mittelalter zurückbomben wollen. Sie ist eine moderne Erscheinung, die in unterschiedliche Strömungen zerfällt.
Seinen Hauptflügel bilden heute sozialkonservative Parteien, die wie die ägyptische Muslimbruderschaft und En-Nahda die Aussöhnung der Klassen in einer religiösen Gemeinschaft predigen. Sie sehnen sich nach einem prosperierenden Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, in der die Mittelschichten ihr Auskommen haben und die Armen in der Moschee Trost finden. Im Großen und Ganzen ist diese Strömung nicht sehr weit von jener Ideologie entfernt, für die in Deutschland die CDU/CSU steht – allerdings unter gänzlich anderen historischen und ökonomischen Rahmenbedingungen.
Den Aufstieg des Islamismus in den arabischen Ländern seit den 70er Jahren ist nur im Wechselverhältnis mit der Enttäuschung einer ganzen Generation von Intellektuellen über den arabischen Nationalismus zu erklären ist. Der Lebensweg von Rachid Ghanouchi, der Führungspersönlichkeit der tunesischen En-Nahda, verdeutlicht dies.
Der »arabische Sozialismus«
1964 ging er erst nach Kairo, dann nach Damaskus, um Philosophie zu studieren. Die Hauptstädte Ägyptens und Syriens zogen ihn als Zentren der panarabischen Bewegung an, die von linken Kräften unterschiedlicher Schattierungen dominiert wurden. Zu dieser Zeit übernahm in Syrien die Ba'ath-Partei die Macht und versprach, wie auch der damalige ägyptische Präsident Nasser, den Aufbau eines arabischen Sozialismus. Doch in der Praxis lief dieser »arabische Sozialismus« auf die Errichtung staatskapitalistischer Einparteiendiktaturen hinaus, wie sie Ghannouchi bereits aus Tunesien kannte.
Auch der Panarabismus, das Überwinden der nationalstaatlichen Rivalitäten unter den arabischen Staaten, war nur eine Worthülse. Die verschiedenen nationalen Führer konnten sich zu keinem Zeitpunkt einigen und wurden von Israel 1967 in einem Blitzkrieg vernichtend geschlagen. In der Folge zog sich Ghannouchi auf sein Philosophiestudium zurück und suchte nach den Wurzeln des »ursprünglichen Islam«. Diese Hinwendung zum Spirituellen stand unter dem Einfluss der syrischen und ägyptischen Muslimbrüder, als auch des algerischen Geistlichen Malek Bennabi. Dieser sah die empfundene Unterlegenheit der arabisch-islamischen Welt in der Unterwürfigkeit gegenüber dem Westen begründet. Die Abkehr von den überkommenen Traditionen des Islam habe zum moralischen Verfall im Innern geführt. Nach der Dekolonisierung der arabischen Länder müssten nun auch die Seelen dekolonisiert werden.
Gründe des Wahlerfolgs
Auf dieser Grundlage baute Ghannouchi mit anderen in den 70er Jahren in Tunesien die »Islamische Vereinigung« auf, aus der später die »Bewegung der islamischen Tendenz« und 1988 schließlich die »Bewegung der islamischen Wiedergeburt« – Harakat en-Nahda al-Islami – hervorging, die nun zur stärksten Kraft im Land gewählt wurde.
Der Weg bis dahin war von scharfer Repression geprägt. Ghannouchi selbst wurde mehrfach inhaftiert, wie viele Zehntausende anderer Anhänger der Bewegung. Das Schicksal der Inhaftierung und Exilierung der Islamisten, als auch ihre politische Ausgrenzung, haben ihre Politik wesentlich radikaler erscheinen lassen, als sie wirklich waren. Zugleich war es dieser Leidensweg, der der Partei einen enormen Kredit bei vielen in der Bevölkerung einbrachte.
Dies beflügelte den Elan der Anhänger unter den Bedingungen der neugewonnenen Freiheiten nach dem Sturz von Ben Ali. Wie keine andere politische Kraft gelang es En-Nahda, neben der Ausrichtung von Großveranstaltungen einen Wahlkampf von Tür zu Tür durchzuführen. In den Tagen vor der Abstimmung sagte mir ein Bekannter, der keineswegs aus einem geistlichen Umfeld stammt: Er überlege sich En-Nahda zu wählen. Denn eigentlich sei En-Nahda die »einzige wirkliche Partei«, die es in Tunesien gäbe.
Aktiv an der Basis
Dieser Eindruck ist sowohl der Basisaktivitäten ihrer Anhänger geschuldet, als auch der unerträglichen Zersplitterung der anderen politischen Kräfte. Insgesamt kämpften rund 80 verschiedene Parteien auf mehrere Tausend Listen verteilt um die Gunst der Wähler. Das staatliche Fernsehen brauchte einige Tage, um in einer ununterbrochenen Abfolge von Dreiminuten-Auftritten sämtliche Spots der Führer der konkurrierenden Listen auszustrahlen. Das islamische Lager war das einzige politische Lager, das unter der Fahne der En-Nahda zentralisiert angetreten ist. Ihre Sammlungspunkte bilden die Moscheen und die Märkte. Das unter religiösen Parolen vereinte Kleinbürgertum konnte so erst die Armen, und von dort ausstrahlend bedeutsame Teile der Arbeiterklasse erreichen.
Die Betriebe fielen demgegenüber als alternative Sammlungspunkte aus. So gelang es nicht, aus der einzigen relevanten organisierten Kraft des Januar-Aufstandes, dem Gewerkschaftsverband UGTT, eine gemeinsame linke Arbeiterpartei heraus zu bilden. Im Gegenteil haben sich in der Übergangsperiode seit Januar – unterstützt von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung – konkurrierende gewerkschaftliche Verbände entwickelt. Mit Ausnahme der aufflackernden Streiks im Mai und Juni waren überdies praktisch keine landesweiten Klassenkämpfe zu verzeichnen, die eine politische Vereinheitlichung der Linken hätten vorantreiben können.
Gespaltene Linke
So trat die Linke gleich mehrfach gespalten an. Neben der revolutionären Kommunistischen Arbeiterpartei (PCOT) standen vier verschiedene relevante Formationen zur Wahl, die allesamt sozialdemokratisch oder linksliberal ausgerichtet waren. Innerhalb dieses Lagers haben mit Ettakattul und der Kongresspartei jene Kräfte das Rennen gemacht, die als prinzipientreue Gegner des Ben Ali-Regimes galten und zugleich auf einen scharfen Anti-Islam-Wahlkampf verzichtet haben.
Dagegen gewann die linksliberale »Demokratisch-fortschrittliche Partei« PDP nur 16 Sitze, der postkommunistische »Demokratische modernistische Pol« enttäuschende 5 Sitze. Beide Parteien waren unter Ben Ali als eine »anerkannte Opposition« eingerichtet und beschwörten im Wahlkampf nun erfolglos die islamische Gefahr, die von der einst unterdrückten En-Nahda ausginge.
Erfolg auf tönernen Füßen
Dies verdeutlicht, dass der Islamismus nicht bekämpft werden kann, in dem die Linke abstrakt gegen Religion polemisiert. Vielmehr muss der Kampf auf dem sozialen und politischen Feld fortgeführt werden, auf dem die Islamisten am Ende nicht mehr zu bieten haben als durchschnittliche Konservative im Westen. Auf diesem Feld werden sich unweigerlich jene Spannungen aufbauen, die den Euphoriestoß unter der armen Bevölkerung nach dem En-Nahda-Wahlsieg rasch verfliegen lassen werden.
Im Grunde genommen war die Stimmung vor den Wahlen ohnehin nicht besonders gut. Das konnten alle Beobachter spüren, die sich vor dem 23. Oktober im Land aufhielten. Viele Jugendliche waren und sind angesichts der hohen Arbeitslosigkeit frustriert und trauten keiner Partei eine Verbesserung ihrer Lage zu.
Die Beteiligung an der Wahl lag denn auch real bei nicht mehr als 55 Prozent. Ungeachtet dieser eher verhaltenen Quote wurde die Wahl als solche dennoch nach all den Jahren der Diktatur zu Recht als ein großartiges Ergebnis wahrgenommen, als einen zählbaren späten Erfolg der Revolution. Zugleich verkörpert der En-Nahda-Erfolg in den Augen der Bevölkerungsmehrheit nicht nur den völligen Bruch mit der Ära Ben Ali und seinen Leuten. Er war auch einen Denkzettel in Richtung Big Business, das in Tunesien traditionell säkular ist und gute Geschäfte mit Europa macht.
Dieser Widerspruch wird leider nicht von allen Linken in Tunesien als Chance, sondern von manchen gar als Problem wahrgenommen. Maya Jribi, Führerin der PDP, schimpft: »Tunesien ist das einzige Land in der Welt, wo die Linke bourgeois ist und die Rechte proletarisch.« Diese Auffassung verdeutlicht nicht nur die totale Entfremdung der alten, institutionalisierten Linken der Ben Ali-Ära von den täglichen Sorgen der arbeitenden Bevölkerung. Sie beruht auch auf einer vollkommenen Überschätzung der inneren Festigkeit von En-Nahda.
Widersprüchlichkeiten bleiben
Nur weil sie von Arbeitern gewählt wird, ist En-Nahda noch keine Arbeiterpartei geworden. So haben die Islamisten es nie geschafft, in der UGTT Fuß zu fassen. Mit über 2 Millionen Mitgliedern verfügt der Gewerkschaftsverband weiterhin über ein enormes politisches und soziales Gewicht. En-Nahda ist als kleinbürgerliche Partei vielmehr an einer Aussöhnung mit dem tunesischen und internationalen Kapital interessiert. Sie wird selbst Anziehungspunkt für die tunesischen Geschäftsleute und Karrieristen werden. Diese Entwicklung kann nur zu Lasten der Arbeiterklasse erfolgen. En-Nahdas Stärke und seine innere Einheit beruht darauf, dass es an der industriellen Front ruhig bleibt. Jede Neubelebung des Klassenkampfes um die unbefriedigten Grundbedürfnisse, jede Neubelebung des revolutionären Prozesses hingegen wird die inneren Widersprüchlichkeiten der Partei heraufbeschwören.
Ein wichtiger Faktor wird sein, wie sich die revolutionäre Linke in den kommenden Monaten positioniert. Denn nur, wenn genügend politische Kräfte innerhalb der Gewerkschaften wirken, die nicht durch ihre Einbindung in die Regierungsgeschäfte gebunden sind, bieten sich Perspektiven für eine neue Sammlung der revolutionären Kräfte. Das ahnt auch die Führung der En-Nahda. Deshalb wurde trotz des schwachen Ergebnisses der PCOT, die nur drei Sitze erringen konnte, ihr angesehener Vorsitzender Hamma Hammami zur Beteiligung an der Regierung eingeladen. Er hat abgewunken und stattdessen die Fortsetzung des Kampfes angekündigt. Ein positives Zeichen, das hoffen lässt.
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