Thilo Sarrazin hetzt wieder gegen Muslime. In der BILD und im Spiegel werden Auszüge seines neuen Buches »Deutschland schafft sich ab« veröffentlicht. Marwa Al-Radwany deckt Sarrazins antimuslimischen Rassismus auf und erklärt, warum manche Politiker und Medien Muslime zu Sündenböcken machen wollen.
Plötzlich geht es rasend schnell. Der Angeklagte Alex Wiens, der am 1. Juli 2009 vor dem Dresdner Landgericht steht, weil er die junge Muslima Marwa El-Sherbiny mit rassistischen Äußerungen beleidigt hatte, zieht ein Messer. Er geht auf die Klägerin los und ermordet sie, vor den Augen ihres dreiährigen Sohnes und ihres Ehemannes. 18-mal sticht er auf die schwangere Frau ein – nur weil sie ein Kopftuch trägt und weil sie es »gewagt« hat, gegen seine antimuslimischen Ausfälle vor Gericht zu ziehen.
Zum Glück handelt es sich bei diesem Mord aus antimuslimischer Motivation bisher um einen Einzelfall. Die Überzeugung jedoch, mit der Wiens glaubte, die »Kultur seines Landes« verteidigen zu müssen, die er durch die bloße Anwesenheit Marwa El-Sherbinys bedroht sah, ist keine Einzelmeinung. Vor dem Mord äußerte der Täter sich in einem Schreiben, mit dem er Einspruch gegen den Strafbefehl einlegte: »Diese ›Frau‹, die ich angeblich beleidigt habe, trug ein Anzeichen von totaler religiöser und kultureller Unterwerfung von den Männern und dem Satangott, nämlich ein Kopftuch. Damit hatte sie Deutschland, seine Geschichte, seine Kultur und deshalb mich beleidigt.«
Ähnlich klingende Vorurteile begegnen uns alltäglich: In Spiegel, Focus, bei Maischberger, Frontal 21 oder aus dem Mund von Politikern. Ob die Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) in einem Interview äußert, das Kopftuch werde als eine »politische Symbolik« »in Deutschland wie international«, als ein »Zeichen für eine kulturelle Abgrenzung und politischen Islamismus« gesehen und sei ein »Symbol für die Unterdrückung der Frau« oder ob der Spiegel zum wiederholten Male Titel bringt wie »Mekka Deutschand – die stille Islamisierung Europas«, »Allahs rechtlose Töchter« oder »Haben wir schon die Scharia?« – alle stimmen ein in das Credo von der Unvereinbarkeit »des« Islams mit »dem« Westen oder mit der »christlich-abendländischen Werteordnung«. Jüngstes Beispiel war Thilo Sarrazin, Ex-Finanzsenator Berlins und SPD-Mitglied, der befand, »etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung« in Berlin werden »ökonomisch« nicht »gebraucht«. Denn, so ätzte Sarrazin, eine »große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel«. Und weiter: »Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.«
Nach dem erfolgreichen Referendum gegen Minarette in der Schweiz meldeten sich gleich mehrere deutsche Politiker wie z.B. der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach, die forderten, man müsse die Ängste der Europäer vor einer schleichenden Islamisierung ernst nehmen. Doch in welchem Bezug zur Realität stehen diese Ängste?
Es gibt eine Reihe von Studien auch jüngeren Datums, die mit den tief verankerten Ansichten über angebliche »Wesensarten« von Muslimen aufräumen könnten – wenn sie denn jemand lesen und vor allem massenwirksam verbreiten würde. Eine ist die des sozialwissenschaftlichen Institutes »Sinus Sociovision« aus Heidelberg über Migranten-Milieus in Deutschland. 84 Prozent der befragten Migrantinnen und Migranten mit muslimischem Hintergrund bekennen sich demnach zur Trennung von Staat und Religion. Nur rund 7 Prozent sind einem ländlich-traditionellen religiösen Milieu zuzuschreiben. 98 Prozent der Befragten wählen ihren Ehepartner selber und 83 Prozent leben gerne in Deutschland.
Eine repräsentative und umfassende Untersuchung des US-Meinungsforschungsinstituts Gallup hat Muslime aus über 35 Ländern zu ihren Einstellungen befragt. Für Deutschland artikulierten 40 Prozent der Befragten eine »enge Bindung zur Bundesrepublik«. Aus der gesamten Bevölkerung sagen das lediglich 32 Prozent der Bundesbürger von sich.
Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009 erstellte Studie über »Muslimisches Leben in Deutschland« bescheinigt, dass 80 Prozent der Migranteninnen und Migranten mit muslimischem Hintergrund eigene Einkommensquellen wie Lohn, Gehalt oder Einnahmen aus Selbständigkeit vorweisen können. Weiterhin wird festgestellt, dass lediglich 30 Prozent der Muslima in Deutschland ein Kopftuch tragen und dass diese Zahl mit der zweiten und dritten Generation weiterhin abnimmt – entgegen der Aussage Sarrazins also. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung hat über eben diese Frage im Jahr 2006 eine Studie in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: »Junge Musliminnen mit Kopftuch [sind] aufstiegsorientierter als deutsche Frauen insgesamt«. Die Zustimmung zu bestimmten Aussagen fällt bei ihnen teilweise höher aus als bei der Vergleichsgruppe deutscher Frauen. So nimmt für 94 Prozent der Befragten eine gleichberechtigte Partnerschaft einen hohen Wert ein – die deutschen Interviewpartnerinnen lagen weit darunter (81 Prozent). Auch Demokratie als Wert genießt ein hohes Ansehen (89 Prozent) – entgegen aller Aussagen der Ablehnung der demokratischen Grundordnung durch die angeblichen Fundamentalist(inn)en.
Eine schleichende Islamisierung Europas? Zunächst ist festzuhalten, dass ein Zuzugsstopp für sämtliche Nicht-EU-Staatler besteht. Die meisten Einwanderer, mehr als 60 Prozent, stammen aus Ländern der Europäischen Union. Nach Berlin kamen in den vergangenen zehn Jahren überwiegend Menschen aus dem christlich-katholischen Polen (4000-8000), weiterhin Einwanderer aus Frankreich, den USA und England. Türken und Araber kommen als Flüchtlinge, Studierende, Geschäftsleute oder per Familiennachzug – sie machen jedoch nicht einmal fünf Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Obwohl gängige Vorwürfe gegen Muslime wissenschaftlich nicht haltbar sind, werden sie von den Schäubles und Sarrazins dieser Republik immer wieder kolportiert. So schafft man Feindbilder und auch Hass.
Sarrazin weiß: Mit rassistischen Äußerungen, die an ein Grundbedürfnis nach Sicherheit und Wohlstand der Bürger andocken und suggerieren, dieses werde durch eine Gruppe von »Fremden«, die nicht zum »Wir« gehören (dürfen), bedroht, ist der Stimmenfang leicht gemacht. Schließlich lenkt man so erfolgreich von grundlegenden (hausgemachten) Problemen sozialer und ökonomischer Art ab, und muss sich nicht mit realer Krisenbewältigungspolitik, sondern nur mit Scheindebatten befassen. Dieses Konzept ist in der Vergangenheit allzu leicht aufgegangen: Die Regierung Kohl lenkte Anfang der 1990er, als der Einheitstaumel realen sozialen Sorgen wich, die Aufmerksamkeit auf die angebliche »Asylantenflut«. Was folgte, waren die grausamen Übergriffe von Mölln, Solingen und Rostock – Kohl aber blieb weitere vier Jahre im Amt. Auch sein Parteifreund Roland Koch wurde 1999 zum hessischen Ministerpräsident gewählt, nachdem er mit einer Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft zu Felde gezogen war.
Das Schüren irrationaler Ängste durch rassistische Vorurteile funktioniert auch als vorgeschobene Begründung für Kriege und die Ausbeutung von Rohstoffen. Da die hauptsächlichen Vorkommen der bisher wichtigsten Ressource des modernen Kapitalismus, des Erdöls, in Ländern mit muslimischen Bevölkerungen liegen, bietet sich Islamfeindlichkeit als Legitimation für die Eroberung dieser Länder an.
Kapitalismus beruht auf Konkurrenz und Ausbeutung. Solidarität und Sympathie zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft, Sprache oder Religion können, da sie Sozialabbau und Krieg im Wege stehen, durch die Vorwürfe von Terrorismus, Fanatismus und kultureller Fremdartigkeit geschwächt werden.
Leider funktioniert diese Feindbild-Ideologie nur zu gut. Als müsse das »christliche Abendland« vor seinem Untergang bewahrt werden, wird symbolträchtig gegen Moscheebauten gehetzt. Unbekannte schicken an die Zentrale des Islamrats für die Bundesrepublik in Köln ein Paket mit abgeschnittenen Schweineohren; beschmieren den Eingang einer Moschee im fränkischen Elsenfeld mit Schweineblut. Mitte November wurde in Göttingen eine muslimische Studentin mit Kopftuch auf dem Weg von der Universitätsbibliothek zu ihrem Auto von vier unbekannten Männern rassistisch beschimpft, verprügelt und mit Fußtritten traktiert. Sie solle »endlich deutsch werden« riefen sie ihr zu.
Moscheeschändungen, Drohmails und tätliche Übergriffe sind die Manifestationen eines antimuslimischen Rassismus, der in einem über Jahre hinweg medial konstruierten Feindbild Islam seinen Ursprung findet.
Gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise benötigen die Herrschenden Ablenkungsmanöver, um von den wahren Ursachen für Sozialabbau, Krise und Krieg abzulenken. Probleme werden ethnisiert. Aus Klassenfragen werden »Rassenfragen«.
Davon profitieren vor allem Rechtsextreme und Nationalisten, die ihre rassistischen Ideologien durch die gesellschaftliche Mitte legitimiert sehen. Das vorherrschende Klima ermöglicht den Schulterschluss bürgerlicher Politiker mit Neonazis; so z.B. geschehen bei der Demonstration gegen den Bau einer Moschee im Berliner Stadtteil Pankow-Heinersdorf. Dort marschierten NPD und CDU-Kreisvorsitzender Seite an Seite.
Was das für fatale Folgen haben kann, zeigt das Beispiel Niederlande. Dort melden Verfassungsschützer, dass sich die Zahl der aktiven Neonazis seit 2004 verzehnfacht habe. Besonders unter Jugendlichen würden sie Zulauf gewinnen. Einen Grund sehen Experten in der Ausrichtung der Koalitionsregierung aus Christ- und Sozialdemokraten: »Der Staat hat sich vor allem auf die Muslime konzentriert und nicht so sehr auf den Rechtsextremismus, der dadurch aufblühen konnte«, vermeldet etwa der Leiter der Studiengruppe Jaap van Donselaar.
Das Feindbild Islam ist eine bürgerliche Ideologie. Sie dient zur Absicherung der Identität nach innen, für eine verunsicherte Mittelschicht, die die Folgen der Globalisierung am stärksten zu spüren bekommt. Sie dient aber auch der Sicherung eigener Privilegien bei gleichzeitigem Ausschluss von gesellschaftlichem Reichtum, beruflichem Prestige und kultureller Hegemonie: Die türkische Putzfrau mit Kopftuch stört das deutsche Befinden nicht sonderlich. Worüber heftig debattiert wird, sind ja die jungen, aufstrebenden Akademikerinnen mit Kopftuch – Lehrerinnen, Juristinnen, Angestellte im öffentlichen Dienst. Ihnen wird qua Kopftuchverbot die Berufsausübung untersagt.
»…über unsere Ostgrenzen aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer, Hosen verkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen.«
Dieses Zitat stammt aus dem Jahr 1879. Der Urheber: Professor Heinrich von Treitschke, seinerzeit populärer Historiker und Reichstagsabgeordneter. Gemeint waren Juden, die häufig im Handel tätig waren. Treitschke wandte sich gegen den Willen der Juden, ihre eigene Identität und ihren kulturellen Zusammenhang zu behaupten. Seine polemische Zuspitzung »Die Juden sind unser Unglück« hat gut 50 Jahre später unter den Nazis traurige Berühmtheit erlangt. Die historisch einzigartige Vernichtung der Juden im 20. Jahrhundert hat ihre ideologischen Wurzeln in einem über Jahrhunderte gepflegten Feindbild.
Betrachtet man die Jahrzehnte vor der nationalsozialistischen Diktatur, trifft man auf erschreckende Parallelen zwischen bürgerlichen Debatten damals und heute. Die Themen waren häufig dieselben: die Frage nach Assimilation und Integration, der Vorwurf – damals an die Juden, heute in Richtung Muslime -, sich zu segregieren, also Parallelgesellschaften zu bilden.
Untersucht man Äußerungen, die im Berliner Antisemitismusstreit um 1880 fielen, kommen weitere Parallelen zum Vorschein: Das Judentum wurde als »unvereinbar mit der Moderne« gesehen, religiöse Praktiken wie das Schächten dienten als Beispiel für diese Behauptung. Überhaupt stieß die Religiosität praktizierender Juden auf Missfallen in der nicht-jüdischen deutschen Bevölkerung, die sich doch als aufgeklärt sehen wollte. Man forderte Durchsuchungen von Thora-Schulen und das Halten hebräischer Predigten auf Deutsch.
Obwohl um die Jahrhundertwende nur etwa ein Prozent der Bevölkerung in Deutschland Juden waren, fuhr man weiter fort, die abstrusesten Weltverschwörungstheorien aufrecht zu erhalten. Die heute oft zitierte Gefahr der »Islamisierung Europas« ist durchaus vergleichbar mit Verschwörungstheorien über das »Weltjudentum«.
Die angebliche »Andersartigkeit« der Juden und die »Gefahr«, die von ihnen ausginge, versuchten die Antisemiten mit der Thora zu belegen, so wie man heute stets mit Koranzitaten zur Stelle ist, um die »rückständige« Tradition und das »kriegerische« Wesen des Islam zu belegen – als gäbe es nicht ebenso viele Beispiele in der Bibel.
Qualitative Forschungsarbeiten (siehe Weiterlesen: Benz und Schiffer/Wagner) haben bereits herausgearbeitet, was ich hier nur kurz umreißen kann. Fest steht, dass auch der antisemitische Diskurs ein zutiefst bildungsbürgerlicher war und gerade deshalb eine solche Strahlkraft erreichen konnte. So kulminiert Treitschkes Aufsatz in dem Ausruf: »Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf (…) ertönt es heute wie aus einem Munde: Die Juden sind unser Unglück!«
Warum habe ich diesen Ausflug in die vergleichende Geschichtswissenschaft gemacht? Der tragische Fall Marwa El-Sherbiny muss ein Einzelfall bleiben. Rechte Täter, die vor Morden an unbeteiligten und friedlichen Muslimen nicht zurückschrecken, dürfen sich nicht in ihren Überzeugungen und Motivationen sicher fühlen, legitimiert und akzeptiert durch eine Mehrheitsmeinung, die sogar salonfähig ist.
Dies zu verhindern ist unser aller Aufgabe. Jede und jeder kann im Alltag etwas dazu beitragen. Täglich hören wir Vorurteile und rassistische Sprüche. Diese nicht unbeantwortet zu lassen, könnte eine Alltagsübung werden. Und: Es hat sich gezeigt, dass antimuslimischer Rassismus besonders an den Orten stark ist, wo es kaum Muslime gibt. Die Anzahl der Nein-Stimmen zu den Schweizer Minaretten war in den Kantonen am höchsten, wo es gar keine Moscheen oder muslimische Gemeinden gibt. Deshalb: Ladet die, über die so viel gesprochen wird, ein und redet mit ihnen – anstatt nur über sie. Es liegt an uns, ob wir in einer Welt leben wollen, die von Ausgrenzung, Krieg und Spaltung geprägt ist – oder von Solidarität, Sympathie und Sozialismus.
Zur Autorin:
Marwa Al-Radwany ist Mitglied im SprecherInnenrat der Landesarbeitsgemeinschaft »Migrations- und Flüchtlingspolitik, Emanzipation und Antirassismus« der Berliner LINKEN und Vorsitzende der Initiative »Grenzen-Los!« e.V., wo sie zum Thema antimuslimischer Rassismus arbeitet. Sie studiert in Potsdam.
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