Das Ende der Apartheid hat die soziale Krise Südafrikas nicht gelöst. Peter Dwyer und Leo Zeilig über zwei Jahrzehnte neoliberale Politik und Widerstand
Vom 11. Juni an war Südafrika vier Wochen lang die Hauptstadt des Fußballs. Das Land, an dessen Spitze einst Nelson Mandela stand, hat bereits jetzt die Ehre, das Protestzentrum der Welt zu sein. Der »Lange Marsch zum Frieden« Nelson Mandelas und seines African National Congress (ANC) hat sich mittlerweile zu einem Sprint Richtung Neoliberalismus verwandelt. Während die politische Krise der Apartheidherrschaft mit der Wahl des ANC gelöst wurde, plagt die wirtschaftliche und soziale Krise das Land noch immer.
Die Wahl Nelson Mandelas zum Präsidenten Südafrikas im April 1994 läutete eine Zeit großen Optimismus ein. Ein betrieblicher Vertrauensmann und Mitglied des ANC erinnerte sich später: »Ich dachte, der ANC würde uns endlich Dinge bieten, die uns zuvor verweigert wurden. Es gab riesige Erwartungen, dass alles einfach nur großartig sein würde.« Diese Erwartungen spiegelten das Selbstbewusstsein des organisiertesten und aktivsten Flügels der Befreiungsbewegung wider: der Arbeiterklasse, insbesondere des Gewerkschaftsdachverbands Congress of South African Trade Unions (COSATU). Vor dem Hintergrund ihrer kämpferischen Geschichte glaubten die Menschen, dass »ein besseres Leben für alle« folgen würde, wie eine Parole des ANC lautete. In seiner Wahlkampagne 1994 propagierte die Mandela-Partei einen Wiederaufbau- und Entwicklungsplan, der sowohl unternehmer- als auch arbeiterfreundlich war. Bereits zwei Jahre später ersetzte der ANC, nun an der Regierung, diesen Plan – ohne dies zuvor mit ihren Partnern im sogenannten Dreierbündnis, dem COSATU und der Kommunistischen Partei Südafrikas (SACP), abzustimmen. Die Regierung verfolgte mit der Politik von »Beschäftigungswachstum und Umverteilung« eine neoliberale makroökonomische Strategie. Der ANC setzte nun also darauf, dass der Markt das schreckliche Erbe der Apartheid abmildern würde. Diese Wendung hin zur politischen Mitte führte zu Spannungen und Konflikten zwischen der Regierung und ihren Partnern im Dreierbündnis. Zugleich beförderte sie die Entstehung einer Reihe unabhängiger Bewegungen in den schwarzen Armutsvierteln, den Townships.
Zu Beginn der politischen Transformationsperiode (1994 bis 1999) gab es nur wenige Proteste, die sich überwiegend in der Form von Arbeitskämpfen, also gewerkschaftlichen Streiks und Demonstrationen, äußerten. In dem Maße wie jedoch die neue Wirtschaftspolitik Niederschlag in Regierungsdirektiven fand, breitete sich auch der Protest aus. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entstanden etliche neue unabhängige Kampagnenorganisationen wie die Soweto Elec-tricity Crisis Committees, die gegen die hohen Strompreise gerade für die arme Bevölkerung kämpften, oder das Antiprivatisierungsforum (APF). Gestützt auf die Armen in den Townships (die Arbeitslosen, Rentner und Jugendlichen) erlangten sie durch ihre Kampagnen wie dem illegalen Wiederanschließen an die Stromversorgung einige Berühmtheit. Ähnliche Organisationen entwickelten sich überall im Land. Sie wurden bald als »die sozialen Bewegungen« bekannt – was ihre Opposition und ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Dreierbündnis kennzeichnete.
Die Entstehung dieser Organisationen war auch deshalb wichtig, weil sie Risse innerhalb des ANC aufzeigten und zugleich bewiesen, dass es politisches Leben außerhalb des Bündnisses gab. Doch konnten diese Organisationen ihre Versprechungen nicht erfüllen und lösten sich langsam wieder auf. Ihre größter Erfolg war der beeindruckende Aufmarsch von 200.000 Menschen anlässlich des UN-Gipfels für nachhaltige Entwicklung im September 2002 in Johannesburg. Wenn auch mit unterschiedlichen Mitteln bekämpften sowohl die neuen als auch die etablierten Organisationen die neoliberale Politik. Das zeigte sich, als der COSATU einen eintägigen Streik gegen Arbeitsplatzabbau und Armut ausrief, an dem vier Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter teilnahmen. Dem folgte ein dreitägiger Generalstreik im Juni 2000 und ein Streik gegen Privatisierung im August 2000. Auch in jüngerer Zeit brach eine Welle von Protesten und Streiks in den Townships aus, nur wenige Monate nach der Wiederwahl der ANC-Regierung und des neuen Präsidenten Jacob Zuma im April 2009. Nach 12 Jahren neoliberaler Politik seines Vorgängers Thabo Mbeki galt Zuma vielen, insbesondere seinen Unterstützern im COSATU und der SACP, als Repräsentant eines Neubeginns.
Viele Leute waren überrascht von den Protesten und Streiks, und einige Kommentatoren äußerten sich fassungslos über die politische Wut auf eine Regierung, die erst drei Monate zuvor mit 66 Prozent der Stimmen gewählt worden war. Ein Journalist stellte fest: »Sie wählen nicht nur, sie werfen auch Steine!« Diese letzte Welle von Townshipprotesten fiel zusammen mit einem Ausbruch landesweiter Streiks im Juni 2007. Dem war der längste und größte Streiks des öffentlichen Diensts in der südafrikanischen Geschichte vorausgegangen. Im August brachte ein weiterer Generalstreik die Wirtschaft zum Stillstand, als COSATU seine zwei Millionen Mitglieder zu einem eintägigen Ausstand gegen die steigenden Benzin- und Lebensmittelpreise aufrief.
Zweifellos hat sich Südafrika seit 1994 deutlich verändert. Die Mehrheit der Menschen verfügt nun über politische Freiheiten, von denen sie bis dahin nur träumen konnten. Millionen Menschen haben Obdach gefunden und wurden an die Strom- und Wasserversorgung angeschlossen. Seit Ende der 1990er Jahre ist die Wirtschaft um 6 Prozent gewachsen. Doch nicht jeder hat gleichermaßen davon profitiert. Der Anteil der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, ist zwar von 58 Prozent (2000) auf 48 Prozent (2005) gesunken und viele arme Familien haben nun Anrecht auf Sozialleistungen. Dennoch bleiben Millionen in Armut gefangen. 57 Prozent der Menschen müssen mit weniger als 350 Euro im Jahr auskommen, rund 30 Prozent sind arbeitslos. 2007 lebten etwa 75 Prozent der schwarzen Kinder in Armutshaushalten mit niedrigen Einkommen, bei weißen Kindern traf dies nur bei fünf Prozent zu.
Seit Beginn der Weltwirtschaftskrise wurden eine Million Arbeitsplätze in Südafrika abgebaut, die Arbeitslosigkeit steigt. Daher steht der Ruf nach Jobs und Sozialleistungen im Zentrum der Forderungen streikender Arbeiterinnen und Arbeiter und protestierender Townshipbewohner. In einem Land, in dem jeder zweite 18- bis 25-Jährige arbeitslos ist, verwundert es nicht, dass die Jugend im Mittelpunkt der Proteste steht. Die Wut drückt sich aber auch in den durchschnittlich 50 Morden täglich aus und einem hohen Grad von Kindesmissbrauch, Vergewaltigungen und häuslicher Gewalt.
Der neue Präsident Jacob Zuma hatte versprochen, sich diesen Herausforderungen zu stellen, und damit hohe Erwartungen geweckt. Zuma gilt, anders als Mbeki, als »Mann des Volkes« und als Freund der Arbeiter. Er hat oft darauf hingewiesen, dass er ein Opfer Mbekis und dessen Unterstützer war, weil diese ihm etliche Gerichtsverfahren wegen angeblicher Korruption anhängten. Im September 2008 urteilte ein Gericht, dass Mbeki – oder jemand anderes aus seiner Regierung – sich in die Entscheidung der Bundesstaatsanwaltschaft eingemischt habe, um Jacob Zuma wegen Korruption anzuklagen. Daraufhin wurde Mbeki vom Führungsgremium des ANC »zurückgerufen«, also gefeuert. Das führte zu einer Spaltung im ANC und zur Gründung einer neuen Partei, dem Congress of the People (Volkskongress, COPE) durch Mbeki-Anhänger und unter Führung schwarzer Multimillionäre. Im Januar 2009 sollte Zuma erneut wegen Korruption vor Gericht gestellt werden, die Anklage wurde aber fallengelassen, wodurch für ihn der Weg in das Präsidentenamt frei wurde.
Einige Linke behaupten, Mbeki sei ausschließlich aufgrund interner Konflikte innerhalb des ANC als Präsident ersetzt worden. Damit übersehen sie einen wichtigen Faktor: Die Konflikte im ANC reflektierten die Wut und Frustration über die neoliberale Politik des ANC. Mbekis Schicksal wurde nicht durch interne Parteimanöver besiegelt, sondern durch die Generalstreiks und Proteste der Jahre zuvor. Zuma sprang klugerweise, mit Hilfe von SACP und COSATU, auf diesen Zug auf. Durch Mbekis offensichtliche Schikanen stieg seine Beliebtheit zusätzlich. Damit war eine neue Symbolfigur für Millionen unzufriedener Menschen geschaffen. Zuma war und ist kein Radikaler. Er war stellvertretender Präsident unter Mbeki und sprach sich nie gegen dessen unternehmensfreundliche Politik aus. Auch seine katastrophale Haltung gegenüber Aids tolerierte er: Mbeki leugnete stets einen Zusammenhang zwischen dem HI-Virus und der Immunschwächekrankheit. Erkrankten empfahl er Knoblauch, Olivenöl oder Rote Beete als Heilmittel.
Zumas Unterstützer priesen ihn als Linken. Einer seiner engsten Berater, der ehemalige Gewerkschaftsführer Gwede Mantashe, erklärte gegenüber Investoren, unter Zumas Führung gehe »es nicht um Unternehmer gegen die Armen, es geht darum, ein Umfeld für Geschäfte zu entwickeln und sich gleichzeitig um die Bedürfnisse der Armen zu kümmern.« Vor seiner Wahl sprach Zuma einmal davon, einen »Pakt« zwischen Unternehmen, Regierung und Gewerkschaften zu schließen, um gegen niedrige Löhne, Streiks und Inflation vorzugehen. Dieser Plan hat sich durch die Streiks und Proteste bereits erledigt. Statt sozialen Frieden »gibt es eine hässliche, nicht vorhersehbare Stimmung unter den Armen Südafrikas«, klagt die Financial Times.
Es ist nicht zu übersehen, dass die militanten Streiks und die Proteste in den Townships in den vergangene Jahren den neoliberalen Konsens des Dreierbündnisses zerstört haben. Mit der Wahl Zumas zum Präsidenten hatten viele gehofft, nun werde eine Zeit sozialer Stabilität anbrechen. Nach 15 Jahren ANC-Herrschaft ist Südafrika das Land mit den größten Ungleichheiten auf der Welt – aber auch das weltweite Zentrum von Protesten. Im Mai 2008 wurde eine Regierungsstatistik veröffentlicht, wonach es zwischen 1997 und 2008 8695 gewalttätige Massenproteste und 84.487 friedliche Demonstrationen gab.
Angesichts der Natur des südafrikanischen Kapitalismus ist die Arbeiterklasse die größte und am besten organisierte des afrikanischen Kontinents. Es ist schwer vorstellbar, wie die soziale Bewegungen ohne das soziale Gewicht dieser Klasse den Traum der Befreiung umsetzen können.
Trotz der unglaublichen großen Protestwelle, der Aufstände und Streiks, gibt es immer noch keine progressive Wende von einem »wirtschaftlichen und sozialen Protest« hin zu klarerer politischer Opposition. Das liegt auch daran, dass der COSATU loyal zur Regierung steht. Eine wesentliche Herausforderung für die unabhängige Linke ist der Aufbau strategischer Verbindungen zwischen den Protesten der Townships und der organisierten Arbeiterschaft, und einer Verallgemeinerung der Forderungen landesweit.
Die Leidenschaften, die um die Fußball-Weltmeisterschaft herum entfacht werden, werden ohne Zweifel viele ablenken, da Medien und Regierung auf Einheit drängen, wenn Südafrika jetzt im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit steht. Wenn der Schlusspfiff der WM verklungen ist, wird dies auch das Ende des aufgeblasenen Medienzirkus und der stereotypen Bilder von der »Regenbogennation« sein. Er wird jedoch nicht das Ende Südafrikas als Land mit den größten Ungleichheiten der Welt signalisieren. Es wird weiter Kämpfe geben, um diese zweifelhafte Ehre endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte zu kicken.
Über die Autoren:
Peter Dwyer hat in der Vergangenheit für eine südafrikanische NGO gearbeitet. Derzeit lehrt er Wirtschaftswissenschaften am Ruskin College im britischen Oxford.
Leo Zeilig ist Soziologe. Er hat mehrere Bücher und Artikel über soziale Bewegungen im südlichen Afrika veröffentlicht.