Die afghanische Oppositionelle Malalai Joya kämpft seit Jahren gegen die Besetzung ihres Landes. Ein Gespräch über westliche Heuchelei, Erwartungen an die deutsche Linke – und einen Schuh für Obama.
marx21: Ende Januar hat die Mehrheit des deutschen Bundestags für die einjährige Verlängerung des Bundeswehrmandats in Afghanistan gestimmt. Wie fällt Ihre Bilanz nach bald zehn Jahren Krieg und Besetzung aus?
Malalai Joya: Die Ergebnisse dieses Kriegs sind Massaker, Blutvergießen, Tragödien und Leid. Die Geschichte hat bereits gezeigt, dass niemand Demokratie durch Besetzung bringen kann. Unglücklicherweise ist mein Land im Namen der Frauen- und Menschenrechte und der Demokratie nach dem 11. September besetzt worden. Die Taliban wurden zwar durch Warlords ersetzt, aber sie unterscheiden sich weder praktisch noch ideologisch wesentlich voneinander. Die vergangenen neun Jahre zeigen, dass die USA nur die Köpfe ausgetauscht haben.
Die einfachen Menschen fragen sich heute, wie es möglich sein kann, die Macht der Taliban binnen zwei Tagen zu brechen, sie aber trotz riesiger Kriegsmaschinerie in neun Jahren nicht zu besiegen. Es ist klar, dass die USA und die NATO dies gar nicht beabsichtigen.
Warum setzt die NATO den Krieg in Afghanistan fort, obwohl sich herausgestellt hat, dass sie die ursprünglich propagierten Ziele nicht erreichen wird?
Die NATO agiert in Afghanistan aufgrund ihrer eigenen geostrategischen und politisch-ökonomischen Interessen. Daher ist mit einem Abzug oder gar dem Ende der Einflussnahme in naher Zukunft nicht zu rechnen. Sie wollen einen leichten Zugang zu Öl und anderen Bodenschätzen der zentralasiatischen Republiken und die Transportwege durch Afghanistan kontrollieren. China verfolgt seine eigenen Interessen in Afghanistan, Iran, Russland – alle Nachbarstaaten wirken in Afghanistan mit. Wir befinden uns im geostrategischen Herzen Asiens und sind umzingelt von Feinden.
Wissen Sie, wenn die USA ehrlich mit der afghanischen Bevölkerung umgehen würden und uns selbstständig und unabhängig entscheiden ließen, wäre dieser Krieg schnell zu Ende. Aber die USA zwingen uns, ihre Vorhaben umzusetzen, mit denen sie die Demokratie und die Menschenrechte verhöhnen. Das ist für mich und die afghanische Bevölkerung eine Politik der Kriegsverbrechen. Sie töten Zivilisten, sie benutzen weißen Phosphor, Streubomben, Urangeschosse, die langfristige Folgen für die Gesundheit auch von jungen Menschen haben, und sie bombardieren unsere Hochzeitsfeiern.
In den vergangenen neun Jahren sind sogar die Taliban direkt oder indirekt unterstützt worden. Mittlerweile sind Beweise dafür veröffentlicht worden, dass in Gebieten Waffen und Nahrungsmittel abgeworfen wurden, in denen die Taliban die Macht innehaben. Wenn die NATO-Truppen wirklich aus edlen Gründen wie Sicherheit oder Demokratie in Afghanistan wären, würden sie dann solche Personen oder die Warlords unterstützen?
Aufgrund dieser Erfahrungen bin ich auch der Meinung, dass die Regierungen der NATO-Staaten ihre Truppen und Steuergelder verheizen. Wenn man Afghanen fragt, was sie von den deutschen Truppen halten, fragen sie zurück: »Gibt es hier deutsche Soldaten?« Man kann keinen Unterschied zwischen deutschen oder US-Soldaten wahrnehmen.
Wie sieht der Widerstand aus?
Es gibt unterschiedliche Formen des Widerstands, über die die Medien nie berichten. Es gibt den reaktionären Widerstand der Taliban. Die Presse macht aus dieser Mücke in der Regel einen Elefanten. Darüber hinaus existiert ein Widerstand der Jugend, der afghanischen Bevölkerung und der demokratischen Parteien. Sie befinden sich zum Teil im Untergrund, aber agieren dennoch gegen die Besatzung, gegen die Warlords und auch gegen die Führung der Taliban. Dieser Widerstand wird totgeschwiegen. Die afghanischen Bewegungen und Parteien organisieren Kundgebungen und Demonstrationen. Die Menschen treffen sich in der Öffentlichkeit, um gemeinsam die Bilder der Warlords mit Schmutz zu bewerfen.
Und obwohl ich Waffen ablehne, da sie dazu beigetragen haben, unser Land zu zerstören, muss ich aus persönlicher Erfahrung sagen, dass die Waffen meiner Bodyguards mich nun schützen. So geht es vielen im Land. Wenn die NATO das Land weiter besetzt hält, wird ihr, wie anderen zuvor, auch militärisch Widerstand entgegengebracht und ihr eine militärische Lektion erteilt werden. Man sollte aber nicht die Augen davor verschließen, dass viele Menschen kriegsmüde sind. Einige Generationen haben nie etwas anderes erlebt. Sie wollen, dass der Krieg ein Ende hat.
Die NATO hat im November ihre neue Strategie beschlossen. Sie will sukzessive afghanische Polizei- und Militäreinheiten ausbilden und bewaffnen. Befürchten Sie, dass es in absehbarer Zeit zu einem offenen Bürgerkrieg kommen wird?
Ich denke, es gibt viele Ähnlichkeiten mit dem Vietnamkrieg. Auch diesen sogenannten gerechten Krieg konnten die USA nicht gewinnen – ebenso wenig wie sie den Krieg in Afghanistan werden gewinnen können. Daher suchen sie nach einer anderen Lösung. Sie wollten den Vietnamkrieg vietnamisieren. Und dasselbe tun sie heute. Sie afghanisieren den Krieg in Afghanistan: Die neue afghanische Polizei und die Armee werden als Kanonenfutter in den Krieg geschickt, damit nicht mehr so viele Soldaten aus dem Westen ihr Leben verlieren.
Gleichzeitig entwickeln die USA die militärische und die Geheimdienstinfrastruktur im Land. Sie bauen beispielsweise Militärstützpunkte, von denen aus sie weiter in der Region operieren können. Auch die US-Botschaft in Kabul gleicht eher einer »Stadt in einer Stadt«, wie Noam Chomsky sagte, als einer diplomatischen Vertretung. Dasselbe gilt übrigens auch für die US-Botschaft in Bagdad.
Ein weiteres Problem beim Aufbau der afghanischen Polizei – bei uns wird sie die Dollar-Polizei genannt – ist, dass viele arbeitslose Menschen, die bislang keiner Miliz oder bewaffneten Gruppe angehört haben, infolge ihrer Armut keine Alternative zum Dienst an der Waffe sehen. Die afghanische Armee untersteht außerdem einem Mann, der zu den alten Warlords zählt. Aber das Problem ist nicht die Armee, ihre Finanzierung oder der ein oder andere Warlord. Wenn die USA es wollen, werden sie mit ihnen umspringen wie mit Saddam. Falls sie nicht gehorchen, werden sie fallen gelassen.
Ich möchte betonen, dass sich für uns die Politik der USA nach dem Regierungswechsel nicht geändert hat. Obama wird von uns »die große Enttäuschung« genannt. Er hat noch mehr Truppen geschickt, den Konflikt angeheizt und den Krieg ausgeweitet. Er hat die Kriege im Irak und in Afghanistan fortgeführt und Kriege nach Pakistan und in den Jemen gebracht. Er unterstützt das kriminelle Regime in Israel und das, was es in Gaza getan hat und weiterhin tut. In einigen Punkten ist die Politik Obamas für uns noch gefährlicher als die Politik seines Vorgängers George Bush. Deswegen hat Obama in Afghanistan den Spitznamen »wildgewordener gefährlicher Bush« bekommen. Einige bezeichnen ihn auch schlicht als einen Kriegstreiber.
Ich hoffe und ich bin mir sicher, dass jemand Schuhe auf Obama werfen wird, wie vor einigen Jahren jemand in Bagdad einen Schuh auf George Bush geworfen hat, falls die jetzige Regierung ihre Politik nicht ändert. Und ich hoffe, dass dieser Schuh aus Afghanistan kommt.
Was denken Sie über die Entscheidung des deutschen Bundestags, den Kriegseinsatz der Bundeswehr um ein Jahr zu verlängern?
Ich habe an der Sitzung im Bundestag als Besucherin teilgenommen und gesehen, dass die meisten deutschen Abgeordneten den Krieg befürworten. Die Entscheidung hat mir einmal mehr die Doppelmoral der Kriegstreiber unter den westlichen Politikern und Regierungen deutlich gemacht. Auf der einen Seite verkünden sie, dass sie ihre Truppen ab 2011 oder 2014 zurückziehen wollen, und auf der anderen Seite schickt die NATO weitere 1400 Soldaten nach Afghanistan. Leider wird über diese Heuchelei kaum in den westlichen Medien berichtet. Es ist so, als ob man den Menschen die ganze Zeit einhämmert, ein weißer Gegenstand sei schwarz, schwarz, schwarz, bis sie irgendwann unsicher werden und zu glauben beginnen, dass er wirklich schwarz ist.
Dieser Krieg wird nicht nur militärisch geführt. Es ist auch ein Propagandakrieg. Jemand sollte die Politiker und die Pressevertreter in Deutschland einmal fragen, welches Ziel in Afghanistan im nächsten Jahr oder in den folgenden vier Jahren erreicht werden soll, das nicht bereits in den letzten neun Jahren hätte realisiert werden können. Diese neun Kriegsjahre haben nichts bewirkt, außer dass die Situation für uns noch gefährlicher geworden ist. Die Politik der NATO ist gescheitert. Sie war von Beginn an doppelzüngig. Warum belässt die deutsche Regierung zum Beispiel den Gouverneur von Kundus im Amt, obwohl er ein Verbrecher ist? Es scheint, dass auch sie nicht ehrlich ist – weder zu der afghanischen noch zur deutschen Bevölkerung oder ihren Truppen.
Welche Afghanistanpolitik sollte die Bundesregierung Deutschlands verfolgen? Was kann die Linke tun?
Ich sehe große Unterschiede zwischen den Regierungen, den Politikern, den demokratischen Kräften und der Friedensbewegung. Die ehrlichen Politiker und Aktivisten dürfen nicht verstummen. Das Schweigen der guten Menschen ist schon immer schlimmer gewesen als die Taten der schlechten. Die Deutschen müssen die Doppelmoral, die falsche Politik ihrer Regierung entlarven. Sie müssen die Warlords und Kriegstreiber unter den Deutschen bloßstellen und ihre Stimme gegen die Kriegspolitik erheben.
Natürlich wollen wir auch Schulen oder Krankenhäuser bauen. Aber die Besatzung, wenn überhaupt, erschöpft sich nicht darin. Wir wollen unsere Freiheit. Ohne unsere Freiheit haben wir nichts. Die Geschichte hat meines Erachtens nach gezeigt, dass eine Nation sich nur selbst befreien kann.
Gerade weil die Interessen an Afghanistan so ausgeprägt sind, benötigen wir auch internationale Solidarität, um diesen langen, schmutzigen und niederträchtigen Krieg durchzustehen. Wir brauchen Unterstützung in der Bildungsarbeit – eine Kernvoraussetzung für Emanzipation. Die linken Intellektuellen und Parteien benötigen wir dafür besonders, weil sie säkulare Analysen und Ziele haben. Sie müssen die demokratischen, linken und intellektuellen Kräfte in Afghanistan unterstützen.
Sie können zudem viel in Deutschland tun. Unterstützen Sie die Friedens- und Antikriegsbewegung in der Bundesrepublik, verschaffen Sie Ihrer Stimme Gehör, bekämpfen Sie die Kriegspolitik Ihrer Regierung. Sprechen Sie mit den Vertretern der demokratischen Parteien Afghanistans, laden Sie sie nach Deutschland ein und diskutieren Sie mit ihnen. Sie haben so viele Möglichkeiten, etwas gegen diese verheerende Besetzung und den Krieg zu unternehmen.
Was könnten die ersten Schritte zum Frieden in Afghanistan sein?
Zuerst einmal müssen die Kriegsverbrecher, die Herren dieser Kriege, vor ein Gericht gestellt werden. Für diese Forderung setzen viele Afghanen ihr Leben aufs Spiel. Und natürlich müssen Besetzung und Krieg beendet werden. Ohne ein Ende der Besetzung werden in Afghanistan die Menschenrechte nicht eingehalten werden können. Frieden wird niemals durch Krieg geschaffen.
(Die Fragen stellte Christian Stache)
Zur Person:
Malalai Joya ist die jüngste Parlamentarierin Afghanistans. Aufgrund ihrer Kritik an der Besatzung, dem Karzai-Regime und den Warlords muss sie mittlerweile im Untergrund leben.
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