Die Tarifrunde im Einzelhandel steht an und die Arbeitgeber blasen zum Generalangriff. Unsere Gesprächspartnerin Christina Frank berichtet, wie sich ver.di auf die Auseinandersetzung vorbereitet – in einer Branche, die nicht einfach zu organisieren ist
marx21.de: Christina, eigentlich hatte sich ver.di im Einzelhandel auf eine Lohnrunde eingestellt. Nun hat der Handelsverband Deutschland alle Manteltarifverträge gekündigt. Kannst du sagen, was das bedeutet?
Christina Frank: Das ist nichts anderes als eine Kampfansage der Arbeitgeber an die Beschäftigten. Ganz offensichtlich handelt es sich um einen feindseligen Akt, wenn man einem Tarifpartner so das Messer auf die Brust setzt. Die offizielle Begründung der Arbeitgeber lautet, dass die Tarifverträge teilweise vergangene Strukturen mitregeln, zum Beispiel die Bezahlung eines Fahrstuhlführers im Warenhaus. Diese alten Zöpfe gehörten jetzt abgeschnitten. Doch das halte ich für ein sehr durchsichtiges Ablenkungsmanöver: Wenn man sich einig wäre, könnte man solche Fragen nebenbei in einer ganz normalen Verhandlungsrunde lösen. Hintergründig geht es aber wohl um etwas ganz anderes: Ich glaube, die Arbeitgeber halten die Zeit reif für einen weiteren Schritt in der Umverteilungspolitik. Sie wollen die Arbeitszeit verlängern, Sonderzahlungen und Zuschläge abschaffen und die Eingruppierung absenken. Dabei verdienen die Beschäftigten im Einzelhandel im Vergleich zu anderen Branchen noch immer sehr wenig.
Wie haben die Beschäftigten auf diesen Vorstoß reagiert?
Bei den Betriebsversammlungen zeigte sich: Viele Beschäftigte sind entsetzt und können diese Politik nicht verstehen. Die meisten lieben ihre Arbeit und den Umgang mit Menschen am Arbeitsplatz. Sie bringen deshalb oft mehr Leistung und Engagement ein als sie müssten. Diese Kündigung nehmen sie daher als eine vollkommen ungerechtfertigte Ohrfeige wahr. Manche glauben, dass die Kündigung der Manteltarifverträge quasi ein Irrtum war. Sie vertrauen in den Willen ihrer Vorgesetzten, weiterhin die Tarifverträge einzuhalten. Im Prinzip ist das eine sehr irrationale Reaktion, die zeigt, wie stark sich viele Beschäftigte von dieser Kampfansage bedroht fühlen.
Welche Firmen stehen denn hinter dem Handelsverband Deutschland?
Nach eigenen Angaben vertritt er rund 400.000 selbstständige Unternehmen mit knapp drei Millionen Beschäftigten und einem Jahresumsatz von über 420 Milliarden Euro. Damit ist er die Spitzenorganisation des deutschen Einzelhandels. Der Handelsverband ist überwiegend mittelständisch geprägt, denn 98 Prozent der Unternehmen beschäftigen weniger als 50 Mitarbeiter und erzielen nicht mehr als zehn Millionen Euro Umsatz im Jahr. Im Verband haben vor allem die wenigen, aber umsatzstarken Branchengrößen das Sagen. Führende Köpfe stammen aus der Metro-Gruppe, also von Real und Kaufhof. Aber auch die Lebensmittelriesen Rewe und Edeka spielen eine große Rolle.
Du hast beschrieben, was jetzt droht. Aber hat sich nicht schon in den letzten Jahren die Situation im Einzelhandel verschlechtert?
Ja, das stimmt. Der knallharte Verdrängungswettbewerb der Branche wird auf Kosten der überwiegend weiblichen Beschäftigten ausgetragen, etwa über die Löhne und die Arbeitsbedingungen. Viele Arbeitgeber setzen auf prekäre Arbeitsverhältnisse und niedrige Löhne. Das Teilzeit- und Befristungsgesetz hat das früher definierte Normalarbeitsverhältnis vollkommen durchlöchert. Es ist das einzige Gesetz in Deutschland, bei dem die Arbeitgeber keinerlei Sanktionen zu befürchten haben, wenn sie sich nicht daran halten. Angeblich benötigt der Handel ja immer gleichzeitig »viele Hände«, also viele Arbeitsverträge mit wenig Stunden und angeblich »voll-flexible« Mitarbeiter. Beides zusammen führt dazu, dass sich eine Art von »flexibler« Abrufarbeit entwickelt. Die Beschäftigten bekommen nur wenige Stunden in der Woche oder im Monat garantiert, müssen sich aber immer für einen möglichen Arbeitseinsatz bereithalten.
Wer von seinem Einkommen leben möchte, muss sich also jeden Tag aufs Neue bewähren und jeder Stunde hinterherrennen, die ihm angeboten wird. Manche Arbeitsgerichte bezeichnen dies als »institutionellen Rechtsmissbrauch«. Befristete Kettenverträge tun ein Übriges: Die Kolleginnen und Kollegen sind ständig in der Probezeit und lassen so ziemlich alles mit sich machen. Unbezahlte Vor- und Nacharbeit sind in vielen Filialketten Standard. Privates und Dienstliches wird ständig vermischt. Das Fehlen dieser Grenze macht vorrangig psychisch krank, Burnout ist im Handel weit verbreitet.
Junge Leute können sich kein eigenes Leben aufbauen und keine Familie gründen, viele von ihnen sind schnell hoch verschuldet. Es ist eine besonders schwierige Aufgabe, solche prekär Beschäftigten zu organisieren und sie zu ermutigen, sich für die Verbesserung ihrer eigenen Situation einzusetzen. Für sie steht immer das Wenige, das sie haben, auf dem Spiel.
Wie sollte ver.di deiner Meinung nach auf den Generalangriff der Arbeitgeber reagieren?
In dieser Tarifrunde können wir nicht so handeln wie immer, also im eher ritualisierten Ablauf von Arbeitskämpfen. Es ist nicht die Zeit für »Business as usual«. Einer besonderen Kampfansage muss auch eine besondere Reaktion entgegengebracht werden. In Baden-Württemberg ist die erste Verhandlungsrunde für den 2. Mai – also relativ spät – angesetzt. Die Arbeitgeber versuchen offensichtlich, auf Zeit zu spielen. In Stuttgart diskutieren wir, bereits vor dem ersten Gespräch öffentlich ein Zeichen zu setzen. Wir möchten durch Aktionen zeigen, wie wütend wir über diese Kampfansage sind. Die Betriebsversammlungen sind sehr gut besucht, es gibt viele neue Mitglieder. Mit unserer Forderung – ein Euro mehr für jeden Beschäftigten pro Stunde – treten wir der Umverteilungsabsicht bereits entgegen. Parallel wird eine Tarifrunde in der Metallbranche anstehen. Es gibt Angebote von aktiven Vertrauensleuten, gemeinsam aufzutreten. Wir stellen uns auf eine lange Tarifauseinandersetzung ein.
Wie mobilisiert ihr jetzt die Beschäftigten?
Im Einzelhandel mit vielen einzelnen Filialen und oftmals kleinteiligen Strukturen muss man sich sehr viel besser auf Arbeitskämpfe vorbereiten als in anderen Branchen. Zurzeit habe ich drei bis vier Versammlungen täglich. Zudem besuche ich alle »meine« aktiven Betriebsräte, um Handlungsmöglichkeiten auszuloten und die Betriebe streikfähig zu machen. Im Bezirk Stuttgart gehört es in vielen Filialen inzwischen zum guten Ton, sich an Streiks zu beteiligen. Insbesondere Frauen mit Migrationshintergrund sind stolze Vertreterinnen in diesen Auseinandersetzungen. Viele berichten uns, dass sie sich nach einem Streik selbstbewusster fühlen und Mut für künftige betriebliche Konflikte gesammelt haben. Streikbewegungen im Einzelhandel waren in der Vergangenheit für die Akteure politische Bildung und ein umfassender Emanzipationsprozess.
Es hat sich bei uns in Stuttgart eine ganz eigene Streikkultur entwickelt. Die Streikenden gestalten die Kämpfe in einer sehr kreativen Form und Atmosphäre. Sie entwickeln dabei eigene Lieder, Musik, Tänze und Performances, die sie auf der Königstraße aufführen. Wichtig sind auch die täglichen Streikversammlungen, bei denen Erfahrungen ausgetauscht und Strategien diskutiert werden. Die Beschäftigten entscheiden immer gemeinsam, basisdemokratisch darüber, wie es am nächsten oder am übernächsten Tag weitergeht. Es wäre schön, wenn sich Kolleginnen und Kollegen aus anderen Branchen dadurch solidarisieren, dass sie in einem Geschäft nicht einkaufen, das gerade bestreikt wird.
Der Einzelhandel ist nicht gerade für einen hohen Organisationsgrad bekannt. In Baden-Württemberg ist oft von »Minderheitenstreiks« die Rede. Was ist damit gemeint, welche Erfahrungen habt ihr damit gemacht?
Durch die prekären und flexiblen Strukturen ist die durchschnittliche Verweildauer der Beschäftigten in den einzelnen Filialen relativ kurz. Aus diesem Grund gibt es ein ständiges Kommen und Gehen in der Belegschaft, was natürlich einen linearen Aufbau von Kampftruppen in den Betrieben behindert. Außerdem führen die vielen flexiblen Zwangsteilzeitverträge auf geringer Stundenbasis sowie die steigende Zahl von Minijobbern und Aushilfen dazu, dass zu Beginn eines jeden Streiktags andere Beschäftigte erscheinen. Oft raten wir denjenigen mit befristeten Arbeitsverhältnissen von einer Beteiligung am Streik ab, um keine Nichtverlängerung des Arbeitsverhältnisses zu provozieren.
Es ist also nicht so einfach, die Arbeitgeber durch Streiks genauso zu treffen wie das in anderen Branchen möglich ist, etwa in der Metallindustrie, bei der Bahn oder beim Sicherheitspersonal der Flughäfen. Wir gleichen diese Schwäche häufig durch überraschende Streikstrategien aus. Zum Beispiel trauen sich immer mehr Belegschaften zu, aus dem laufenden Betrieb in den Streik zu treten, also mitten am Tag die Filiale inklusive Kundschaft sich selbst zu überlassen. Wir Gewerkschaftssekretäre müssen im Handel mehr als anderswo in die direkte Diskussion mit den Mitgliedern. Doch das ist erfolgreich, in den letzten Jahren konnten wir eine steigende Zahl von Mitgliedern verzeichnen. Aber wir müssen uns ihr Vertrauen hart erarbeiten.
Bei ver.di in Niedersachsen gibt es Ansätze, die Tarifrunde im Einzelhandel zu einem Anliegen der gesamten Gewerkschaft zu machen. Dort werden Aktionsbeiräte gegründet und andere DGB-Gewerkschaften angesprochen. Wie schätzt du diese Herangehensweise ein?
Ich begrüße solche Ansätze, sie decken sich mit den solidarischen Grundsätzen unserer Streikbewegung. Gerade weil wir es diesmal mit einer ganz ungewöhnlich harten Kampfansage zu tun haben, ist es notwendig, sich mit anderen Fachbereichen zu verknüpfen. Bereits in der letzten großen Auseinandersetzung im Einzelhandel in den Jahren 2007 und 2008 haben wir zusammen mit den Erzieherinnen gekämpft und große öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Wir glauben immer noch daran, dass es in nicht allzu ferner Zukunft mehr politisch motivierte Streikbewegungen geben kann, die darauf abzielen, nicht nur Tarife auszuloten, sondern insgesamt die Machtverhältnisse in einer Branche in Bewegung zu bringen und sie zu Gunsten der Beschäftigten zu beeinflussen.
Kunden und die Öffentlichkeit waren in der Vergangenheit oft wichtig für den Erfolg von betrieblichen Aktionen. Wie kann das genutzt werden?
Ich bin froh, dass wir in Stuttgart sehr gute Pressekontakte haben und es uns immer wieder möglich war, durch Kundenflugblätter, Kartenaktionen und Kampagnen mit vielen Menschen aus der Stadt in eine direkte Diskussion zu treten. Wenn die öffentliche Meinung hinter uns steht, wird es für die Arbeitgeber sehr schwer, ihre Ziele zu erreichen. Durch Streikaktionen müssen wir daher immer auch die Sympathie und das Verständnis der Kunden gewinnen, denn das erleichtert unsere Arbeit enorm.
Hast du spezielle Erwartungen an DIE LINKE?
Natürlich. Sie ist die einzige politische Kraft, die sich klar und kompromisslos auf der Seite der Beschäftigten positioniert. Hier geht es nicht um Wahltaktik, sondern darum, die gesellschaftlichen Bedingungen für die Beschäftigten in den verschiedenen Branchen grundlegend zu verbessern. Man kann die Gesellschaft nicht allein mit dem Tarifgeschäft verändern, es müssen Gesetze her, die mehr Lebensqualität garantieren. Dazu benötigen wir eine politische Kraft, die dies ständig einfordert. Der Handel und die Arbeitswelt insgesamt sind »verrückt« geworden. Durch die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und die Ansammlung grenzenloser Vermögen in den Händen einer kleinen Gruppe entsteht eine gefährliche Machtposition für diese Gruppe, die ich als Gefahr für unsere Demokratie ansehe. Es ist für mich inzwischen ein grundlegendes Bedürfnis, mich in DIE LINKE einzubringen, um einen Ort zu haben, wo wir gemeinsam mit den Beschäftigten, die sich an uns orientieren, ein Stück mehr Lebensqualität und Normalität zurückerobern.
(Das Interview führte Olaf Klenke.)
Zur Person:
Christina Frank ist Gewerkschaftssekretärin für Einzelhandel bei ver.di Stuttgart.
Mehr auf marx21.de:
- Vom Organizing zum Amazon-Streik: Am 22. April beginnt die Urabstimmung am größten deutschen Standort Bad Hersfeld mit 3000 Beschäftigten. Ver.di-Sekretär Heiner Reimann erklärt, wie bei Amazon aus einer gewerkschaftsfreien Zone ein Streikbetrieb wurde
- Lokführer kämpfen um Streikrecht: Die ägyptische Armee versucht, durch Einberufungen von Aktivisten einen Streik der Lokführer zu brechen. marx21.de dokumentiert eine Solidaritätserklärung linker Gruppen und Gewerkschaften
- Erfolg mit vielen Abstrichen: Zum ersten mal seit vielen Jahren konnte in der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes ein – wenn auch bescheidener – Zuwachs der Reallöhne erkämpft werden. Warum die Ergebnisse trotzdem kein großer Erfolg sind, erklärt Heinz Willemsen