Nach dem Sturz Mubaraks gehen die Kämpfe weiter. In den Textilfabriken von Mahalla haben Arbeiter für 25 Prozent mehr Lohn und gleiche Löhne für Ungelernte gekämpft. Im dritten Teil seines Internettagesbuchs berichtet Philip Bethge von seinem Besuch in der Stadt nördlich von Kairo
So, 20.02.11: Den Sonntag haben wir in Mahalla verbracht, wo – wie die dortigen Aktivistinnen und Aktivisten uns stolz erzählen – der Aufstand gegen Mubarak angefangen hat. 2006 gab es dort einen wichtigen Streik in den Textilfabriken, die die junge Bewegung inspiriert hat. Zwei Jahre später, am 6. April 2008, haben die Textilarbeiterinnen wieder gekämpft, weil sie zwei Monate keinen Lohn erhalten hatten. 500.000 Menschen demonstrierten damals aus Solidarität, praktisch alle Einwohner der Stadt. Leider fehlte im Rest des Landes damals das Selbstbewusstsein, um mitzudemonstrieren, aber nach diesem 6. April benannte sich dann eine wichtige Oppositionsgruppe. Am Tag vor unserem Besuch hatten 14.000 Textilarbeiter gerade einen Streik beendet, nachdem sie eine Lohnerhöhung von 25 Prozent, gleichen Lohn für ungelernte Arbeiter und anderen Forderungen durchgesetzt hatten.
Unsere Gastgeber heute sind Unterstützer und Sympathisanten der Demokratischen Front in Mahalla, Liberale (im ägyptischen Sinn), die die Kandidatur von Mohammed El-Baradei für das Amt des Präsidenten unterstützen. Fast alle sind frisch politisiert, jung und stammen aus der Mittelschicht. Vier von den fünf sind Ärztinnen und Ärzte. Inwiefern aber ein Arzt, der 20 Euro im Monat verdient, tatsächlich Teil der Mittelschicht ist, kann man diskutieren.
Wie wichtig ist die Muslimbruderschaft?
Sie haben keine einheitliche Meinung und diskutieren unter sich, inwiefern die religiöse Frage momentan wichtig ist. Zwei warnen, dass die Muslimbruderschaft versucht, religiöse Spaltungen zu benutzen, um an die Macht zu kommen. Zwei andere sagen, dass diese Gefahr nicht so ernst zu nehmen ist. Interessant ist, dass auf beiden Seiten jeweils eine Muslimin und ein Christ stehen. Trotz ihrer Angst vor einer Mischung von Religion und Politik sind alle gläubig – eine trägt auch Kopftuch, aber sie flüstert mir später zu, sie trage es es nur zum Schutz. Alle kämpfen für ein säkularen Staat, in dem Religion Privatsache ist.
Vom Büro der Demokratischen Front gehen wir zu den »Labourers of Egypt« (Ägyptische Arbeiter). Diese Organisation von Ehrenamtlichen hilft den Arbeiterinnen in Mahalla, Widerstand zu leisten. Der Koordinator für Mahalla Gamal Abu Ala sagt, dass alle Gewerkschaften von dem alten Staat abhängig waren, und dass es wichtig sei, neue Organisationen zu gründen. In diesem Sinn stellt er Saeed Habib vor, der angeblich von diesem Büro aus die letzten Streiks organisiert hat.
Streiken und demonstrieren
Wir sind nicht in der Lage, diese Aussagen zu prüfen. Es ist aber angemessen zu sagen, dass die Meinung der »Labourers of Egypt« nicht weit von den Ideen in den Köpfen vieler streikender Arbeiterinnen entfernt ist. Deswegen ist es spannend zu hören, was sie zu sagen haben.
Sie sagen, es sei gut, dass Arbeiter unter der Woche streiken, und auch gut, dass sie am Freitag demonstrieren. Beides seien Teile desselben Kampfes. Aber die Forderungen der Streikenden sollen ökonomisch bleiben – für höhere Löhne, Gleichheit zwischen gelernten und ungelernten Arbeiter und so weiter. In diesem Sinn sei es ganz in Ordnung, dass die Streikenden nur einige ihrer Forderungen gewonnen haben, und dass der Streik beendet ist. Sie wollen nicht zu gierig erscheinen.
Die Idee, dass Arbeiter sich wegen gewerkschaftlicher Forderungen organisieren sollen, während die politische Arbeit getrennt davon stattfindet, kenne ich unter dem Namen Syndikalismus. Wenn ein System auf der Kippe steht, wie im heutigen Ägypten, zeigt der Syndikalismus Schwächen. Geht es jetzt um bessere Bedingungen innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems, oder soll dieses System als Ganzes abgeschafft werden? Die Abwesenheit von politischen Forderungen bedeutet, dass, in Zeiten wie jetzt, auch ihre ökonomischen Forderungen nur halbwegs umgesetzt werden.
Kritik und Respekt
Von Gewerkschaftsaktivisten zu den so genannten religiösen Fanatikern. Heute treffen die jungen Aktivisten zum ersten Mal Mahmad Bara, den lokalen Anführer der Muslimbruderschaft, und sie sind skeptisch. Nicht nur, weil sie glauben, dass die Bruderschaft ihr Ziel eines säkularen Staats nicht teilt, sondern auch aus Angst, dass er auf der Welle der Revolution schwimmt, um an die Macht zu kommen. Nichts desto trotz haben sie großen Respekt vor der Disziplin und Organisation der Bruderschaft und nehmen sie als relevante Oppositionskraft wahr.
Bara erzählt, dass die Bruderschaft die Revolution voll unterstützt und ihre offizielle Unterstützung am Anfang der Proteste nur deswegen nicht erklärt hat, weil sie verhindern wollte, dass die Revolution mit der Bruderschaft identifiziert wird. Die Bruderschaft stellt keinen Präsidentschaftskandidaten, und nur einen angemessenen Anteil von Kandidaten für Abgeordnetenmandate.
Weiter meint er, die Erfolge der Revolution müssten verteidigt werden, und deswegen seien die Streiks letzte Woche konterrevolutionär gewesen – höchstwahrscheinlich von Mubarak-Anhängern organisiert. Meiner Genossin Steffi und mir kommen diese Argumente spanisch vor: Spätestens ab 1937 argumentierte die stalinistische Kommunistische Partei in Spanien gegen Streiks zur Verteidigung der Revolution, um die bisherigen Erfolge zu behalten. Das Ergebnis war, dass viele spanische Arbeiter sich wenig mit den revolutionären Kräften verbunden fühlten und Francos Faschisten letztendlich den Bürgerkrieg gewannen.
Konservative Interessen
Zuletzt fragen die jungen Aktivistinnen und Aktivisten Bara nach Frauenrechten. Erst antwortet er, dass der Koran fordert, dass Tiere respektiert werden sollen – warum nicht auch Frauen? Die Frage, ob die Bruderschaft mit einem christlichen oder weiblichen Präsidenten leben könnte, verneint er, meint aber, dass die Frage abstrakt sei, weil die Christen eine Minderheit seien.
Nach dem Treffen geht die Diskussion weiter. Die Männer und Frauen sind überzeugter denn je, dass Bara und die Führung der Bruderschaft konservative Interessen vertreten. Sie erkennen aber an, dass sie nicht ignoriert werden kann. Das Basis der Bruderschaft, die nicht unbedingt alle Ideen teilt, muss durch politische Auseinandersetzungen gewonnen werden. Die Bruderschaft wird nicht hauptsächlich wegen der Konfession unterstützt, sondern weil sie eine kohärente Weltanschauung in Opposition zu Mubarak anbieten konnte und kann.
Wurzeln des Syndikalismus
Zuletzt gehen wir zur Bahnhof, um mit Mohammed Mourad zu sprechen. Mohammed ist Bahnarbeiter und lokaler Abgeordneter der »Party of Labour« (Arbeiterpartei). Wegen des Parteienverbots war ägyptischen Organisationen es unmöglich, Internationalen beizutreten. Außer Mubaraks Nationalpartei, die als Mitglied der Sozialistischen Internationale immer noch Schwesterpartei der SPD ist. Das heißt, es ist schwierig abzuschätzen, genau wo die Arbeiterpartei steht, aber wir können davon ausgehen, dass sie irgendwelche sozialdemokratischen Ideen hat.
Deswegen ist es interessant zu hören, dass Mourad in einem Punkt Mahmad Bara von der Bruderschaft zustimmt: Die letzten Streiks in Mahalla seien konterrevolutionär gewesen und hätten nur von Mubarak-Anhängern organisiert sein können. Dass eine relativ kleinbürgerliche Organisation wie die Bruderschaft so argumentieren würde, hat uns nicht sehr überrascht, aber auch Sozialdemokraten?
So ist es aber einfacher zu verstehen, wie sich syndikalistische Ideen unter den kämpfenden Arbeitern entwickeln können. Wenn die angeblich progressiven Politiker nicht bereit sind, ihren Widerstand zu unterstützen, dann wendet man sich vielleicht lieber von der Politik ab und kämpft am Arbeitsplatz. Eine zusammenhängende Perspektive, dass nur politische Änderungen dauerhaftige ökonomische Verbesserungen ermöglichen können, bieten wenige ägyptische Organisationen oder Einzelpersonen an.
Umverteilung in Ägypten
Beim ägyptischen Abendessen klingen die Diskussionen des ganzen Tages nach. Mario, unterbezahlter Arzt, der in den letzten Wochen angefangen hat, über politische Alternativen nachzudenken, fragt mich, wie das neue Ägypten aussehen soll. Ich antworte ihm, was mir Walid, der sozialdemokratische Journalist, erzählt hat: Das Problem in Ägypten ist nicht das Geld. Ägypten ist ein reiches Land. Das Problem ist, wer das Geld hat und wer nicht.
Wenn man Walids Argument zu einem logischen Schluss bringt, wird ein reiner Regierungswechsel Ägyptens Probleme nicht lösen. Was nötig wäre, ist eine Umverteilung, die aber wiederum die Machtfrage stellt. Diejenigen, die eine alternative Gesellschaft erfolgreich aufbauen können, sind die Arbeiterinnen und Arbeiter wie in Mahalla, die einerseits die Bruderschaft und die Sozialdemokraten ablehnen und die andererseits von syndikalistischen Ideen beeinflusst sind und Distanz zur Politik halten. Eine Organisation, die diese Lücke füllen kann, ist absolut notwendig.
Mario findet diese rohe marxistischen Ideen plausibel. Er will ein Link zu meinem Blog (kommt demnächst auch auf Englisch) und wir tauschen E-Mail- und Facebook-Adressen. Er und seine Genossen haben so viel für die ägyptische Revolution getan. Aber um die Erfolge zu sichern und die Revolution zu einem erfolgreichen Ende zu bringen, wird noch mehr zu tun sein.
Zur Person:
Philip Bethge wird ab dem 27. Februar wieder in Deutschland sein und steht für Berichte und Veranstaltungen zur Verfügung. Wer ihn auch einladen möchte, kann per E-Mail an mit ihm in Kontakt treten
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