Die Beschäftigten des Nahverkehrs in Baden-Württemberg haben einen neuen Tarifvertrag erkämpft. Wolfgang Hoepfner war dabei. Im Gespräch mit marx21.de berichtet er von der Strategie seiner Gewerkschaft – und warum die Bahnkunden trotz Streik zufrieden waren
marx21.de: Wolfgang, die Gewerkschaft ver.di hat im Oktober für einen eigenständigen Lohntarifvertrag für den baden-württembergischen Nahverkehr gestreikt. Wieso wollt ihr aus dem bundesweiten Tarifvertrag aussteigen?
Wolfgang Hoepfner: Der baden-württembergische Nahverkehr war immer ein kampffähiger und kampfwilliger Bereich. Aber seit 20 Jahren haben wir das Problem, dass in den Tarifverhandlungen für den gesamten deutschen öffentlichen Dienst meist die kampfschwächsten Bereiche und vor allem die ängstlichsten Gewerkschaftssekretäre die Strategie vorgeben. Manchmal durften wir ein paar Tage streiken, aber dann wurde auf Bundesebene trotzdem ein schlechter Kompromiss unterschrieben.
Was sind das für Kompromisse?
Viele Gewerkschaftssekretäre unterschreiben auf Wunsch der Mitglieder alles, wo das Wort „Beschäftigungssicherung" draufsteht. Und zwar buchstäblich um jeden Preis. Wenn man Arbeitszeit und Lohn zusammenzählt, haben wir im Nahverkehr seit 1992 zwischen 25 und 30 Prozent Kürzung hinnehmen müssen.
Was habt ihr dagegen unternommen?
Der Nahverkehr Baden-Württemberg hat innerhalb der Funktionäre und mit den Beschäftigten seit 2005 intensiv diskutiert, wie wir aus dieser Abwärtsspirale rauskommen. Das Ergebnis war einmütig, dass wir einen eigenständigen Lohntarifvertrag brauchen.
Ist das nicht unsolidarisch?
Nein. Wie bei der IG Metall wollen wir als kampffähiger Bereich vorangehen. Wenn wir Erfolg haben, werden bundesweit alle davon profitieren.
DAS NEUE HEFT: AB 2. DEZEMBER
Titelseite, Inhaltverzeichnis ansehen (Kostenloser Flash Player muss installiert sein)
Für größere Ansicht bitte mit der Maus auf die Titelseite klicken. Großansicht kann mit der Taste "Esc" (links oben auf deiner Computertastatur) wieder verlassen werden.
marx21 erscheint fünfmal im Jahr.
Hier die aktuelle Ausgabe als Einzelheft bestellen (3,50 plus Porto) oder marx21 abonnieren (4 Euro pro Heft, frei Haus) bzw. das Jahresabo-Angebot (20 Euro plus Buchprämie, frei Haus) nutzen.
Wer bisher noch keine marx21-Ausgabe bestellt hat, kann einmalig ein kostenloses Probeheft ordern (in der Drop-Down-Liste »Art des Abonnements« die Option »Ich will eine Ausgabe von marx21 kostenlos testen« auswählen. Felder zu Kontoangaben einfach leer lassen.)
Ihr habt den Streik am 2. November mit einer Einigung mit den Gemeinden beendet. Der eigenständige Lohntarifvertrag kommt aber frühestens 2014. Seid ihr gescheitert?
Nein. Wir haben in drei Jahren ein Sonderkündigungsrecht des bestehenden Vertrages, das wir höchstwahrscheinlich wahrnehmen werden. Dann haben wir die Eigenständigkeit. Die Arbeitgeber haben sich diese Zeit mit deutlichen Verbesserungen bei Arbeitszeit und Weihnachtsgeld erkauft. Das war ein Angebot, das wir annehmen mussten.
Welche Strategie hattet ihr für den Streik?
Wir haben uns den Streik der Erzieherinnen im Jahr 2009 genau angeschaut. Sie hatten Erfolg, weil sie trotz des schwierigen Bereichs der Kinderbetreuung die öffentliche Meinung bis zum Schluss auf ihrer Seite hatten.
Das ist im Nahverkehr sicher sehr schwierig.
Aber wir haben es überwiegend geschafft. Die Fahrer haben nur tageweise gestreikt, obwohl die Kollegen zum wochenlangen Vollstreik bereit waren. Stattdessen haben wir Bereiche dauerhaft bestreikt, die den Verkehr nicht lahmlegen und den Arbeitgebern gleichzeitig finanziell wehtun.
Wie das?
Dauerhaft gestreikt haben vor allem die Arbeiter in den Werkstätten und Kunden-Centern, die Fahrkartenkontrolleure und der Automatendienst. Dadurch konnten die Leute zwar fahren, aber oft keine Fahrkarten kaufen, und sie wussten, dass sie nicht kontrolliert werden. Außerdem sind die Automaten bald ausgefallen, weil die Münzspeicher voll waren und sie nicht gewartet wurden.
Kann man die Arbeitgeber dadurch wirklich finanziell schädigen?
Ja. Allein die Stuttgarter Straßenbahn hatte durch weniger verkaufte Fahrkarten jeden Tag geringere Einnahmen im fünfstelligen Bereich. Durch den Streik der Werkstätten fielen immer mehr Bahnen aus. Die Arbeitgeber mussten die Fahrer aber trotzdem bezahlen, weil sie ja nicht gestreikt haben.
Ist das eine neue Strategie?
Ja. Bisher kannten wir hauptsächlich den Vollstreik der Fahrer. Jetzt sind wir vor dem Streik gezielt in die Kunden-Center gegangen. Wir haben den Kolleginnen erklärt, dass es auf sie ganz besonders ankommt, weil bei Ihnen die Einnahmen entstehen.
War das erfolgreich?
Und wie. Dadurch haben wir vor dem Streik in diesem Bereich einen Organisationsgrad von fast 100 Prozent erreicht. Obwohl sich Gewerkschaften ja traditionell schwer tun, Frauen und Angestellte zu gewinnen. Es war beeindruckend, wie dann während des Streiks die Kollegen und Kolleginnen alle an einem Strang gezogen haben. Zwischen Serviceangestellter und Werkstattmonteur ist echter Teamspirit entstanden.
Mit welchem Argument habt ihr die Kollegen vom Streik überzeugt?
Das wichtigste Argument war: Wir können gewinnen. Diesmal werden wir nicht darum betteln, dass die Kürzungen ein bisschen kleiner ausfallen. Es ging darum, einen Strich zu ziehen und zu sagen: Bis hierher und nicht weiter. Ab jetzt drehen wir den Spieß um und werden die Kürzungen Stück für Stück rückgängig machen.
Hat das überzeugt?
Ja. Selbst Kollegen, die aus ver.di ausgetreten waren, haben gesagt: Wenn ihr es diesmal ernst meint, treten wir wieder ein und streiken mit. So wurde die abstrakte Forderung nach einem eigenständigen Lohntarifvertrag für Baden-Württemberg zum Hauptmobilisierungsfaktor.
Wie viele Kolleginnen und Kollegen sind eingetreten?
Wir haben in der Vorbereitung des Streiks bei 7500 Angestellten im Nahverkehr Baden-Württemberg mindestens 300 neue Mitglieder gewonnen. Die Eintritte im Streik selbst sind noch nicht erfasst.
Die Stuttgarter Straßenbahn hatte während des Streiks eine faktische Aussperrung der Fahrer verhängt, die am nächsten Tag wieder zurückgenommen wurde. Wie erklärst du dir diesen aggressiven Schritt?
Die Arbeitgeber gerieten in Panik. Sie wussten, dass wir die Kürzungspolitik der letzten 20 Jahre grundsätzlich umkehren wollen.
In vielen Regionen sind die Belegschaften des Nahverkehrs weit weniger kampffähig als in Baden-Württemberg. Wie kommt das?
Die Schwächung der Gewerkschaften entstand vor allem durch Privatisierung oder angedrohte Privatisierung des Nahverkehrs. Die städtischen Verkehrsbetriebe werden ständig mit Angeboten privater Konkurrenten verglichen und sollen ihre Kosten senken. Außerdem hat der europäische Rechtsrahmen Privatisierungen erleichtert und die kommunale Direktvergabe gezielt erschwert.
Was bedeutet das für die Gewerkschaften?
Bei Tarifverhandlungen sitzt unsichtbar immer der private Konkurrent am Tisch, der Niedriglöhne anbietet. Die Gemeinden nehmen sich dann vor, die Löhne auf dasselbe Niveau zu drücken. Allein der Stuttgarter Nahverkehrsbetrieb hat seit 1992 seine Schulden von 64 auf 19 Millionen Euro gesenkt. Bei gleichzeitiger Ausweitung des Angebots. Alles auf Kosten der Angestellten.
Der Streik war auch deshalb möglich, weil der Organisationsgrad im Nahverkehr Baden-Württemberg besonders hoch ist. Habt ihr etwas richtig gemacht, was woanders falsch gemacht wurde?
Ich denke schon. Der Nahverkehr war bis vor 15 Jahren sehr »patriarchalisch« mit mächtigen Betriebsratsvorsitzenden organisiert, in vielen Regionen wie dem Ruhrgebiet auch mit starken SPD-Seilschaften zwischen Gewerkschaft und Politik. Im öffentlichen Dienst bedeutet das: zwischen Arbeitnehmervertreter und Arbeitgeber.
Wie wirkt sich das aus?
Die Betriebsräte im öffentlichen Dienst lassen sich vom Bürgermeister erklären, wie groß die finanziellen Spielräume für Lohnerhöhungen sind oder eben nicht. In den 1980er Jahren waren so noch kleine Verbesserungen möglich. Heute werden nur noch Kürzungen durchgesetzt. Die Arbeitgeberposition zu übernehmen funktioniert natürlich leichter, wenn man sich aus dem SPD-Kreisvorstand kennt.
Was ist in Baden-Württemberg anders?
Im Betriebsrat des Stuttgarter Nahverkehrs haben sich bei der Wahl im Jahr 2002 die Mehrheitsverhältnisse verändert. Bis dahin verstand die Mehrheit den Betriebsratsposten als einen angenehmen Job und als eine Sprosse auf ihrer Karriereleiter. Aber es gab immer eine Opposition, die Betriebsrat wurde, um die Arbeitsbedingungen der Kollegen zu verbessern. Seit neun Jahren sind letztere die Mehrheit. In den anderen Betrieben gab es ebenfalls personelle Wechsel, die auch zu strategischen Neuorientierungen führten.
Was hat sich seitdem verändert?
Im Stuttgarter Nahverkehr gibt es seit 2002 eine neue Strategie der ver.di-Betriebsräte. Wir haben versucht, Tarifpolitik wieder an die Basis zurückzubringen. Dafür mussten wir Vertrauensleutekörper komplett neu aufbauen.
Was bedeutet diese Basis-Orientierung konkret?
Wir arbeiten viel mit Aushängen, machen Flugblätter und verteilen sie im Betrieb. Unsere Betriebsversammlungen sind echte Diskussionsforen, wo Kritik an Betriebsrat und Gewerkschaft ausdrücklich erwünscht ist.
Habt ihr das im Streik auch gemacht?
Natürlich. Während des Streiks gab es tägliche Streikversammlungen an allen Bahn- und Bus-Depots und im Gewerkschaftshaus. Ver.di hat täglich ein neues Flugblatt verteilt und ständig E-Mails mit den neuesten Entwicklungen an alle Kollegen verschickt.
Klingt nach Selbstverständlichkeiten für eine große Gewerkschaft.
Das ist es aber leider überhaupt nicht! Gerade bei bundesweiten Tarifverhandlungen legt irgendjemand in Berlin fest: Wir fordern dieses und jenes. Wem das nicht gefällt, der hat Pech gehabt und kein Mensch spricht mit den Kollegen im Betrieb. Diese üble Tradition haben wir durchbrochen.
Warum fällt die Arbeit mit der Basis den Gewerkschaften oft so schwer?
Viele Gewerkschaftssekretäre und -funktionäre gehen, wenn überhaupt, ohne jede Strategie in einen Streik und verlieren. Sie wissen oft einfach nicht mehr, wie man einen Arbeitskampf führt. Auch wir mussten manches neu lernen.
Leidet die Schlagkraft der Gewerkschaften nicht hauptsächlich unter einem grundsätzlichen Desinteresse der Beschäftigten?
Nicht unbedingt. Kollegen haben in den letzten Jahren immer wieder kritisiert, dass ver.di nicht versucht hat zu streiken. Dass wir nicht getestet haben, was drin ist und zu früh unterschrieben haben. Viele treten auch aus, weil die Gewerkschaft nicht genug für sie durchsetzt.
Könnten die Gewerkschaften mit eurer Arbeitsweise auch in anderen Bereichen wieder schlagkräftiger werden?
Gut möglich. Wichtig ist vor allem, dass ver.di auch im privatisierten Nahverkehr stark wird. Auch unser Abschluss gilt zum Beispiel nicht in Mannheim und Heidelberg, weil die dortigen kommunalen Betriebe eigene Tarifverträge haben.
Gibt es gewerkschaftlich gut organisierte private Nahverkehrsbetriebe?
Ja. Der privatisierte Nahverkehrsbetrieb in Pforzheim ist zu mehr als 90 Prozent organisiert. In Ludwigsburg sind es 98 Prozent. Die Pforzheimer haben jetzt auch mitgestreikt. Teile des Abschlusses sind auch für sie gültig.
Du bist auch Mitglied der LINKEN. Brauchen wir mehr linke Betriebsräte?
Kommt drauf an, was links im Betrieb bedeutet. Wir brauchen auf jeden Fall mehr mutige und kämpferische Betriebsräte und Gewerkschaftsfunktionäre. Und wir müssen viel mit den Kollegen kommunizieren, damit sie keine Angst haben, sich zu engagieren.
Kämpfen ist doch links, oder?
Das schon. Aber das geht nur, wenn man genau weiß, wann die Kollegen kämpfen wollen und wann nicht. Manche Linke meinen, durch ihr politisches Verständnis wüssten sie, was gut für die Arbeiterklasse ist. Und das mag objektiv auch richtig sein. Aber wenn die Arbeiter selbst das anders sehen, nützt dem linken Betriebsrat die schönste Analyse nichts.
Wie kann man als Betriebsrat nah an der Basis bleiben?
Ein kleines Beispiel: Im Stuttgarter Nahverkehr arbeiten viele Muslime, einige auch strenggläubig. Ich habe mal den Koran gelesen, um besser zu verstehen, was sie denken und wovon sie reden. Je mehr man sich auf die Leute einlässt, desto besser. Linke im Betrieb müssen den Menschen zuerst mal zuhören, ihre Probleme verstehen und mit ihnen gemeinsam konkrete Lösungen und Handlungsoptionen erarbeiten.
(Die Fragen stellte Hans Krause.)
Zur Person:
Wolfgang Hoepfner ist Mitglied der ver.di-Landestarifkommission Nahverkehr Baden-Württemberg sowie Schwerbehindertenvertreter und Betriebsratsmitglied der Stuttgarter Straßenbahn AG (SSB). Er ist zudem Mitglied der LINKEN.
Mehr auf marx21.de:
- »Kollektive Stärke organisieren«: »Der Druck muss raus!« nennt ver.di ihre neue Kampagne für das Gesundheitswesen. Im Gespräch mit marx21 erklärt Gewerkschafter Fabian Rehm, warum der Markt niemanden gesund macht und wie im Krankenhaus erfolgreich gestreikt werden kann
- »Wir streiken so oft wir können«: Der ver.di-Bezirk Stuttgart hat in den vergangenen Jahren viele neue Mitglieder gewonnen. Beim Kongress »Marx is’ muss« erklärte Bernd Riexinger das Erfolgsrezept. Wir dokumentieren seine Rede