Der dramatische Absturz der irischen Wirtschaft, zeigt die Grenzen der Marktwirtschaft. Marnie Holborow aus Dublin berichtet über die Hintergründe der Staatspleite und die Perspektiven für die Linke in Irland.
Zur Überraschung der meisten Iren kam ihr Ministerpräsident Brian Cowen in diesem Sommer auf die Top-Ten-Liste von Newsweek als fünftbester Staatslenker und Finanzreformer während der Bankenkrise. Er wurde gelobt, weil er ein drastisches Sparpaket durchs Parlament brachte, die Steuern anhob und die Gehälter im öffentlichen Dienst senkte. Kenneth Rogoff, ehemaliger Berater des Internationalen Währungsfonds (IWF), erklärte ähnlich wie andere internationale Kommentatoren: »Wenn du der Zahlungsunfähigkeit entgehen willst, bleibt nur der irische Weg.« Nur einen Monat später stand Irland kurz vor dem Zusammenbruch. Das schwarze Loch der irischen Banken erwies sich als das tiefste der Welt, und Sparmaßnahmen hatten alles noch schlimmer gemacht. Irland und Griechenland, das ebenfalls unter den schweren Einschnitten taumelt, waren in diesem Jahr die beiden Länder mit der schärfsten Rezession. Mit anderen Worten, der so schrill vorgebrachte Rat der meisten Regierungen – die öffentlichen Defizite zu reduzieren – funktioniert ganz offensichtlich nicht.
Schwaches Glied in der Kette
Irland ist zum schwachen Glied in der Krisenkette geworden, weil es zuvor den größten Aufschwung erlebte. In Irland gab es die größte Immobilienblase und die weitestgehende Deregulierung der Bankgeschäfte. Es war das neoliberale Modell schlechthin. Das International Financial Services Centre in Dublin, das »Liechtenstein am Liffey«, erwies sich als Supersteuernminimierer für US-Konzerne, als Helfer bei der Senkung der Körperschaftssteuer, mittels eines Systems zur Vortäuschung von Leistungsverrechnungen. Durch die Wirtschaftskrise wurde die Fantasieökonomie der irischen Steuerbetrügereien offenbar, ebenso wie jeder plötzlich das engmaschige Netz zwischen Regierung, Bauunternehmen und Banken erkennen konnte.
Video: Studentenproteste gegen den Sparkurs der Regierung im November:
Die Strategie der irischen Regierung bestand darin, die Bankeinlagen abzusichern und dafür zu sorgen, dass keine Bank, egal wie »giftig« sie war, das Schicksal von Lehman Brothers erlitt. Sie sicherte 440 Milliarden Euro an Bankschulden ab und rettete die schlimmste aller Zombiebanken: Anglo Irish. Die Bankenrettung, so hieß es, habe unbedingten Vorrang, egal was es koste. Nur dann, so Finanzminister Brian Lenihan, flössen die Kredite wieder und die Wirtschaft könnte sich erholen. Im April 2009 wurde von der Regierung auch eine »Bad Bank« gegründet, die National Asset Management Agency (Behörde für Nationale Anlagen, NAMA), um sich der Schulden der Immobilienanleger anzunehmen. Der Staat würde »mit der Zeit« die Kosten dieser Operation wieder reinholen, und das »sehr günstig«, hieß es.
Beide Strategien sind in sich zusammengebrochen, und das schwarze Bankschuldenloch wurde immer tiefer. Nachdem uns zunächst erzählt worden war, die Kosten der Rettung von Anglo Irish würden sich auf 1,5 Milliarden Euro belaufen, waren es am Ende 30 Milliarden Euro – damit handelte es sich um die teuerste Bankenrettung der Welt. Im Oktober 2010 stellte Finanzminister Lenihan weitere 16 Milliarden Euro für die Bankenrettung zur Verfügung und brachte so die Gesamtsumme auf unglaubliche 50 Milliarden Euro (16 Milliarden Euro entsprechen dem Jahreshaushalt für das irische Gesundheitssystem, und mit 50 Milliarden Euro können vier Jahre lang die Löhne im öffentlichen Dienst gezahlt werden). Das diesjährige Defizit wird sich auf 32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts belaufen, das ist das höchste je verzeichnete Defizit einer entwickelten Wirtschaft in Friedenszeiten. Zum Vergleich: Als Argentinien sich im Jahr 2002 für zahlungsunfähig erklärte, betrugen seine Schulden 11,9 Prozent.
Trotz dieses Zusammenbruchs folgte die irische Regierung weiterhin der Rezeptur des IWF, der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Europäischen Zentralbank (EZB), der Bankenrettung und der Senkung der Staatsverschuldung unbedingten Vorrang einzuräumen. Dabei spielte es kaum eine Rolle, dass die Bankenrettung die Hauptursache der steigenden Staatsverschuldung war. Der ideologische Imperativ der Regierung lautete, den öffentlichen Sektor zum Feind Nummer eins zu erklären.
Dabei wurde die Regierung von der republikanischen Partei Fianna Fáil (Soldaten des Schicksals) nach Kräften von ihrem Koalitionspartner, den Grünen, unterstützt, die jede Gelegenheit nutzten, sich ins Rampenlicht zu schieben und die neuesten Sparmaßnahmen zu verteidigen. Auch die Oppositionsparteien Fine Gael und Labour gaben ihre Zustimmung (für weitere 4 Milliarden Euro dieses Jahr). Und das, obwohl Irland über einen relativ schlecht ausgestatteten öffentlichen Dienst verfügt. Selbst während des Aufschwungs lagen Irlands öffentliche Ausgaben mit 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf dem niedrigsten Stand unter den OECD-Ländern, auf selber Höhe mit Mexiko. Der Vorschlag lautet jetzt, die Kosten für den öffentlichen Dienst und für Sozialeinrichtungen zu senken und darüber einen nationalen Konsens herzustellen. Die Logik dieses Raubs und die Unterstützung dafür seitens Politik und Medien erklärt die enorme Wut, die unterhalb der Oberfläche der irischen Gesellschaft brodelt.
Das Karussell der Rettungen und Sparmaßnahmen dreht sich immer weiter. Die irische Regierung wird ihr viertes Büßerhemdbudget im Dezember verabschieden. Sie schlägt weitere Kürzungen im Sozialbereich vor, höhere Steuern auch für Niedriglöhner und die Senkung des Kindergelds. Schon die Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst im Jahr 2009 – etwas, das sich niemand hätte träumen lassen – plus erhöhte Einkommenssteuern und Rentenversicherung beliefen sich auf eine Lohnsenkung von bis zu 20 Prozent netto. Konkret heißt das, dass ein Pförtner in einem Krankenhaus jetzt monatlich 100 Euro weniger verdient und ein Lehrer unter Umständen sogar bis zu 902 Euro.
Schrumpfkurs
Nachdem der Wirtschaft all das Geld entzogen wurde, verwundert es kaum, dass sie weiter geschrumpft ist. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der irischen Wirtschaft ist inzwischen um 15 Prozent abgestürzt. Nach den am 23. September veröffentlichten Statistiken sank das BIP im zweiten Quartal um 1,2 Prozent, auch die Steuereinnahmen sinken weiter.
Hinter diesen Zahlen verbergen sich echte soziale Härte und Verzweiflung. Krankenstationen werden geschlossen und die Wartelisten werden immer länger. Den 450.000 Arbeitslosen werden die Gelder für Weiterbildung gekürzt und arbeitslose Alleinerziehende erhalten weniger Kindergeld. Es gibt wieder eine Auswanderungswelle, etwas, das so lange ein Kennzeichen Irlands war. Monatlich verlassen 6.000 Menschen das Land, damit liegt Irland an zweiter Stelle gleich hinter Litauen. Über 350.000 Menschen sind im Rückstand mit der Tilgung ihrer Hypotheken auf ihre Häuser, die jetzt nur noch halb so viel wert sind. Gleichzeitig weht das Herbstlaub durch die Skelette halbfertiger Wohnsiedlungen um Dublin.
All das haben die irischen Arbeiterinnen und Arbeiter nicht tatenlos hingenommen. Rentner gingen im September 2008 auf die Straße und zwangen die Regierung zu einem Rückzieher, als diese den kostenlosen Zugang zum Gesundheitssystem für über 70-Jährige beschränken wollte. Ihre Großkundgebung ergoss sich symbolischerweise in eine katholische Kirche und die vor dem Altar stehenden Sprecher von Fianna Fáil wurden ausgebuht. Im Februar 2009 demonstrierten 100.000 Menschen gegen eine geplante Rentenabgabe, und am 24. November traten eine Viertel Million Beschäftigte des öffentlichen Diensts in den Streik gegen Haushaltskürzungen, wobei tausende junger Arbeiterinnen und Arbeiter zu den Streikposten gingen.
Angesichts der Angst vor der Rezession waren die Beschäftigten abhängig davon, dass die Gewerkschaftsführer sie zum Streik riefen. Von Anfang an benutzte Jack O‘Connor, der Generalsekretär der größten irischen Gewerkschaft, diese fantastische Mobilisierung nur als Druckmittel für Gespräche mit der Regierung. Die Gewerkschaftsführer sagten zweimal geplante Streiks ab. Damit war der traditionell starke und gewerkschaftlich gut organisierte öffentliche Dienst schutzlos. Gerade in dem Moment, wo die Regierung durch eine Bewegung der Arbeiterklasse gestürzt hätte werden können, warfen die Gewerkschaftsführer für Fianna Fáil die Rettungsleine aus und halfen ihr, die Kürzungen durchzubringen.
Die Gewerkschaftsbürokratie schwankt immer zwischen den Interessen ihre Mitglieder und den der Unternehmer. Nach Jahrzehnten der Sozialpartnerschaft mit den Unternehmern sind sie eng an das Establishment herangerückt und verkehren ungebrochen mit Regierungsministern, während sie sich immer weiter von ihren Mitgliedern entfernen. Die neuesten Enthüllungen über hohe Gewerkschaftsfunktionäre aus dem Gesundheitswesen, die sich mit den Arbeitgebern einen Schmiergeldfonds geteilt haben, ist ein schockierender Beweis für den Kuschelkurs mit den Bossen.
Mit dem Fortgang der Krise und weiteren Angriffen werden ohne Zweifel einige Sektionen der Gewerkschaftsführung gezwungen sein, gegen die wüsten Kürzungen zu mobilisieren. Unterdessen müssen einzelne Aktivisten und Betriebskomitees auf neue Weise zu organisieren lernen, damit sie Druck auf die Führung ausüben können, und nicht umgekehrt.
Die langsam durchsickernden Informationen über die Banken haben gezeigt, wie eng die Clique gestrickt ist, die den irischen Kapitalismus in der Hand hat. Bei jeder Wende helfen sie sich gegenseitig aus der Patsche. Sie zahlen ihren Kumpanen in den Anwaltskanzleien hohe Gebühren – in einem Fall 9 Millionen Euro für eine Rechtsberatung zum Umgang mit der Bankenkrise! Der Kopf von Anglo Irish, Bauunternehmer Sean Fitzpatrick, verschob riesige Geldsummen an seine Ehefrau, als er offiziell für bankrott erklärt wurde. Bauunternehmer, die Schulden bei der NAMA haben, sind gleichzeitig Vertragspartner der NAMA und bekommen Millionen Euro ausgehändigt, um Öffentlich-Private-Partnerschaftsgeschäfte wie das nutzlose Nationale Kongresszentrum in Dublin fertigzustellen.
Das ganze System mit Armeen von Bilanzbuchhaltern und Anwälten scheint sich verschworen zu haben, die kapitalistischen Schwindler vor dem Knast zu retten. Der Hass auf diese Elite ist fast mit Händen zu greifen. Wir werden nach Art der Pilzzucht gehalten: »Im Dunkeln lassen und mit Gülle füttern«, wie ein Journalist sagte. Die Labour Party ist der Hauptnutznießer dieser Wut. In den Umfragen steht sie jetzt bei 34 Prozent, sie hat inzwischen die anderen Parteien überrundet und könnten durchaus die Regierung stellen, falls eine Wahl ausgeschrieben wird. Der Parteichef von Labour, Eamon Gilmore, akzeptiert, dass die Einschnitte nötig sind und der öffentliche Dienst »reformiert« werden muss – was Stellenstreichung und Produktivitätssteigerung heißen wird.
Nicht besonders keynesianisch
Gewerkschaftsführer mit Verbindungen zur Labour Party waren Architekten des Abkommens vom Croke-Park-Stadion im Juni dieses Jahres, in dem Lohnkürzungen und einer grundlegenden Revision der Arbeitsverträge im öffentlichen Dienst mit Umbesetzungen und längerer Arbeitszeit zugestimmt wurde. Ein Aufschwung Labours könnte das Selbstbewusstsein zur Abwehr der Angriffe stärken, so wie in Griechenland, aber schon jetzt versucht die Labour Party die Unternehmerschaft mit Forderungen nach Kürzungen im öffentlichen Bereich und der Verurteilung von Streiks zu beruhigen. Sogar in der Opposition reicht der Keynesianismus der Labour Party nicht sehr weit: Kürzlich unterstützte sie die Fianna-Fáil-Ministerin als sie in die USA reiste, um dort Arbeitsplätze für Iren zu suchen.
Inzwischen können die Menschen ihre Wut nur noch durch Mobilisierung von unten zeigen. In örtlichen Kampagnen in Sligo, Wexford und Dún Laoghaire gab es Widerstand gegen Krankenhausschließungen und Kürzungen im öffentlichen Bereich. Das radikale linke Bündnis »Menschen vor Profiten« spielte dabei für das Zustandekommen der Proteste eine wichtige Rolle. Am 29. September, dem europäischen Aktionstag gegen das Sparprogramm, gab es wütende Proteste vor dem irischen Parlament, obwohl die Gewerkschaftsführer sich nach Kräften bemüht hatten, den Aufruf zu ignorieren. Viele Kundgebungsteilnehmer blieben nach der Ansprache des Sprechers des irischen Gewerkschaftsbunds noch da, um die Reden von Sozialisten und der radikalen Linken zu hören.
Aus diesen Kämpfen hat sich eins klar herausgeschält: die Notwendigkeit der linken Einheit und einer engen Zusammenarbeit von Sozialisten unterschiedlichster Tradition bei Wahlen und dem Aufbau einer Bewegung gegen die Kürzungen. Die Kampagne »Recht auf Arbeit« hat für diesen Monat erneut zu Protesten aufgerufen. Angesichts der fehlenden Mobilisierung der Gewerkschaften könnten sie zu einem echten Anziehungspunkt für die Opposition gegen den Regierungshaushalt werden.
Niemand aus Politik und Medien hinterfragt die Logik der Bankenrettung. Einige rechte Kommentatoren sagen, dass nur die robusten Banken überleben sollten, aber grundsätzlich gehen sie davon aus, dass die Banken in der Regel gut funktionieren. Um aber die Kürzungen im öffentlichen Bereich zu beenden ist es notwendig, die Profitmacherei der Banken durch Spekulationsgeschäfte anzugreifen.
Das Regierungsmantra lautet Schutz der Anleger, und sie werden als unter dem Druck des Markts stehende internationale Spieler dargestellt. Die Regierung sagt allerdings nicht, dass zu diesen Anlegern auch irische Banken gehören. Die Allied Irish Bank und die Bank of Ireland standen im Juli 2010 auf Platz zwei und drei der zehn Spitzenbanken mit irischen Regierungsanleihen und Investitionen in Höhe von 6,3 Milliarden Euro.
Deshalb sagen Sozialisten, dass es für Spekulanten kein Sicherheitsnetz geben darf. Sie müssen ihre Verluste selbst tragen. Eine Staatsbank sollte geschaffen werden – nicht um die »giftigen« Verschuldungen zu stützen, sondern um Kredite zu sozialisieren. Die Regierung sollte die Milliarden für die Bankenrettung zur Finanzierung öffentlicher Arbeitsprogramme nutzen und den geschwächten öffentlichen Dienst damit stützen und stärken. Dafür brauchen wir eine Bewegung, die diese Forderung formuliert. Zu Beginn der Krise gab es in Irland eine radikale Bewegung. Es wird Zeit wieder zu lernen, wie wir diese erneut von unten aufbauen können.
Zur Autorin: Marnie Holborow ist Autorin und lehrt an der Dublin City University. Zuletzt auf Englisch erschienen ist ihr Buch: The Politics of English bei Sage Publications.
Zum Text: Der Artikel erschien zuerst auf Englisch in der Zeitschrift Socialist Review. Übersetzung ins Deutsche Rosemarie Nünning.