Obwohl der Castor-Transport nicht gestoppt wurde, sind die Proteste ein Erfolg. Jetzt heißt es, den Druck aufrechtzuerhalten und die Anti-Atombewegung weiter zu vergrößern. marx21 dokumentiert eine Analyse von Jochen Stay, Sprecher des Anti-Atom-Netzwerkes .ausgestrahlt:
Die bisher größte Demonstration im Wendland gegen die Gorlebener Atomanlagen fand 1977 statt. Wenige Wochen nach der Standortbenennung trafen sich 20.000 Menschen, um gegen die Pläne für ein »Nukleares Entsorgungszentrum« zu protestieren. Die bisher größte Demo gegen Castor-Transporte nach Gorleben gab es 1997 in Lüneburg. Da kamen 25.000 Menschen zusammen.
Diese »Rekorde« hatten bis zum 6. November 2010 Bestand, als 50.000 Menschen zwischen den wendländischen Dörfern Nebenstedt und Splietau gegen den Castor-Transport, gegen den weiteren Ausbau des ungeeigneten Salzstocks in Gorleben zu einem Atommüll-Endlager und gegen die Atompolitik der Bundesregierung demonstrierten. 400 Busse aus dem ganzen Bundesgebiet waren nach Dannenberg gerollt. Auch das ein einsamer Rekord.
Und in den Tagen danach haben sich X-tausende an Blockadeaktionen auf Schienen und Straßen beteiligt. Ziviler Ungehorsam ist nicht mehr nur etwas für die üblichen Verdächtigen, sondern wird bis weit ins Bürgertum als legitime Form der politischen Partizipation anerkannt.
Der Castor-Transport brauchte so lange wie nie zuvor. Dass er schließlich doch noch angekommen ist, war für die meisten DemonstrantInnen irrelevant. Oft genug war betont worden: Es geht letztendlich nicht darum, dass der Castor umdreht, sondern Ziel der Proteste ist eine Umkehr der Bundesregierung in der Atompolitik.
So gesehen ist die Euphorie, mit der viele Aktive trotz aller Erschöpfung nach Tagen des Widerstandes das Wendland wieder verlassen haben, etwas zweischneidig. Schließlich hat die Bundeskanzlerin angesichts der Ereignisse rund um den Castor noch nicht erklärt, dass das neue Atomgesetz ein Fehler ist, sie den Deal mit den Stromkonzernen bitter bereut und alles wieder rückgängig machen wird.
Aber so funktionieren politische Prozesse auch gar nicht. Gesellschaftlicher Druck entwickelt nur langsam seine Wirkung, muss sich seinen Weg durch die Institutionen erst suchen. Trotzdem sind wir unserem Ziel, der Stilllegung aller Atomkraftwerke und dem Verzicht auf den maroden Gorlebener Salzstock in diesen wendländischen Tagen entscheidende Schritte näher gekommen.
Der erste Faktor sind die DemonstrantInnen selbst: Es war anstrengend, es war kalt, viele haben kaum Schlaf gefunden, manche wurden mit Polizeigewalt konfrontiert. Und trotzdem nehmen fast alle neue Energie und Motivation mit nach Hause. Alle Rückmeldungen, die wir in den letzten Tagen bekommen, belegen dies: Trotz Bundestagsentscheidung für Laufzeitverlängerungen, trotz Ankunft des Castor-Transports in Gorleben sind Resignation oder Ohnmachtsgefühl für die Anti-AKW-Bewegung am Ende des bewegten Jahres 2010 Fremdworte. Nein, diese Bewegung ist selbstbewusst wie nie und das lässt für die nächsten Monate Großes erwarten. Wer verstehen will, was da gerade gesellschaftlich passiert, sollte die Geschichte über neue Gorleben-DemonstrantInnen im »Stern« vom 11.11.2010 lesen. Es bestätigt sich die Ansage an die Bundesregierung, die im .ausgestrahlt-Rundbrief Nr. 10, der vor den Castor-Protesten erschien, stand: Ihr werdet Euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen!
Der zweite Faktor ist die Öffentlichkeit: 650 JournalistInnen waren im Wendland unterwegs, auch dies ein neuer Rekord. Und sie haben in ihrer Berichterstattung die neue Qualität des Protests und Widerstands deutlich rübergebracht. Fast eine Woche lang war die ungelöste Atommüll-Entsorgung, die verantwortungslose Atompolitik der Bundesregierung und der mutige Aufstand der Bevölkerung dagegen Thema Nummer 1 in den Medien. Und durch diese mediale Vermittlung konnten wir große Teile der Bevölkerung mit unseren Argumenten erreichen. Ein schönes Fazit war dieser Tage in der Süddeutschen Zeitung zu lesen. »Der schwerste Fehler, den Angela Merkel aber je gemacht hat, ist die Verlängerung der Laufzeiten für die Kernkraftwerke. Ohne Not hat sie dem Drängen der Industrie nachgegeben und ein Fass aufgemacht, aus dem Unheil quillt nicht nur für sie und die Union.«
Der dritte Faktor ist die Polizei: Deutlich wie nie haben sich Polizeigewerkschaften aber auch tausende BeamtInnen mit dem Anliegen der DemonstrantInnen solidarisiert und einer erstaunten Öffentlichkeit deutlich gemacht, dass die Polizei nicht willens und nicht in der Lage ist, weiter für eine verfehlte Politik der Bundesregierung ihren Kopf hinzuhalten. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, erklärte in einem Interview: »Wir dürfen nicht irgendwelchen Lobbyinteressen nachkommen, wenn es um die Zukunft unseres Landes geht. Sonst wird ein Spalt in die Gesellschaft getrieben. (…) Ich glaube, dass die Dimensionen des Protests zunehmen, wenn die Bundesregierung ihren Kurs nicht ändert. Ich hoffe nicht, dass wir unter diesen Umständen einen weiteren Castor-Transport zu schützen haben. Es wäre ein Einsatz, der, so glaube ich, die Kräfte der Polizei übersteigen würde.«
Unterm Strich hat sich die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit in diesen Castor-Tagen noch einmal deutlich weiter von der atompolitischen Position der Bundesregierung wegbewegt. Viel derjenigen, denen das Thema bisher egal war, haben jetzt verstanden, worum es geht und sympathisieren mit der Anti-AKW-Bewegung. Diejenigen AtomkraftgegnerInnen, die nicht mit im Wendland waren, sind durch das, was sie in den Medien miterleben konnten, angestoßen worden, in Zukunft selbst stärker aktiv zu werden. Und alle die dabei waren, ob »nur« bei der Großdemo am 6.11. oder bei den unzähligen Aktionen rund um den Transport, wissen nun, was sich bewegen lässt, wenn man erst mal damit anfängt.
Damit die Ereignisse im Wendland aber wirklich Früchte tragen, gibt es nur eine Möglichkeit: Wir müssen dran bleiben, den Druck aufrechterhalten, die Anti-Atom-Bewegung in die Fläche tragen, weitere Mitmenschen zum Mitmachen bewegen und alle Möglichkeiten nutzen, Atomwirtschaft und Bundesregierung weiter in die Defensive zu bringen. Irgendwann wird das Kartenhaus zusammenstürzen. Wir sind auf einem sehr guten Weg!
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