Seit fast zwei Monaten hat Ägypten einen Muslimbruder als Präsidenten. Was das für die Revolution bedeutet, darüber sprach marx21.de mit der Aktivistin Nora Schalaby
marx21.de: Vor kurzem hat Präsident Mursi den ehemaligen Verteidigungsminister Tantawi als Vorsitzenden des Militärrats abgesetzt. Wie bewertest Du diesen Schritt?
Nora Schalaby: Die Absetzung des allgemein verhassten General Tantawi wurde von Tausenden von Menschen auf dem Tahrirplatz gefeiert. Sie erwarten den Anbruch neuer Zeiten. Doch seine Ersetzung durch den jüngeren, aber ebenso brutalen – wenn auch weniger bekannten – al-Sisi zeigt, dass Mursi in Absprache mit dem Militär handelt.
Mursi ist ein geschickter Opportunist, er ist aber nicht mehr als eine Marionette der Moslembruderschaft, die sich in ihrer Gesamtheit extrem opportunistisch verhält. Trotz langjähriger und konsequenter Solidarität seitens revolutionärer Sozialisten mit von Mubarak eingesperrten Vertretern der Bruderschaft hat sie erst vor kurzem die Revolutionären Sozialisten beim Militärrat denunziert.
Wenn Mursi in Absprache mit dem Militärrat handelt, warum wurde er dann überhaupt gewählt?
Ganz einfach: die Moslembruderschaft war seit Jahrzehnten die bestorganisierte Opposition zu Mubarak. Bei der zweiten Wahlrunde standen nur Mursi und der Kandidat der Militärs, Schafik, als Alternativen. Wenn ich gezwungen gewesen wäre, mich zwischen den beiden zu entscheiden, hätte ich auch Mursi meine Stimme gegeben.
Ein Sieg des Militärkandidaten hätte dem Militärrat grünes Licht gegeben, die Opposition von der Straße zu fegen und in die Gefängnisse zu werfen. Mursi kann nicht ganz so direkt gegen die Opposition vorgehen. Vor allem viele jüngere Mitglieder der Moslembruderschaft würden einen solchen harten Kurs mit weiteren Austritten quittieren.
Die Jugendorganisation war aktiver Teil der Revolution und viele haben Sympathie für die Revolutionären Sozialisten. Nachdem allerdings die Moslembruderschaft die Revolutionären Sozialisten beim Militärrat denunziert hatte, konnten viele Mitglieder unserer Organisation eine Wahlempfehlung für Mursi nicht mehr mittragen und einige verließen deswegen sogar die Organisation. Daher entschieden wir uns schließlich für die Aussage: Wir stehen auf der Seite des Volks.
Die weitere Entwicklung gibt uns gewissermaßen Recht. Mursi macht weiter mit der Liberalisierung der Wirtschaft. Unsere Revolution fand unter der Losung von sozialer Gerechtigkeit statt, nicht unter der Losung weiterer Privatisierungen. Als er kandidierte, versprach er, die Pressefreiheit zu respektieren. Aber als Präsident hat er beispielsweise Ausgaben der Dostour beschlagnahmt, als die Zeitung sich allzu offen gegen ihn positionierte. Die Dostour wäre wahrscheinlich aus Mangel an Lesern sowieso eingestellt worden. Mursis harte Hand ist aber symptomatisch für sein Demokratieverständnis.
Wie reagiert die Arbeiterbewegung auf den Liberalisierungskurs Muris?
Alles muss sie erkämpfen, Stück für Stück. Es gibt keine allgemeine Verbesserung regierungsseitig. In einem Betrieb nach dem anderen müssen beispielsweise die Bonizahlungen erstreikt werden. Manchmal machen die Bosse unter dem Druck von Streiks oder Besetzungen bloß Versprechungen, die sie nicht einhalten, dann muss erneut gestreikt werden, bis sie zahlen. Aber viele Streiks enden doch mit Erfolg, und die Boni werden schließlich ausbezahlt. Das erhöht das Selbstbewusstsein.
Gleichzeitig leidet die Wirtschaft sehr. Die Touristikindustrie ganz besonders. Hier haben viele Menschen ihre Jobs verloren oder verdienen wesentlich weniger. Bedingt durch die vielen Kämpfe im ganzen Land, nicht nur in Kairo, ist die Investitionsbereitschaft stark in Mitleidenschaft geraten. In vielen Bereichen herrschen chaotische Zustände.
Was für Auswirkungen hat es auf die Stimmung, dass die soziale Gerechtigkeit ausbleibt?
Die 18 Tage, in denen Mubaraks Sturz erkämpft wurden, waren bei weitem nicht das Ende der Geschichte. Die Grausamkeiten des Militärs hörten auch danach nicht auf, beispielsweise die massiven Übergriffe auf Protestierende einschließlich der Jungfräulichkeitstests, denen Demonstrantinnen ausgesetzt wurden, und die vom neuen Militärmachthaber, dem bisherigen Chef des Militärgeheimdienstes, Abdel Fattah al-Sisi, auch nachträglich ausdrücklich gerechtfertigt werden.
Im November letzten Jahres wurden weit über hundert Demonstranten vom Militär umgebracht, als gegen die Absetzung des Kandidaten der Salafisten protestiert wurde – wobei es nicht nur Salafisten waren, die protestierten, sondern auch viele Linke, die sich gegen die Allmacht des Militärrats auflehnten. Jedes Mal, wenn das Militär gegen die Bewegung besonders brutal vorging, kam es zu einem erneuten Aufschwung des Widerstandes.
Obwohl Streiks unter Androhung härtester Strafen wie mehrjährigem Gefängnis und unbezahlbaren Geldbußen grundsätzlich verboten sind, war das Militär bisher nicht in der Lage, die Arbeiterbewegung ernsthaft einzuschüchtern. Im Moment, nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, warten die Menschen ab, was die Parlamentsmehrheit der Moslembrüder und ihr neuer Präsident Mursi wirklich liefern werden.
Mubarak galt als treuer Verbündeter Israels. Ein Zeichen dafür war die geschlossene Grenze zum Gazastreifen. Wie ist die Politik gegenüber den Palästinensern heute?
Mubarak pflegte eine lange Tradition, die Palästinenser in einem extrem negativen Licht erscheinen zu lassen. Viele Menschen akzeptieren diese Propaganda. Es hat zwar gegen die israelische Besatzungspolitik immer wieder Proteste vor der israelischen Botschaft in Kairo gegeben. Diese waren Teil der allgemeinen Politisierung in den Jahren vor Mubaraks Sturz.
Aber die Bevölkerung akzeptiert die in den Medien propagierte Sicht von Hamas-Terroristen, die ganz Sinai überrennen würden, wenn Ägypten die Grenze zu Gaza und die vielen Untergrundtunnel nicht schließen würde. Hier haben revolutionäre Aktivisten eine Menge Erklärungsarbeit zu leisten.
Wie sieht die politische Arbeit der Revolutionären Sozialisten in Ägypten heute aus?
Wir decken die ganze Bandbreite der verschiedensten Aktivitäten ab, helfen, wenn es darum geht, Proteste oder Sit-ins auf dem Tahrirplatz zu organisieren, bei der Solidaritätsarbeit für Streiks, bei studentischen Protesten.
Im Kairoer Zentrum für Sozialistische Studien organisieren wir regelmäßig Debatten, die sehr gut besucht werden. In der Regel kommen etwa fünfzig Menschen zu unseren Versammlungen, manchmal sind es aber so viele, dass der Raum nicht mehr alle fassen kann. Es hängt sehr vom Thema ab.
Beispielsweise hatten wir eine ganze Reihe von Veranstaltungen mit Streikführern und Gewerkschaftsaktivisten über den Weg vorwärts für die Arbeiterbewegung, wie die unabhängigen Gewerkschaften weiter gestärkt und die Streiks zum Erfolg gebracht werden können. Zur Zeit der Parlaments- bzw. Präsidentschaftswahlen diskutierten wir die Frage, ob eine Beteiligung für Revolutionäre Sinn macht, oder ob das alles nur eine vom Militärregime organisierte Mogelpackung ist. Wenn große Straßenproteste anstanden, diskutierten wir unsere Intervention darin.
Wir haben stets aktuelle Fragen der Bewegung aufgegriffen. Aber viele Besucher interessieren sich darüber hinaus für den Sozialismus ganz allgemein. Revolution ist nach wie vor ein Begriff, und die Menschen sind für neue Ideen wesentlich offener als früher und wollen über alles reden. Der Aktivitätsgrad ist nach wie vor sehr hoch, auch wenn es natürlich Aufs und Abs gibt, und die Menschen zeitweise verzweifeln, weil sich an ihrer objektiven Lage nichts Wesentliches geändert hat.
Die Revolutionären Sozialisten sind aber nicht nur in Kairo aktiv. Sie haben Büros in einer ganzen Reihe von Städten eröffnet, so zum Beispiel in Sayoum, die von der Landwirtschaft dominiert wird, in Port Said und anderen Städten des Nildeltas, und in Mansura. Wir haben auch tiefe Wurzeln unter den Textilarbeiterinnen von Mahalla geschlagen.
(Das Interview führte David Paenson)
Zur Person:
Nora Schalaby ist seit vielen Jahren aktiv bei den Revolutionären Sozialisten Ägyptens und schreibt zurzeit ihre Doktorarbeit in Ägyptologie an der Freien Universität Berlin.
Mehr im Internet:
- Nora Schalaby auf Twitter folgen: @norashalaby
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