DIE LINKE tanzt aus der Reihe. Deshalb braucht sie Unterstützung – nicht nur bei der Bundestagswahl. Ein Plädoyer zum Mitmachen. Von Bernd Riexinger
Wer wie ich häufig mit der Berliner S-Bahn zur Arbeit fährt, muss dieser Tage eigentlich überrascht sein. »Ist das gerecht?«, heißt es auf Plakaten an Bahnhöfen und Bushaltestellen. Damit ist aber keineswegs gemeint, dass sich unsere Gesellschaft in den vergangenen 15 Jahren in eine fatale Richtung entwickelt hat. Vielmehr stellt hier die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) die Frage, ob Mindestlöhne, Steuererhöhungen oder Bildung für alle gerecht sind.
Es ist schon erstaunlich, mit welcher Chuzpe die deutsche Sprache manchmal instrumentalisiert wird: Die INSM ist eine »Nichtregierungsorganisation« der Metall- und Elektroindustrie. Das bedeutet aber nicht, dass sie gegen die Regierung ins Feld zieht. Im Gegenteil: Sie will die neoliberalen Daumenschrauben fester anziehen und den gesellschaftlichen Druck für mehr soziale Gerechtigkeit kanalisieren – Menschen verunsichern, denn schließlich könnte deren richtiges Bauchgefühl rational doch falsch sein. Damit eröffnet sie den neoliberalen Wahlkampf vor den Parteien, aber durchaus für einige Parteien.
Nüchtern betrachtet hätte der neoliberale Zeitgeist spätestens mit dem Ausbruch der Bankenkrise im Jahr 2008 seinen Abschied feiern müssen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Im Zusammenhang mit Peer Steinbrück wird häufig nur über die magische Anziehungskraft seiner Schuhsohlen auf Fettnäpfchen und seines Portemonnaies auf Geldscheine berichtet. In Vergessenheit gerät darüber leicht, welche inhaltlichen Konsequenzen die Nominierung von Steinbrück als SPD-Kanzlerkandidat hat. Denn in erster Linie bedeutet sie, dass die Sozialdemokratie sich entschieden hat, Ansätze einer möglichen Linksentwicklung im Keim zu ersticken. Veränderungen, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen könnten, sind mit der SPD nicht zu machen, schließlich ist bei Steinbrück von Altersweisheit wenig zu merken. Vor zehn Jahren hatte er gefordert, der Staat habe sich um die »Leistungsträger« der Gesellschaft zu kümmern – und zwar nur um sie. Diese Aussage steht bis heute unwidersprochen im Raum.
Auch die Grünen verteidigen Hartz IV
Das vor Augen richtet sich der Blick auf den Wunschpartner der SPD, die Grünen: Steht wenigstens die vermeintliche Ökopartei für einen anderen Kurs als ihn INSM und Steinbrück fahren?
Boris Palmer, Bürgermeister von Tübingen und mir aus den Schlichtungsgesprächen zu Stuttgart 21 noch sehr präsent, ist auf dem Parteitag der Grünen im April wie ein kleines Imitat von Peer Steinbrück aufgetreten. »Ich bin stolz auf diese Hartz-Gesetze, die uns Jobs brachten«, schmetterte er den Delegierten entgegen. Angesichts der moderaten Steuererhöhungspläne seiner Partei fühlte Palmer sich in einer Phalanx mit Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann bemüßigt, vor einem Überdrehen der Steuerschraube zu warnen. Obwohl das grüne Model Steuern unter dem Niveau der Kohl-Ära vorsieht, warnte Palmer, die Pläne seien »wirtschaftsfeindlich«. Am Ende konstatierte der Parteivorsitzende Cem Özdemir ganz nüchtern und sachlich, wenn man das Programm der Grünen neben die der anderen Parteien lege, komme man zu dem Schluss, dass es die »meisten Schnittpunkte« mit der SPD gäbe. Özdemir gilt bei den Grünen als Realo und tatsächlich gibt er mit dieser Einschätzung die Realität richtig wider. Wäre die deutsche Politik seit 1998 ein Vermächtnis, wäre die politische Botschaft der letzten 15 Jahre in einem Testament zu finden, dann wäre Europa die Erbin. Einst eine große Idee, ist der europäische Einigungsprozess heute eine große Misere. Die Krise hat das Vertrauen der Menschen in das Integrationsprojekt bis ins Mark erschüttert. In Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Zypern, überall werden sie in Armut gestürzt und Volkswirtschaften mit dem Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit rasiert.
Exportmodell Agenda 2010
Die Logik der Agenda 2010 – die Legitimierung von dauerhaft prekärer Arbeit, von Millionen, die im Niedriglohnsektor arbeiten und auf der tickenden Zeitbombe Altersarmut sitzen – ist zum Exportschlager geworden. Vielfach wurde bereits über die Schuld der Bundesregierungen an der Krise geschrieben. Sicher ist: Die ohnehin vorhandenen wirtschaftlichen Ungleichheiten wurden und werden durch das deutsche »Exportmodell« verschärft. Gestützt auf optimale Weltmarktausrichtung in Kernbereichen der Industrie, hohe Produktivitätsstandards und die politisch durch die Agenda 2010 erzwungene Absenkung des Lohnniveaus erzielt die deutsche Wirtschaft gigantische Exportüberschüsse. Die erhöhen die Leistungsbilanzdefizite und so die Verschuldung der mediterranen Länder. Zugleich lebt die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland deutlich unter den Möglichkeiten dieses Landes und wird um die Resultate der eigenen Arbeitsleistung gebracht – ganz so, wie es die INSM mit Unterstützung der anderen Parteien gerne beibehalten möchte.
DIE LINKE hat Positionen entwickelt, die geeignet sind, an die tatsächlichen Auseinandersetzungen gegen die neoliberale Hegemonie anzuknüpfen und zumindest Bausteine zur Entstehung eines sozialen, demokratischen, solidarischen, friedlichen und ökologischen Wandels zu formen. Eine Abkürzung zu den dafür erforderlichen gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen, der Ausweitung sozialer Kämpfe und der Herausbildung europäischer und internationaler Solidarität gibt es nicht. Deshalb führt an der Zusammenarbeit, Koordination und Verständigung von Gewerkschaften, Linksparteien und Gruppen der sozialen Bewegungen kein Weg vorbei.
Kein Weg vorbei an der Zusammarbeit von Gewerkschaften, Linksparteien und sozialer Bewegung
Unser Programm und unsere Politik müssen dazu beitragen, diesen Prozess zu befördern. Um mit dem Politikwissenschaftler Elmar Altvater zu sprechen: »Die Bändigung des entfesselten Kapitalismus (oder seine Überwindung, Anm. d. Autors), die Regulierung von Finanzmärkten, sozial gesicherte Arbeitsplätze und die Wende zu erneuerbaren Energien sind Millenniumsaufgaben; in jedem Falle lassen sich diese besser in einem vereinten Europa bewältigen, als in einem durch den Spaltpilz der Finanzkrise und die Nullsummenspiele der Abwertungsraserei getrennten und vermutlich zerrütteten Europa.«
Ist das gerecht? Bezieht man die Frage auf die Politik der letzten Jahre und die Millionenkampagne der Industrie, dann ist die klare Antwort: Nein. Aber auf diese Art kann linke Politik im Zusammenspiel mit sozialen Bewegungen nicht konkurrieren und antworten. Am Ende steht die Frage, was aus diesen Überlegungen folgt. SPD und Grüne spielen auf einem anderen Feld als wir und vertreten Kapitalinteressen eher im Stil der bürgerlichen Parteien – die Agenda-Politik und die klaglose Akzeptanz des europäischen Kahlschlags bringen dies zum Ausdruck.
Unser Platz ist die Straße, das Parlament, der Betrieb und die Hochschule
Daraus folgt aber selbstverständlich nicht, dass Fatalismus, Resignation oder gar Wahlenthaltung zum Maßstab linken Handelns werden sollten. Wir spielen in einer anderen Arena, unser Ort ist die Straße und das Parlament, der Betrieb und die Hochschule – der öffentliche Raum.
Unsere Aufklärungsarbeit vollzieht sich nicht durch Plakatkampagnen, die Graswurzelcharakter imitieren sollen, sondern durch Aufklärungsarbeit vor Ort, an den Infotischen, in den Bewegungen. LINKE-Politik ist nicht nur eine Alternative, sie ist ganz anders und deshalb wichtig.
Von Bernd Riexinger, Parteivorsitzender der Partei DIE LINKE
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