Apo Leong setzt sich seit Mitte der 1970er für die Rechte von Arbeitern in Asien ein. Stefan Bornost sprach mit ihm über alte Kader, neue Kämpfe und politische Konflikte in China.
marx21: Apo, dass chinesische Arbeiter ausgebeutet werden, ist bekannt, dass sie sich dagegen wehren weniger. Hast du Zahlen über Streiks und Proteste?
Apo Leong: Die Regierung und der Geheimdienst wissen die Zahlen, rücken sie aber nicht raus. Die Streikstatistiken gelten als „vertraulich«. Da es laut der Kommunistischen Partei China keine Klassenspaltung gibt, darf es auch keinen Klassenkampf geben.
Doch wo Ausbeutung ist, ist natürlich auch Klassenkampf. Die chinesische Regierung redet von 80.000 „Zwischenfällen« im letzten Jahr – überwiegend im stark industrialisierten Perlflussdelta. Die Mehrzahl davon sind Arbeiter- und Bauernproteste: Streiks, Straßenblockaden, Demonstrationen. Die Zahl der Arbeitskämpfe wächst mit rund 30 Prozent pro Jahr dreimal so schnell wie die Wirtschaft insgesamt. Das reflektiert zum einen, dass die Zahl der Arbeiter insgesamt steigt, aber auch die Bereitschaft, die Bedingungen nicht länger hinzunehmen.
Wer wehrt sich und warum?
Unterschiedliche Gruppen von Arbeitern haben unterschiedliche Gründe zu protestieren. Eine große Gruppe steht gar nicht mehr im Arbeitsprozess, nämlich die Arbeiter der ehemaligen Staatsindustrien. Im Laufe der Öffnung und der Privatisierungen der 90er Jahre wurden zahlreiche große Staatsbetriebe dichtgemacht und die Belegschaften entlassen. Die Regierung geht von 30 Millionen Entlassenen aus. Oftmals wurde den Arbeitern eine Kompensation versprochen, entweder Geld oder ein neuer Job. Doch oftmals kam dann nichts.
Wir reden hier von Arbeitern, denen es im Vergleich zur Landbevölkerung in den 70ern und 80ern gut ging und die jetzt vor dem Nichts stehen. Deshalb gibt es aus dieser Gruppe heraus, die auch eine Tradition von gemeinsamer Arbeit hat, jetzt auch gemeinsamen Protest. Die wesentliche Forderung ist höhere Abfindungen in Form von Arbeitslosengeld.
Die zweite große Gruppe sind die 150 Millionen Wanderarbeiter, die unter extremen Bedingungen ausgebeutet werden. Wesentliche Gründe für ihren Protest sind zu niedrige Löhne – die Inflation steht bei acht Prozent.
Ein anderes großes Thema sind ausstehende Löhne. Das Problem ist besonders gravierend in der Bauindustrie, wo bei einer Befragung Ende 2007 72,2 Prozent der Arbeiter angegeben haben, dass Löhne verspätet oder gar nicht gezahlt wurden. Das ist besonders hart, weil die Wanderarbeiter normalerweise mit dem Lohn ihre Familie auf dem Land unterstützen.
Kurz von dem chinesischen Neujahrsfest steigt die Zahl der Proteste steil an, weil die Arbeiter zum Feiern zurück in ihre Heimatorte reisen und natürlich eine volle Lohntüte mitnehmen wollen.
Oft entzünden sich Proteste auch an ganz elementaren Fragen wie Respekt und Menschenwürde – Arbeiter begehren gegen Misshandlungen in den Betrieben auf. Die Misshandlungen sind manchmal indirekt: Fehlender Arbeitsschutz oder die gängige Praxis, die Arbeiter in überfüllten Wohnheimen einzusperren, hinter Mauern und Stacheldraht. Aber auch direkte Misshandlungen, Beleidigungen und Schläge durch Management, Vorarbeiter und betrieblichen Sicherheitsdienst sind weit verbreitet.
Wie sieht es auf dem Land mit dem Potential für Protest aus?
Es gibt zahlreiche Bauernproteste. 325 Millionen Chinesen sind Bauern, die Mehrheit lebt auf dem Land.
Die Landfrage ist zentral in China. Die großen Umsiedlungen von Millionen Menschen anlässlich des Baus des Dreischluchtenstaudamms sind bekannt. Viele Bauern warten heute noch darauf, ein neues, nicht überflutetes Stück Land zugewiesen zu bekommen.
Dazu kommt eine große Enteignungswelle, die vor allem Kleinbauern trifft. Der Staat weist Ackerland als Industriefläche oder auch Golfplätze für Neureiche aus, um Investoren anzulocken. Den Bauern wird eine Entschädigung versprochen, die dann aber nicht kommt. Von 1997-2004 gingen so 6,6 Mio. Hektar Anbaufläche verloren, wovon 40 Mio. Bauern mitsamt ihrer Familien betroffen waren.
Für Unmut sorgen auch die Umweltverschmutzung und die gängige Praxis, dass lokale Parteisekretäre Sondersteuern für die Bauern erfinden, die im wesentlichen ihre eigenen Taschen füllen.
Die Arten und Weisen, gegen diese Missstände zu protestieren, sind vielfältig. In einem Dorf wurden beim traditionellen Drachentanz die alten Verse durch Slogans gegen ungerechte Besteuerung ersetzt. Weniger subtil war der Protest von Bauern in Huaxi 2005: Nachdem die Behörden über Monate die Beschwerden der Bauern über Umweltschäden durch eine neue Fabrik ignoriert hatten, sammelten sich über 20.000 Bauern im Dorf. Der Protest verwandelte sich nach Übergriffen der Polizei zum Aufstand – mit Angriffen auf die Polizei und lokale Funktionäre. Dieser Aufstand machte sogar international Schlagzeilen – ich vermute aber, dass vieles mehr geschieht, ohne dass wir davon erfahren.
Welche Rolle spielt die offizielle Staatsgewerkschaft „All-Chinesische Gewerkschaftsbund« (ACCGB). Vertritt sie die Interessen der Arbeiter?
Nein, das tut sie leider nicht – obwohl sie organisatorisch stark aufgestellt ist. Der ACCGB organisiert 193 Millionen Arbeiter, davon 60 Millionen Wanderarbeiter. Der Organisationsgrad in den Betrieben liegt bei durchschnittlich 70 Prozent. Der ACCGB beschäftigt eine halbe Million Gewerkschaftssekretäre.
Der ACCGB ist also eine Macht – nur nützt das den Arbeitern nichts. Denn die Staatsgewerkschaft ist de facto der Arm der Kommunistischen Partei in die Betriebe hinein. Offizielles Ziel der Gewerkschaft ist laut Gewerkschaftsgesetz, die betriebliche Produktivität und damit die ökonomische Entwicklung Chinas zu fördern. Das geht normalerweise zu Lasten der Arbeiter.
Das Problem macht sich schon in der Person des für den Betrieb zuständigen Gewerkschaftssekretärs fest – der ist meist auch stellvertretender Geschäftsführer und zuständiger Parteisekretär.
Der Arbeiterbegriff ist im chinesischen Gesetz eh sehr weit gefasst, weil er nämlich Belegschaften und Management umfasst. Skurrilerweise wurden auch schon Manager für Verdienste für die Gewerkschaft ausgezeichnet – soll heißen, Dienste für die Partei. Der Ehrentitel „Held der Arbeit« wurde an vier Unternehmer vergeben und 17 Unternehmer wurden als „vorbildliche Arbeitnehmer« geehrt.
Das Gewerkschaftsgesetz sieht kein Streikrecht vor. Dieses Recht wurde 1982 aus der chinesischen Verfassung gestrichen mit der Begründung, das politische System habe „Probleme zwischen dem Proletariat und den Unternehmenseignern beseitigt«. Da in der wirklichen Welt aber permanent die Interessengegensätze von Managern und Arbeitern aufeinanderprallten, wurde 2001 ein Gesetz erlassen, welches Verhandlungen auf betrieblicher Ebene zulässt. Die gibt es auch, wobei die Staatsgewerkschaft nicht versucht, die Belegschaften zu mobilisieren, sondern den Konflikt zu moderieren und zu schlichten, damit es gar nicht erst zu Streiks kommt. Bei sehr kampfbereiten Belegschaften wird der Druck auf die Gewerkschaftsfunktionäre so groß, dass bei den betrieblichen Vereinbarungen tatsächlich etwas für die Arbeiter rausspringt. Das reflektiert aber eher das gestiegene Selbstbewusstsein der Belegschaften als einen Kurswechsel der Gewerkschaft.
Gibt es von der Staatsgewerkschaft unabhängige Gewerkschaften in China?
Nein. Der Aufbau von Gewerkschaften neben der Staatsgewerkschaft ist verboten und wird auch mit allen Mitteln bekämpft. Betriebliche Aktivisten, die unabhängige gewerkschaftliche Strukturen aufbauen wollen, haben gleich mir drei Kräften zu kämpfen: Dem Management, der Staatsgewerkschaft und dem Staat in Form von Polizei und Geheimdienst.
Das ist gefährlich, manchmal lebensgefährlich. Huang Qingnan, ein Arbeiteraktivist mit dem wir seit längerem zusammenarbeiten, wurde am 20 November letzten Jahres angegriffen, als er das Zentrum für Wanderarbeiter in Dagongzhe verließ. Die Angreifer stachen mehrfach auf ihn, sein Bein ist dauerhaft geschädigt. Schon vorher waren die Mitarbeiter des Zentrums, die sich für die Rechte der Wanderarbeiter einsetzen, mehrfach bedroht worden. Oft heuern die staatlichen Organe oder das Management zur Einschüchterung von Aktivisten Schlägerbanden an.
Auch eine regionale oder gar nationale Vernetzung von Protesten gibt es nicht. Von so etwas wie der Gründung und dem Erfolg der Solidarnosc in Polen Anfang der 80er sind wir weit entfernt.
Die Situation der Arbeiterbewegung in China ähnelt eher der in England im 19. Jahrhundert als der im heutigen Westeuropa: Eine schnelle Industrialisierung saugt Millionen Menschen vom Land in die Betriebe. Diese Menschen haben keine Tradition von Kampf und Organisation, sind aber mit sehr harten Bedingungen konfrontiert. So entstehen spontane Ad-hoc Proteste, Einer steht auf und sagt „Ich nehme das nicht mehr hin, ich bin ein Mensch und werde behandelt wie ein Tier«. Andere folgen, und plötzlich wird das Management von aufgebrachten Belegschaften in Verhandlungen gezwungen, Zugeständnisse werden durchgesetzt. So kommt Erfahrung zu Erfahrung, eine Tradition und auch Selbstbewusstsein bildet sich. Daraus kann sich in einem langen Erfahrungsprozess das Fundament einer unabhängigen Arbeiterbewegung bilden. Nichts anderes ist ja auch der Gründung zum Beispiel der westeuropäischen Gewerkschaften vorausgegangen. Zu diesem Prozess versuchen wir vom Asian Monitor Resource Center einen Beitrag zu leisten, indem wir Erfahrungen von Protesten weiterverbreiten und Aktivisten vor Ort Analysen und Infos über ihre Rechte zur Verfügung stellen.
2009 jährt sich die Niederschlagung der Demokratiebewegung zum 20ten mal. Gibt es Kontinuitäten zwischen der Bewegung von damals und der Arbeiterbewegung heute?
Ja und nein. Zuerst mal ist wichtig zu wissen, dass an der „Studentenbewegung 1989″ sehr viele Arbeiter teilgenommen haben. Die Bewegung startete als politische Bewegung gegen Korruption und für politische Öffnung. Die Besetzung des Platzes des Himmlischen Friedens durch die Studenten Mitte Mai war ein Einschnitt. Ab diesem Moment breitete sich die Bewegung in der Arbeiterschaft aus. Am 18. Mai 1989 demonstrierten mehr als eine Million Menschen in Solidarität mit den Studenten – darunter zahlreiche Arbeiter unter dem Banner ihrer Fabriken.
Arbeiter fingen an, sich außerhalb der Kontrolle der Parteiführung zu organisieren und unabhängige Gewerkschaften zu gründen. In zahlreichen Fabriken entstanden autonome Arbeiterkomitees. Die größte und bedeutendste dieser unabhängigen Gewerkschaften war der am 17. Mai gegründete Autonome Arbeiterverband Peking, der Anfang Juni bereits 20.000 registrierte Mitglieder zählte.
Diese Ausweitung in die Arbeiterschaft war der wesentliche Grund, warum die Parteiführung die Bewegung niederschlagen ließ. Auch bei der Repression gilt: Sie traf nicht nur die Führer der Studenten, auch in den Betrieben wurde jeder Ansatz von Selbstorganisation wieder ausgemerzt. Leider ist durch die Abwicklung der Staatsindustrie auch viel der Erfahrung des Aufbruchs von 1989 verloren gegangen – die Aktivisten von damals sind die Arbeitslosen von heute.
Der Protest damals hatte einen politischen Auslöser – Korruption und enttäuschte Reformhoffnungen. Dadurch kam es sofort zur Konfrontation mit Staat und Partei. Diese Konfrontation hat die Bewegung verloren.
Die Proteste heute gehe einen anderen Weg: Sie starten als ökonomische Proteste, Thema sind niedrige und ausbleibende Löhne, Arbeitszeiten und -bedingungen. Die meisten Arbeiter vermeiden politische Slogans, um die Partei nicht direkt herauszufordern. Aber durch die enge Verzahnung von Management, Gewerkschaft und Partei wird jeder ökonomische Kampf politisch aufgeladen. Die bloße Existenz von Streiks und Protesten stellt ja schon die KP-Ideologie der „Klassenharmonie« in Frage. Deshalb denke ich, dass der Kampf für Arbeiterrechte und der Kampf für mehr Demokratie ein Kampf sind.
Apo, was sind deine Erwartungen an die internationale Gewerkschaftsbewegung und speziell an die deutschen Gewerkschaften?
Wir brauchen mehr Austausch von Angesicht zu Angesicht, persönliche Treffen. Wir sollten ein internationales Netzwerk aufbauen und Erfahrungen austauschen.
Es ist doch so: Was die chinesische Arbeiterbewegung macht, ist relevant für Arbeiter in der ganzen Welt und umgekehrt. Nach China fließen Investitionen von Konzernen aus der ganzen Welt, natürlich auch aus Deutschland. In Deutschland wurden über Jahrzehnte von den Arbeitern höhere Löhne und Sozialstandards durchgesetzt, von denen aber Konzerne wie Siemens in ihren chinesischen Fertigungsorten natürlich nichts wissen wollen. Das ist nicht nur für die ausgebeuteten chinesischen Arbeiter ein Problem, sondern auch für die Arbeiter in Deutschland – mit Verweis auf das Lohnkostengefälle werden in Deutschland Zugeständnisse erpresst. Deshalb müssen wir gemeinsam einen der Grundgedanken der Arbeiterbewegung aus der Gründungszeit wiederbeleben: Den Internationalismus. Das Kapital hat sich globalisiert, die Arbeiterbewegung muss es auch tun.
(Dieses Interview ist erschienen in: marx21, Heft 6, Juni 2008)
marx21-Schwerpunkt: »Wie rot ist China?«
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