Israels Armee verschärft die Angriffe auf den Gazastreifen. Offizieller Auslöser für diesen Krieg war wie immer der Raketenbeschuss durch die islamische Hamas und die ihr nahestehenden Kassam-Brigaden. Doch das sind nicht die einzigen Gründe für die israelische Regierung, meint Jules Jamal El-Khatib
Auf ein Gebiet von knapp 40 Kilometern Länge und 6 bis 14 Kilometern Breite, in dem 1,7 Millionen Menschen eingesperrt leben, sind inzwischen mehr als 1000 Luftangriffe niedergegangen. Die israelische Armee tötete mehr als 100 Menschen und verletzte über 1000.
Möglichkeiten, vor der Gewalt und der Bombardierung zu fliehen, haben die Bewohner des Gazastreifens nicht, denn er ist hermetisch abgeriegelt. Erst vor wenigen Tagen erklärte sich Ägypten bereit, die Grenze zu öffnen.
Die Behauptung eines palästinensischen Erstschlags setzt blindes Vertrauen in die israelische Politik voraus. In Wahrheit begann der Krieg schon vor der gezielten Ermordung des militärischen Führers der Hamas Al-Dscharbari.
Palästinenser erschossen
Am Montag, den 5. November wurde der 23 Jahre alte Ahmad Nabhani von israelischen Soldaten erschossen, als er sich der Sperre näherte, die den Gazastreifen von der Außenwelt abtrennt. Nabhani war laut Zeugenaussagen »geistig behindert« und stellte für die israelische Armee keinerlei Bedrohung dar.
Einen Tag später erschossen israelische Soldaten, die in den Süden des Gazastreifens eindrangen, einen 13-jährigen Jungen. Nach Untersuchungen einer palästinensischen Hilfsorganisation wurde Ahmed Younis Khader Abu Daqqa gegen 16.30 Uhr erschossen, während er mit Freunden Fußball spielte.
Als Reaktion auf diese Angriffe griffen verschiedene palästinensische Gruppen israelisches Gebiet mit Raketen und Granaten an. Diese Reaktion gilt als Auslöser für die israelische militärische Aggression.
Gezielte Eskalation
Israels Regierung behauptet, dass die Angriffe auf den Gazastreifen und die Ermordung des Hamas-Generals der Sicherheit dienen würden. Auch in den Massenmedien wird behauptet, dass die Eskalation der Gewalt ausschließlich von Hamas ausgehen würde.
In Wirklichkeit treibt die israelische Regierung die Eskalation voran. Die Hamas wird als führende Organisation im palästinensischen Widerstand angesehen. Ihrer Politik des bewaffneten Widerstands in Gaza steht im Westjordanland in den letzten Jahren mehr und mehr ziviler Widerstand entgegen, für den vor allem die Dörfer Nilin und Bilin stehen.
Erst die israelischen Angriffe lassen Gewalt für viele Palästinenser wieder zu einer Alternative werden, vor allem im Gazastreifen, da dort Aktionen des zivilen Ungehorsams deutlich schwerer möglich sind als im Westjordanland.
Wahlkampf in Israel
Ein weiterer Grund für den Krieg dürfte der nahende Wahlkampf in Israel sein. Auch schon vor fast vier Jahren fand ein Überfall auf den Gazastreifen mit Tausenden Verletzten und Toten vor dem Hintergrund eines Wahlkampfes statt.
Gershon Baskin, Vermittler zwischen israelischer Regierung und der Führung der Hamas, bezweifelt öffentlich, dass der Krieg eine Folge der jüngsten Raketenangriffe war. Baskin sagt, dass die Hamas nicht nur die Waffenruhe verlängern, sondern auch der israelischen Regierung einen dauerhaften Friedensplan anbieten wollte. Dieser Plan wurde ausgerechnet von dem nun ermordeten Al-Dscharbari mit verhandelt.
Auch die israelische Friedensbewegung und immer größere Teile der Bevölkerung haben Zweifel an der Darstellung der israelischen Regierung. Die zweitgrößte Tageszeitung Israels Haaretz veröffentlichte schon am zweiten Tag des Krieges einen Artikel darüber, wie die israelische Regierung mit dem Krieg Wahlkampf machen und sich die Stimmen der Ultrarechten sichern will.
Israel unter Druck
Nicht nur in Israel erkennen immer mehr Menschen, dass die israelische Politik zu massiven Menschenrechtsverletzungen führt. In Ägypten, einst der engste israelische Verbündete in der arabischen Welt, regiert mit Mursi nun ein Präsident, der es sich nicht leisten kann, seine Basis im Land durch eine zu israelfreundliche Politik zu verlieren.
Die ägyptischen Muslimbrüder stehen, auch dank der Massendemonstrationen für Palästina auf ägyptischen Straßen, der israelischen Politik deutlich kritischer gegenüber als noch Mubarak und der ehemalige ägyptische Machtapparat. Ähnlich verhält sich die Situation in den anderen Staaten des arabischen Frühlings. In Tunesien gingen Zehntausende auf die Straße, um ihre Solidarität mit den Palästinensern zu zeigen.
Vor diesem Hintergrund will Israel seine Rolle als Regionalmacht unterstreichen und im Zeitalter der dramatischen Veränderungen durch die arabische Revolution Stärke demonstrieren.
Solidarität wächst
Währenddessen schweigen die europäischen Regierungen zu den israelischen Menschenrechtsverletzungen trotz des Drucks, den auch die Bewegungen in ihren Ländern ausüben. Die griechischen Anti-Troika-Demonstrationen der vergangenen Tage sprachen sich nicht nur für ein Ende des neoliberalen Diktats aus, sie forderten auch Solidarität mit der Bewegung in Palästina und ein sofortiges Ende der israelischen Bombardierungen.
Zwar hat der Druck der europäischen und arabischen Bewegungen die Lebensbedingungen der Palästinenser noch nicht wirklich verbessert. Doch die Solidarität wächst durch die Demonstrationen weltweit, und somit verbessern sich auch die Perspektiven des Widerstands in Palästina.
Zur Person:
Jules Jamal El-Khatib betreibt das Blog Die Freiheitsliebe.
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