Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus haben die Wähler DIE LINKE abgestraft. Jetzt ist Zeit, die Partei neu aufzustellen, meint die marx21-Redaktion
Nach der Landtagswahl nimmt Berlin unter den Bundesländern eine Sonderposition ein: Von den fünf im Parlament vertretenen Parteien verorten sich vier, nämlich SPD, Grüne, LINKE und die Piraten im breiteren »linken Lager«, also links der bürgerlichen Parteien CDU und FDP. Damit reflektiert das Wahlergebnis im Gesamten die Wellen von politischer Bewegung, die Berlin in den vergangenen zwei Jahren durchlaufen haben: Das erfolgreiche Wasservolksbegehren, die Proteste gegen die einseitig an Wirtschafts- und Hochverdienerinteressen ausgerichtete Bebauung des Spreeufers, die Proteste von Schülern, Eltern und Lehrern gegen die Situation an Schulen und Kitas und die neuerdings wachsende Bewegung gegen steigende Mieten und Verdrängung aus den Innenstadtlagen.
Offensichtlich haben sich die Menschen, die diese Bewegungen getragen oder mit Sympathie begleitet haben, nicht vom rot-roten Senat vertreten gefühlt – sowohl SPD als auch DIE LINKE haben verloren. Das nimmt nicht Wunder, sind die Bewegungen in Berlin doch allesamt gegen Entwicklungen gerichtet, die Rot-Rot entweder selbst eingeleitet oder zumindest nicht verhindert hat.
Leitthema »Soziale Gerechtigkeit«
Wichtigstes Thema war mit 36 Prozent »soziale Gerechtigkeit«. Das erklärt sich aus der Berliner Sozialstruktur: Viele Hartz-IV-Empfänger und Rentner mit Einkommen auf Hartz-IV-Niveau, viele, gerade junge Arbeitnehmer in befristeten, informellen und prekären Arbeitsverhältnissen, ebenso prekäre Studenten und ein öffentlicher Dienst, der seit Jahren mit Lohnsenkungen und steigenden Arbeitszeiten konfrontiert ist.
Von diesen Menschen haben sich viele vom rot-roten Senat abgewendet, anteilig mehr von der SPD als von der LINKEN. Das sich Wowereit mit der SPD als Triumphator feiern lässt, ist grotesk. Die SPD hat nach links und rechts Stimmen verloren: 12.000 an die CDU, 18.000 an die Grünen, 14.000 an die Piraten, 2000 an DIE LINKE. Allein die Verluste an die Grünen sind größer als die kombinierten Zugänge von FDP, Nichtwählern und den Anderen (16.000).
Sarrazin-Strategie in Neukölln
Interessant ist die Strategie der SPD in Neukölln gewesen. Hier ging bei der Wahl zur Bezirksversammlung mit Heinz Buschkowsky ein Sarrazin-Sympathisant an den Start. Sarrazin spendete 5000 Euro für dessen Wahlkampf, Buschkowsky brachte das gleich an die Öffentlichkeit und wurde von Wowereit gegen Kritik vom linken Flügel verteidigt. Die klare Aussage: Wer inhaltlich Sarrazin will, muss Buschkowsky wählen.
Im Ergebnis hat Buschkowsky mit knapp über 42 Prozent (ein Plus von 15 Prozent) ein grandioses Wahlergebnis eingefahren – was in der SPD aufmerksam beobachtet wurde. Es besteht also die Gefahr, dass die SPD künftig auch die Buschkowsky-Linie stärker in ihr Profil integriert, also Stimmenfang auf dem Rücken von Migranten betreibt.
Grüne Agenda-2010-Kandidatin
Die Grünen haben ihr stärkstes Wahlergebnis jemals in Berlin hingelegt, liegen jedoch weit unter dem, was ihnen zu Beginn des Wahlkampfes prognostiziert wurde. Hauptursache sind falsche Schlussfolgerungen aus dem Erfolg von Baden-Württemberg. Künast sollte den Kretschmann machen, als »seriöse Kandidatin« bis weit in die CDU ausstrahlen. Das ging an der linken Stimmung der Stadt völlig vorbei.
Die Kombination einer Kandidatin, die in Schröders Hartz-IV-Kabinett gedient hatte, die Wahlkampfaussage, am Sparkurs festzuhalten und das Liebäugeln mit einer Koalition mit der CDU haben sowohl die Grünen-Basis demoralisiert als auch ihre potentiellen Wähler in Scharen zu den Piraten getrieben. Keine andere Partei hat so viele Wähler an die Piraten verloren (17.000).
Protestpartei Piraten
Die Piraten sind aus dem Stand auf 9 Prozent gekommen und damit die größten Wahlgewinner. Das verlangt nach Erklärung. Bodo Ramelow bietet eine an: Für ihn zeigt der Piraten-Erfolg, dass auch DIE LINKE »endlich begreifen« müsse, »dass es nichts hilft, ein analoges Programm zu haben, aber digital keine Ahnung zu haben«. Diese Analyse, dass die Piraten hauptsächlich gewählt wurden weil sie hip, online und Web 2.0 sind, geben die Zahlen nicht her. Die Piraten, heißt es bei der Forschungsgruppe Wahlen auf der Basis von Befragungen vor und nach der Berlinwahl, würden zu 80 Prozent »aus Unzufriedenheit mit den anderen Parteien« und nur zu zehn Prozent »wegen der Inhalte« gewählt.
Auch bei den eigenen Wählern spielt der Faktor Denkzettel (59 Prozent) eine wichtigere Rolle als etwa der Faktor »Freiheit des Einzelnen« (51 Prozent). Einen Hinweis auf den zumindest partiellen Charakter der Piraten als »klassische Protestpartei« findet sich aber durchaus auch in der Sozialstruktur ihrer Wähler: So schneiden die Piraten etwa mit 13 Prozent überdurchschnittlich bei den Erwerbslosen ab.
Potenzielle LINKE-Stimmen
Kurzum: Die Rolle der Protestpartei gegen die herrschenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die bei der Bundestagswahl 2009 noch DIE LINKE innehatte, ist in Berlin auf die Piraten übergegangen. Das Gros dieser Stimmen dürften potenzielle LINKE-Stimmen sein – schließlich sind die Piraten mit linkem Profil in den Wahlkampf gegangen, haben sich für den Mindestlohn verwandt und sich am offensivsten von allen Parteien auf das Wasservolksbegehren und ähnliche Initiativen bezogen.
Damit dürften die Piraten auch die Parteien rechts von der CDU ein Stück weit geblockt haben, die insgesamt auf 4,3 Prozent kamen. Angesichts der Tatsache, dass der Boulevard durchgehend versucht hat, die Themen Kriminalität und Ausländer in das Zentrum das Wahlkampfs zu rücken, war dieses schwache Abschneiden der Rechten und die relativ milden Zuwächse der CDU (die im wesentlichen von der FDP kamen) nicht zu erwarten und sind erfreulich, aber kein Grund zur Entwarnung. Ohne eine konstante Gegenmobilisierung gegen Demos, Veranstaltungen und Infostände der Rechten, hätte das Ergebnis wohl anders ausgesehen.
LINKE haftet für Rot-Rot
Die Verluste der LINKEN, insbesondere die Abwanderung von 13.000 Wählern an die Piraten, zeigt vor allem eins: Der Versuch, sich nach zehn Jahren Verantwortung in der Regierung im Wahlkampf als Oppositionspartei darzustellen, war nicht glaubwürdig. Die Wahlkampfstrategie, sich im wesentlichen als linkes Korrektiv der SPD darzustellen, ist gescheitert. Vielmehr wurde DIE LINKE, und das nicht zu Unrecht, für die schlechte soziale Gesamtbilanz des rot-roten Senats mit ihn Haftung genommen: 2011 wählten nur noch halb so viele Menschen DIE LINKE wie 2001.
Daran ist die Führung der Landespartei nicht unschuldig, weil sie in großer Regelmäßigkeit die Chancen, sich auf Seiten der berechtigten Proteste der Berliner Bevölkerung zu positionieren, nicht wahrgenommen hat: Ob Charité-Streik oder Mieterdemo – meist engagierten sich viele Basismitglieder auf der richtigen Seite der Barrikade, hatten aber keine Unterstützung oder gar Gegenwind von der Landesführung. Eklatant war dieser Bruch beim erfolgreichen Wasservolksbegehren, gegen das die Parteispitze sich offen gestellt hatte – mit verheerenden Folgen für die Moral der Parteimitglieder, von denen sich viele für das Volksbegehren engagiert hatten.
Wer der Privatisierung von Wohnungsbaugesellschaften und Mietsteigerungen zustimmt, kann im Wahlkampf noch so viel für bezahlbaren Wohnraum plakatieren – geglaubt wird ihm nicht. Wenn dazu noch die Innenwendung der Gesamtpartei kommt, wird es natürlich schwer. Dennoch geht die jetzt gehörte These, dass im wesentlichen Mauer-und Castro-Debatte für das schlechte Abschneiden verantwortlich sind, an der Realität vorbei. Die Verluste der LINKEN sind zurückzuführen auf die schlechte Performance in der sozialen Frage, wie zum Beispiel im städtischen Wohnungsbau. Deswegen hatte die Partei auch schon 2006 den Löwenanteil ihrer Wähler verloren.
Partei des Widerstands werden
Aufgabe für die Zukunft ist es, diese Glaubwürdigkeitslücke zu schließen. Dafür muss sich die Partei politisch neu aufstellen, nicht länger als bloßes Beiboot der SPD, sondern als Partei des sozialen Widerstands. Es gibt dafür diverse Anknüpfungspunkte – ein laufender Arbeitskampf an der Charité, ein Volksbegehren gegen S-Bahn-Privatisierung, die Bewegung gegen Mietsteigerungen.
Voraussetzung dafür, dass diese Chancen genutzt werden, ist aber eine Aufarbeitung der Regierungszeit – sollte sich die Berliner LINKE jetzt als Beiboot der SPD im Wartestand verstehen, dann wird sie auch in der Opposition nicht weiter aufbauen. Findet sie den Weg an die Seite der protestierenden Bevölkerung und wird Motor des Widerstands, dann ist auch eine Regeneration aus dem breiten linken Potential der Stadt möglich. Einzelne Ergebnisse verweisen in diese Richtung – DIE LINKE.Neukölln konnte beispielsweise mit einem linken Wahlkampf leichte Zugewinne verbuchen.
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