Vor einer Woche wurde George Zimmerman, selbsternannter Nachbarschaftswächter und Mörder des unbewaffneten schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin, von einem Gericht in Florida freigesprochen. Der Freispruch hat bestätigt, dass Rassismus in den USA noch immer zum Alltag gehört.
Zimmerman wurde unter der Anklage des Mordes vom Bundesstaat Florida strafrechtlich verfolgt und der Prozess hat große Beachtung in den Medien gefunden. Für viele Menschen hat dieser Prozess die weit verbreitete, alle Bereiche des Strafjustizsystems durchdringende Rassendiskriminierung offengelegt (1).
Die durch dieses Urteil dargestellte Legitimierung der rassistischen Verhaltensweisen der Ordnungskräfte und Gerichte war offensichtlich. Viele Menschen, die im vergangenen Frühling noch nicht gegen Rassismus auf die Straße gingen, wurden durch den Gerichtsentscheid wachgerüttelt. Tausende Menschen sind am folgenden Tag auf die Straßen gegangen, um Gerechtigkeit für Trayvon Martin zu fordern. In New York schlug eine Stimmung von Schock und Entmutigung unter den Demonstranten rasch in eine von Mut und Entschlossenheit geprägte um. Als sie am Times Square vorbeizogen, war die Demonstration im New Yorker Stadtteil Manhattan auf 10.000 Personen angewachsen. An der amerikanischenWestküste legten hunderte Demonstranten den Autobahnverkehr in Los Angeles still, während in Oakland, San Diego und Seattle hunderte zurecht empörte Menschen auf die Straßen gingen. Und am Dienstag besetzten antirassistische Aktivistinnen und Aktivisten in Florida mit der Forderung nach Gerechtigkeit das Büro des Gouverneurs Rick Scott.
Tödliche Notwehr
Der Prozess gegen George Zimmerman selbst war ein wohlchoreographierter Tanz um das Hauptproblem: den Rassismus. Zwei Tage nach dem Urteil hat eine Geschworene in einem Interview zugegeben, dass die Geschworenen in ihren Beratungen nicht einmal über Rassismus diskutiert haben (2). Rassendiskriminierung wurde im Prozess kaum erwähnt, mit Ausnahme der rassistischen Stereotypen, die die Verteidigung verwendete, um das Opfer zu verteufeln. Nur in Amerika kommt es vor, dass ein schwarzer Jugendlicher wegen seiner Ermordung vor Gericht gestellt wird. Die Beleidigungen des Opfers Trayvon Martin vor Gericht, hat eine Vorgeschichte, die bis auf die Medienberichterstattung kurz nach Trayvons Tod zurückgeht.
Eine besondere Rolle spielte im Vorfeld des Prozesses Floridas berüchtigtes “Stand-Your-Ground”-Gesetz („Nicht von der Stelle weichen“). Das Gesetz erlaubt die in Notwehr handelnde Gewaltanwendung bis hin zu tödlicher Gewalt im Falle eines widerrechtlichen Angriffes. In der Praxis aber wird dieses Recht nur einem bestimmten, nicht-schwarzen Teil der Bevölkerung gewährt (3). Obwohl Zimmerman gar nicht auf dieses Gesetz in seiner Rechtsverteidigung angewiesen war, hatte dessen Bekanntheit Einfluss auf den Freispruch der Geschworenen (4).
Obama bricht sein Schweigen
Der Fall wurde von so vielen People of color verfolgt, weil Trayons Mord keine Ausnahme darstellt. Rassismus ist tief in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt. Statistisch wird alle 28 Stunden ein Afroamerikaner von der Polizei oder Bürgerwehr in den USA ermordet (5). Das von der Polizei und selbsternannten Bürgerwehr betriebene „Profiling“, eine rassistische Profilerstellung von Menschen, wird oft von den Medien verteidigt, in der Politik aktiv vorangetrieben und von Politikern ausgeweitet. Dieses rassistische Verfahren findet sich im Gesetz wieder – das selbe Gesetz, das die Bürger angeblich verteidigen soll. Der berüchtigtste Fall ist das „Stop & Frisk“-Programm der Polizei in New York City, bei dem Menschen aufgehalten und durchsucht werden können. Trotz des angeblichen Zieles der Herabsetzung der Waffengewalt erwies sich das Programm mehrmals als nicht erfolgreich. Der überwältigende rassistische Charakter ist dagegen offensichtlich (6), sodass Stop & Frisk in den afroamerikanischen Communities als tägliche polizeiliche Gewalt erfahren wird. Die systematische Profilerstellung am vorderen Ende der rassistischen Strafjustizmaschine hat eine Atmosphäre der Angst erzeugt, wobei Schwarz-Sein als Verdachtsgrund anerkannt wird und die tägliche Bedrohung der Afroamerikaner normalisiert wird. Deswegen kann der Freispruch Zimmermans als ein Freispruch für das ganze System des Rassismus namens „New Jim Crow“ betrachtet werden.
Einem schwarzen Präsident zum Trotz bleibt das Zeitalter der Gleichberechtigung in den USA noch fern. Fünf Jahre lang hat Präsident Barack Obama dazu geschwiegen. Dabei gab es vor der Ermordung Trayons vergleichbare Gelegenheiten. In einem Land, in dem das Gesetz das Geistesprodukt von Sklavenhaltern und Befürwortern der Rassentrennung ist, lautete die erste Äußerung des Präsidents: „Achten Sie das Gesetz“ (7). Erst am Freitag, als die landesweiten Proteste ihn dazu zwangen, hat sich Obama endlich zum Thema Rassismus und den Erfahrungen der Afroamerikaner in den USA geäußert. Aber die Rede hat Obamas unmittelbare Verantwortung für die Fortführung des Erbes des Rassismus und des System der Masseneinkerkerung verschleiert. Stattdessen hat Obama die Verantwortung auf den einzelnen Amerikaner und die einzelne Amerikanerin verschoben. Fünf Jahre lang hatte Obama die Macht und Kompetenz, etwas gegen rassistische Profilerstellung zu tun. Fünf Jahre lang hat er nichts getan. Und er ist bereit, das System „New Jim Crow“ zu erweitern. Das Hauptamt des Ministeriums für Innere Sicherheit ist zurzeit unbesetzt und Obama hat Interesse bekundet, es mit dem berüchtigten Polizeichef von New York City, Ray Kelly, der für die laufende Durchsetzung des größten rassistischen Profilerstellungsvorgangs im Land, das „Stop & Frisk“, verantwortlich ist. Ziel dieses Programms ist es nach Kelly, Afroamerikanern und Latinos „Angst einzuträufeln, dass es, wenn sie das Haus verlassen, die Polizei auf sie abgesehen haben könnte“ (8). Das ist der Mensch, über den Obama gesagt hat, er habe in New York “außerordentliche Arbeit” geleistet (9).
Mythos »Post-Rassismus«
Programme wie das Stop & Frisk existieren nur, wenn sie ohne explizit rassistische Sprache fortgesetzt werden. Genau in dieser Weise darf der Rassismus heutzutage in den USA gedeihen: Indem ausdrücklich rassistische Redewendungen vermieden werden, wird der „post-rassistische“ Charakter der amerikanischen Gesellschaft behauptet. Dieser Begriff verdeckt den in neuer Form aufgetauchten Rassismus, der auf Afroamerikaner abzielt.
Genau wie ihre Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, dem Arbeitsmarkt und im Bildungswesen den Afroamerikanern selbst vorgeworfen wird, so wurde Trayvon Martin sein eigener Tod vorgeworfen. Diejenigen, die den deutlichen Rassismus hinter diesen Angriffen herausstellen, werden wiederum beschuldigt, sie haben unnötigerweise den Begriff des Rasssismus in die Diskussion hineingetragen. In Wirklichkeit aber wird der Rassismus nur verstärkt, wenn darüber geschwiegen wird.
Es ist klar, dass George Zimmerman ein Rassist und Mörder ist, der nicht frei herumlaufen können sollte. Es gibt keinen Zweifel daran, dass der ganze Prozess auf der Verleumdung der Aktualität des Rassismus in den USA beruht. Der Rassismus hat jeden Aspekt des Prozesses durchgedrungen, genau wie er jeden Aspekt des Alltags von Millionen von Afroamerikanern durchdringt. Je sorgfältiger das Medienspektakel rund um das Kernproblem des Rassismus nachgezeichnet wurde, desto deutlicher wurde ihr umfassender Charakter. Das Urteil ist für Afroamerikaner aber deshalb besonders beunruhigend, weil es nicht nur das ungeheuerliche System des Rassismus legitimiert hat, sondern auch die Entbehrlichkeit der Leben schwarzer Männer im Auge des Gesetzes gezeigt und dadurch rassistischer Bürgerwehr überall grünes Licht gegeben hat.
Die Kämpfe zusammenbringen
Schon vor der Urteilsverkündung haben Politiker und Medien zur Besonnenheit aufgerufen. Doch eine solche Ungerechtigkeit trieb Tausende von Menschen auf die Straßen und hat zu einem landesweiter Empörung und einem Aufruf zum Handeln geführt, dem am Samstag Demonstranten in über 100 Städten folgten. Mehrere Demonstrationen und Diskussionen sind im Vorfeld des 50. Jubiläum des „Marsches auf Washington“ am 24. August geplant. Innerhalb eines Tages hat eine Petition der Bürgerrechtsbewegung NAACP für die Eröffnung eines Bürgerrechtsfalles gegen Zimmerman 200.000 Unterschriften bekommen – eine Zahl die sich seitdem verdoppelt hat. Dies sind erste gute Schritte und sollten von allen Sozialistinnen und Antirassisten unterstützt werden.
Dennoch sind viele Amerikaner erschüttert und noch damit beschäftigt, das Urteil zu verdauen – vor allem Weiße, die keine eigenen Erfahrungen im System New Jim Crow gemacht haben. Andere wiederum sind zurecht erzürnt, sehen aber keine Möglichkeit, den Rassismus in der gesamten Gesellschaft entgegenzutreten. Aber der Kampf für die Befreiung der Schwarzen kann nur gewonnen werden, wenn er von Schwarzen selbst geführt ist. Eine ältere Generation von afroamerikanischen Führern der sozialen Gerechtigkeitsbewegung ist großenteils ruhig gestellt durch gewaltsame Repression oder Kooption. Die Aufgabe einer neuen Generation von führenden Personen muss es sein, den heutigen Zorn zu verschärfen und eine Weiterentwicklung zu ermöglichen. Das bedeutet, dass die Forderung nach Gerechtigkeit für Trayvon Martin auch zu einer Forderung nach Gerechtigkeit für die hunderten schwarzen Männer, die jedes Jahr von Ordnungskräfte ermordet werden, werden muss. Es muss zu der Forderung nach der Abschaffung des gesamten Apparats von institutionalisiertem Rassismus kommen, der im Gefängnissystem, aber auch in der rassistischen Profilerstellung durch die Polizei, in der rassistischen Politik der Drogenbekämpfung und natürlich in der Justiz verkörpert wird.
Dreh- und Angelpunkt des amerikanischen Kapitalismus
Ob die Empörung über das von Trayvon erlittene Unrecht in eine Massenbewegung übergehen kann, bleibt noch unklar. Wenn der Kampf Erfolg haben soll, wird es nötig sein, örtliche Kämpfen landesweit zusammenzubringen, zum Beispiel die der Kampf um Gerechtigkeit für Alan Blueford in Kalifornien und für Ramarley Graham in New York. Auch der Kampf gegen andere Formen von institutionalisiertem Rassismus wie die Schließung von Schulstandorten in Chicago und in anderen Städten, rassistische Profilerstellungspolitik wie Stop & Frisk in New York und diskriminierende Haushaltseinsparungen, müssen damit verbunden werden.
Anti-schwarzer Rassismus ist auf historischer Grundlage der Dreh- und Angelpunkt des amerikanischen Kapitalismus. Infolgedessen haben die Höhepunkte des Kampfes für die Befreiung der Schwarzen immer zur Entstehung und zum Wachstum von anderen Bewegungen geführt – hauptsächlich für die Abschaffung der Sklaverei und in der Bürgerrechtsbewegung der 60er und 70er Jahre. Der Kampf für die Befreiung der Schwarzen muss im Mittelpunkt antikapitalistischer Bewegungen in Amerika stehen und deshalb muss der Kampf für Gerechtigkeit für Trayvon Martin und alles, was er darstellt, eine Priorität für die amerikanische Linke bleiben. Es wird sicherlich kein einfacher Weg sein, aber dieser Kampf ist in der Lage, die gegebene Bedingungen schnell zu verändern. Voraussetzung dafür ist die Zusammenarbeit aller antirassistischen Kräfte, damit der Zorn in organisiertes, zielorientiertes Handeln übergeht und Rassismus an ihrer Wurzel bekämpft wird. Das Urteil im Zimmerman-Prozess war ein Schritt zu weit für Millionen von im Albtraum des Rassismus lebenden Amerikanern. Nur wenn dieser Kampf sich mit den anderen antirassistischen Kämpfen von unten zusammenschließt kann es auch der erste Schritt einer Befreiungsbewegung sein.
Sean Larson ist Mitglied der International Socialst Organization (ISO) in New York City.
(1) http://www.gallup.com/poll/153776/blacks-nonblacks-hold-sharply-different-views-martin-case.aspx
(9) http://www.ny1.com/content/top_stories/185608/obama-has-high-praise-for-police-commissioner-kelly