Gegen die umstrittene Parlamentswahl in Russland Anfang Dezember haben Zehntausende demonstriert. Andrej Kolganow und Alexander Busgalin beleuchten die Hintergründe
Warum haben die Bürger Russlands, nach so vielen Jahren des Stillstands, die Straße wieder entdeckt? Wie erklärt es sich, dass eine erste Kundgebung nahe der U-Bahn-Station Tschistie Prudy im Moskauer Stadtzentrum 6000 oder 7000 Menschen anzog und eine zweite, diesmal auf dem Bolotnaja-Platz, gleich zehnmal so viele?
Ist es die Krise? Der fallende Lebensstandard? Aber als die Krise zum ersten Mal zuschlug, gab es nichts dergleichen.
Wenn die Menschen in den Abwärtsstrudel geraten, gehen sie nicht als erstes demonstrieren, sie treibt vielmehr die Sorge ums bloße Überleben. Sie können natürlich in die nackte Verzweiflung getrieben werden, und daraus wird vielleicht ein Aufstand, eine Meuterei, eine Revolte, aber doch keine öffentliche Veranstaltung.
Geduldsfaden gerissen
Die Menschen, die sich auf dem Bolotnoja-Platz versammelten, waren keine Verelendeten oder an den Rand Gedrängten. Es waren aber nicht die üblichen Verdächtigen, denen man sonst auf politischen Versammlungen begegnet. Wahrscheinlich waren sie auch dabei, gingen aber in der Menschenmenge unter.
Hier müssen wir die Antwort auf unsere Frage suchen: Wenn Menschen, denen es offensichtlich gut geht und die es gewohnt sind, auf eigenen Beinen zu stehen, systematisch gedemütigt werden und ihnen die Selbstachtung genommen wird, reißt irgendwann der Geduldsfaden. Sie wollen nicht länger schweigend leiden.
Russlands Bürger wollen Demokratie
Es sind diese Menschen, die sich den Protesten auf Moskaus Straßen anschließen. Zu schamlos und zu lange mussten sie diesen Wahlzirkus über sich ergehen lassen, in dem das gesteckte Wahlziel durch Zuschanzen von Bergen an Stimmzetteln zugunsten der Partei der Macht erreicht wird, durch das Karussel wenig vertrauenswürdiger Wähler, durch den Ausschluss allzu neugieriger Wahlbeobachter oder einfach durch plumpe Wahlfälschung. Vor dem Hintergrund solcher Methoden erscheinen die Beschwerden wegen ungleicher Werbemöglichkeiten während des Wahlkampfes beinahe unbedeutend.
Die Bürger Russlands haben gezeigt, dass sie Demokratie wollen, und nicht das Possenspiel, das ihnen bislang angeboten wurde. Sie wollen richtig wählen und gehört werden. Die mannigfaltigen Organisationen, die die Kundgebungen veranstaltet oder sich daran mit ihren Plakaten und Bannern beteiligt haben, haben allesamt demokratische Forderungen erhoben. Das ist auch vollkommen richtig so, denn es sind die Forderungen, die eine die Opposition vereinigende Plattform bieten. Alle brauchen ganz unabhängig von der genauen Schattierung ihrer politischen Ansichten ehrliche Mechanismen, um die abgegebenen Stimmen zu zählen, auch wenn diese Instrumente in der Anfangsphase nur wenig zur Ehrlichkeit beitragen.
Machthaber schließen die Reihen
Die Machthaber spucken aber auf die Slogans und Forderungen der Opposition. Glaubt ihr im Ernst, der Krach der Veranstaltungen erschreckt sie? Dass sie auf einmal anfangen werden, ihre mit unserem Geld vollgestopften Taschen freiwillig auszuleeren? Sollte es zu einem Machtwechsel kommen, würden sie aber womöglich dazu gezwungen.
Daher schließen sie die Reihen, um ihr Recht auf Diebstahl, Bestechung und Veruntreuung zu verteidigen. Um ihnen wirklich Angst einzujagen, müssten es nicht 7000 oder 70.000 sein, sondern mindestens 700.000. Woher will die Opposition so viele Aktivisten nehmen?
Auf Alltagsprobleme besinnen
Die Opposition kann ihre Anhängerschaft vergrößeren, wenn sie sich besinnt, dass es in Russland auch Menschen gibt, die sich weniger über die Wahlauszählung aufregen, als über die Frage, ob sie es bis zum Monatsende schaffen, ob sie für ihre Kinder einen Hortplatz finden, ob das Geld für ihre Schulsachen reicht und dafür, morgen Essen auf den Tisch zu bringen, die Uni zu finanzieren oder eine Wohnung zu den derzeit herrschenden exorbitanten Preisen zu bezahlen.
Wenn die demokratische Opposition sich auf diese Alltagsprobleme besinnt, die auf einem Großteil der Bevölkerung lasten, dann hat sie eine Chance, Gehör bei der breiten Mehrheit zu finden und sie für sich zu gewinnen. Wenn sie aber ehrlichere Wahlen nur als Mittel betrachtet, Parlamentssitze zu ergattern, wird der ganze Dampf der Bewegung entweichen. Der ganze öffentliche Aktivismus wird in sich zusammenfallen. Außerdem hat die Opposition bislang keine vernünftige Antwort auf die Frage entwickelt, wie die herrschende Elite gezwungen werden kann, auf ihr Gewohnheitsrecht, den Bürgerwillen zu manipulieren, zu verzichten. Denn Russlands Herrscher werden ihre Stellungen nicht freiwillig aufgeben.
Oppositionsparteien auf Tauchstation
Und was ist mit den politischen Parteien, die sich angeblich zur Opposition rechnen? Da waren rechte Nationalisten auf dem Bolotnaja-Platz, aber ihr Anführer, der Schreihals und Demagoge Schirinowski, der im Fernsehen so gern als der furchtlose Vertreter der Wahrheit auftritt (und zugleich so abstimmt, wie der Kreml das von ihm verlangt), war nirgends zu sehen. Und der intelligente Vielschwätzer Jawlinski, der in seinem Programm so viel von Rechten und Freiheiten schreibt, aber so hilflos ist, wenn es um die Umsetzung geht, ließ sich auch nicht blicken, obwohl seine Anhänger in großer Anzahl da waren.
Mironow, dessen Partei Gerechtes Russland sich so herzzerreißend um die allgemeine Wohlfahrt sorgt, während sie ansonsten die loyale Opposition gegenüber den Exzellenzen Regierenden gibt, fehlte ebenfalls – auch wenn Oxana Dimitriewa von der Tribüne aus eine Ansprache hielt. Schließlich zeigten sich auch die Anführer der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation nicht, obwohl Plakate verschiedener ihrer Parteigliederungen zu sehen waren. Vielleicht fühlt sich deren Führer Gennadi Sjuganow in seiner Rolle als loyaler Oppositioneller wohler.
Neue Aktionsforen gesucht
Aber wir sollten nicht zu hart urteilen. Schließlich sind all die hier aufgelisteten Parteien bereit, einer Protestversammlung beizuwohnen. Aber wie weit wollen sie mit ihren Forderungen gehen? Und welche radikalen Aktionen sind sie bereit zu initiieren? Werden diese Parteien ihre Rolle als gehorsame und unaufdringliche Verhandlungspartner abschütteln?
Vor allem haben sie überhaupt den Wunsch und besitzen sie die Fähigkeit, sich mit der Masse der Bürger zu vereinen, die keiner politischen Partei angehören, um Aktionsformen zu finden, die die Behörden wirklich unter Druck setzen, auch wenn sie über den Rahmen der Occupy-Bewegung nicht hinaus gehen? Oder werden diese Parteien wie schon so oft in der Vergangenheit die Massen und die Wählerschaft bloß so weit führen wollen, bis sie weitere zehn Sitze im Parlament erhalten?
(Aus dem Englischen von David Paenson)
Zu den Personen:
Andrej Kolganow und Alexander Busgalin sind Professoren für Wirtschaftswissenschaften an der Moskauer Lomonossow-Universität und geben das Magazin »Alternativen« heraus.
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