»Juden in Holland fürchten um ihr Leben«, titelte das Internetportal »Der Westen« im Dezember. Der ehemalige EU-Kommissar Frits Bolkestein habe Juden geraten, auszuwandern, hieß es. Schuld daran sei der wachsende Antisemitismus unter marokkanischen und türkischen Jugendlichen. Jaap Hamburger von der Gruppe »Eine andere jüdische Stimme« zeigt im Gespräch mit marx21.de die Verdrehungen in der Berichterstattung und zeichnet ein anderes Bild der Niederlande
marx21: Der ehemalige EU-Kommissar Frits Bolkestein empfiehlt »bewussten Juden«, die auch »äußerlich als Juden erkennbar sind«, aus den Niederlanden auszuwandern. Stimmst du dem zu?
Jaap Hamburger: Dem kann ich aus mehreren Gründen nicht zustimmen. Zunächst einmal, weil er das nicht gesagt hat. Er hat in einem Interview mit einem Mann namens Manfred Gerstenfeld, der zu der Zeit ein Buch über das holländische Judentum schrieb und der dafür Interviews mit einer Reihe politisch rechts stehender Personen führte, etwas anderes gesagt – dazu gleich.
Gerstenfeld selbst ist ein Israeli österreichisch-holländischer Herkunft, der sich nach Kräften bemüht, Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichzusetzen und der die sozialdemokratische Arbeitspartei – und hier vor allem Job Cohen – bezichtigt, »möglicherweise« eine neue Schoa zu fördern, weil die Sozialdemokraten sich dafür ausgesprochen haben, »mit der Hamas zu reden«. Gerstenfeld ist auch Leiter der israelischen Ideologienschmiede – Thinktank, wie es heute heißt – Jerusalemer Zentrum für öffentliche Angelegenheiten, das wohl mit dem Parteienblock Likud verbunden ist.
Zurück zu Bolkestein. Was er wirklich in diesem Interview gesagt hat, wurde von der Gratistageszeitung »De Pers« aufgewärmt. »De Pers« fragte ihn sinngemäß: »Wir lesen in einem kürzlich veröffentlichten Buch, dass Sie gesagt haben, Ihrer Meinung nach gebe es in Holland keine Zukunft für die Kinder orthodox jüdischer Menschen , und dass Sie fürchten, diese Kinder würden schon bald, wenn sie erwachsen sind, keine andere Wahl haben als auszuwandern, entweder nach Israel oder in die USA. Würden Sie diese Äußerung nach wie vor aufrechterhalten?« Bolkestein sprach übrigens nicht von »orthodoxen Juden«, sondern von »Juden, die als solche zu erkennen sind«. Bolkestein leugnete aber nicht, dass er das gesagt habe, und wie aus blauem Himmel entstand daraus ein riesiger Medienrummel.
Wieso hat er über die Kinder gesprochen und nicht über die jetzige Erwachsenengeneration?
Seiner Auffassung nach wird die Zahl marokkanischer Jugendlicher weiter ansteigen und das führe automatisch zu einem Anstieg von Antisemitismus, da der Nahostkonflikt nun mal nicht so schnell gelöst sein wird. Er verknüpft hier also mindestens drei Annahmen miteinander: Marokkanische Jugendliche sind und werden antisemitisch sein, zum Teil wegen des nach wie vor nicht gelösten irsaelisch-palästinensischen Konflikts, und das wird die Lage für die nächste Generation orthodoxer Juden untragbar machen. Er unterstellt dreierlei: Erstens, dass Antisemitismus zunimmt, was zumindest sehr zweifelhaft ist. Er hat keine Statistiken für seine Äußerungen angeführt. Zweitens, dass Antisemitismus hauptsächlich von marokkanischen Jugendlichen ausgeht – auch hier tritt er keinen Beweis an. Drittens, dass man nichts dagegen tun kann.
Was bringt ihn zu diesen Annahmen?
Seine Angst hat damit zu tun, wie er den Zweiten Weltkrieg betrachtet – er wurde 1933 geboren -, welche Lehren er aus dieser Zeit zieht, und dass für ihn daraus eine gefühlsmäßige Verbindung mit dem »jüdischen Volk« erwachsen ist. So hat er es vergangenen Donnerstag in einer beliebten Fernsehshow erklärt.
In der Show nannte er wieder keine Zahlen, sondern bezog sich auf »persönliche E-Mails«, die er bekommen habe, und auf geführte »Gespräche«. Er benutzte Formulierungen wie »jeder weiß doch«, »jeder kann das sehen«, es ist »allgemein bekannt« und so weiter. Er selbst schien ernsthaft davon überzeugt zu sein, dass der Antisemitismus zunimmt, aber es gab keinerlei hieb- und stichfeste Vergleiche mit anderen Phänomenen wie Islamfeindlichkeit.
Die jüdische Gemeinde selbst vermeidet übrigens nach Möglichkeit solche Vergleiche. Antisemitismus wird nicht als Form von Rassismus betrachtet, sondern als das Böse an sich, das mit keinem anderen Phänomen zu vergleichen ist. Allein der Versuch, Antisemitismus mit anderen Arten von Rassismus zu vergleichen, wäre in ihren Augen eine Verharmlosung von Antisemitismus. Das scheint auch Bolkesteins Ansatz zu sein.
Bolkestein hat sich keine Gedanken darüber gemacht, wie sich Antisemitismus messen lässt und wer das misst. Das wichtigste auf diesem Feld tätige Institut, das auch die Ergebnisse vermarktet, ist das Israelinformations- und Dokumentationszentrum (Cidi) in Den Haag, ein Lobby- und Propagandainstitut zugunsten Israels in den Niederlanden, das permanent die offizielle israelische Regierungslinie verbreitet.
Cidi malt ständig das Bild vom steigenden Antisemitismus in der holländischen Gesellschaft mit dem Nebeneffekt, dass auf diese Weise Kritik an Israel unterbunden wird. Bolkestein hat sich nicht auf Cidi bezogen, aber seine ganze Denkweise, seine Einstellung – abgesehen von seinem Rat zur Auswanderung -, atmet den Cidi-Ansatz.
Zusammenfassend: Es gibt keinen Beweis für seine Äußerungen, auch nicht für den Automatismus, den er sieht. Deshalb ist es einfach unmöglich, ihm zuzustimmen oder nicht zuzustimmen. Seine Ideen sind aus der Luft gegriffen.
Aber gibt es nicht doch ein Anwachsen von Antisemitismus unter marokkanischen und türkischen Jugendlichen?
Es werden etliche Vorfälle berichtet, aber es bleibt eben unklar, was das statistisch gesehen bedeutet. Außerdem dient Antisemitismus als Konzept für ein erstaunliches Spektrum von Phänomenen, von den Gasöfen in Auschwitz als Ergebnis der schlimmsten je gesehenen Form von Staatsterrorismus bis zu Beleidigungen von Juden auf der Straße. Diese Bandbreite mit einem historisch aufgeladenen Konzept wie Antisemitismus abzudecken, bedeutet eine Vermengung von völlig unterschiedlichen Phänomenen. Dennoch wird der Diskussion über marokkanischen Antisemitismus diese historische Last übergewälzt und sie wird auf diese Weise grob entstellt.
Viele Juden, insbesondere die offizielle jüdische Gemeinde, können heutzutage anscheinend ohne Antisemitismus nicht leben. Antisemitismus scheint geradezu ein unverzichtbares Instrument zu sein, das Selbstbild aufrechtzuerhalten: ein ständig von Angriffen bedrohtes Volk, das jederzeit an den Rand der Gesellschaft wenn nicht sogar ganz aus der Gesellschaft gedrängt werden könnte. Psychologisch gesprochen ist das eine verständliche, aber auch fatale Schleife, die da erzeugt wird. Natürlich kann die europäische Geschichte eines grausamen, tödlichen Rassismus gegen Juden überhaupt nicht geleugnet werden. Diese Geschichte aber unablässig zu beschwören heißt, eine Art mentales Ghetto für viele Juden zu schaffen.
Es gibt zwar eine breite Palette an Reaktionen, aber es gibt einen gemeinsamen Nenner: Da sind sie schon wieder, die Antisemiten, wir wussten es. Sie waren niemals weg, sie haben sich nur verborgen und abgewartet, bis sie wieder zuschlagen konnten. Auf dieser Grundlage entrüsten sich einige, aber andere ziehen sich zurück in ihre Gemeinde. Von Seiten der organisierten orthodoxen Gemeinde gab es übrigens fast keine Reaktion. Das ist eine ziemlich geschlossene Gesellschaft, die lieber in Ruhe gelassen werden möchte. Aus meiner Sicht ist das ihr gutes Recht. Im Ganzen ist die jüdische Gemeinschaft – soweit man von einer Gemeinschaft sprechen kann – blind dafür, dass sie in der judenfreundlichsten Gesellschaft aller Zeiten lebt, wenn man so will.
Heißt das, der Vorwurf des Antisemitismus wird missbräuchlich verwendet?
Die ganze Diskussion über Antisemitismus dient dazu, eine andere Diskussion zu verzerren: nämlich darüber, was im Nahen Osten geschieht. Bei vielen Juden gibt es eine blinde Identifizierung mit Israel, als würde es sich um eine erweiterte Familie handeln. Offene Kritik an der israelischen Politik wird fälschlicherweise als Kritik an oder sogar Einprügeln auf die Familie betrachtet. Von dort aus ist es kein großer Schritt, dies als Kritik an der Existenz des Staats an sich zu begreifen, was es aber fast nie ist, nicht einmal bei der heftigsten und unausgewogensten Kritik.
Persönlich bin ich davon überzeugt, dass bestimmte Interessengruppen und Lobbyorganisationen diesen Mechanismus sehr klug benutzen, um die jüdische Gemeinschaft gegen jede Kritik aufzubringen und dafür zu sorgen, dass sich die Nichtjuden schuldig und in die Ecke gedrängt fühlen.
Zurück zu Bolkesteins Warnung, dass die Anzahl der marokkanischen und türkischen Jugendlichen in den Niederlanden ständig steige. Was sagst du dazu?
Grundsätzlich gesehen, ist das völlig gleichgültig, nur dass Bolkestein unterstellt, allein die Zunahme der Zahl marokkanischer und türkischer Jugendlicher führe zu einer unerträglichen und nicht mehr zu bewältigenden Situation. Wegen solch vorurteilsbehafteten Denkens verlassen junge und hochgebildete türkische Menschen die Niederlande und gehen in die Türkei.
In Deutschland wurde in den letzten Monaten viel über die Duldung der neuen niederländischen Regierung durch die antimuslimische Freiheitspartei unter Geert Wilders berichtet. Hat sich das Klima für Muslime in den Niederlanden inzwischen verändert?
Ja, Schritt für Schritt in den vergangenen sieben Jahren. Was anfangs im Flüsterton gesagt wurde, ist jetzt Tagesgespräch. Das Wetter und die Marokkaner sind zum Gegenstand geselliger Gespräche geworden, und immer mit derselben Schlussfolgerung: Beide sind unzuverlässig und jeder kennt eine Geschichte, die das beweist.
Bolkestein hat als Fraktionsvorsitzender der Liberalen 1991 gefordert, die Einwanderung in die Niederlande zu begrenzen. Geert Wilders arbeitete damals für Bolkestein. Wie ist das politische Verhältnis zwischen den beiden heute?
Bolkestein hat Wilders kürzlich »radikalisiert« genannt. Wilders hat darauf geantwortet, dass er weder radikalisiert noch radikal sei. Das ist ihr Niveau intellektueller Auseinandersetzung.
Bolkestein sagte, dass Wilders‘ Vorschlag, antisemitische Marokkaner rauszuschmeißen, »unrealistisch« sei. Wilders hat noch nicht darauf geantwortet, aber er wird garantiert so was sagen wie: »Das ist sehr realistisch, wenn du das wirklich willst«, oder: »Dann müssen wir eben die Gesetze ändern.«
Es ist verblüffend und erschreckend, wie leicht das Strafgesetzbuch, in dem es eine Menge Bestimmungen gegen Rassismus gibt, von Leuten wie Wilders vergessen wird. Sie möchten auf der Stelle neue Strafmaßnahmen einführen.
Wie reagieren die Betroffenen?
Strikt genommen gibt es keine Betroffenen, denn Bolkestein bezog sich auf eine künftige Generation.
Einige Sprecher der jüdisch-orthodoxen Gemeinde reagierten unkritisch und dankbar auf seine Verteidigung der Juden, allerdings waren sie mit seinem Lösungsvorschlag nicht einverstanden: Sie wollen keine Auswanderung, weil das keine Antwort auf Diskriminierung ist, sondern Kapitulation. Das sehe ich ganz genauso. Sie fordern, den Antisemitismus zu bekämpfen. Wie gesagt, wird das Wort Rassismus von der jüdischen Gemeinde in der Regel vermieden.
Zu den jungen Türken, die das Land wegen der islamfeindlichen und rassistischen Stimmung bereits Richtung Türkei verlassen, sagen sie nichts.
Der wichtigste Sprecher der orthodoxen Juden hoffte, dass jetzt ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung geht: die Abschaltung »arabischer Hass-Satellitensender«.
Der Oberrabbiner Binyomin Jacobs war da eine Ausnahme, obwohl er schön häufiger selbst Opfer antisemitischer Vorfälle wurde. Ein Fenster seines Hauses wurde erst kürzlich mit einem Stein eingeworfen und er erinnerte sich mit gewissem Humor daran, dass er von einem etwa sechsjährigen somalischen Mädchen beleidigt wurde. Wie könne man mit einem so jungen Mädchen diskutieren, hat er gefragt. Er scheint zu akzeptieren, dass es nun mal Spannungen in einer multikulturellen Gesellschaft gibt und er weigert sich richtigerweise, an seinem Äußeren als orthodoxer Jude etwas zu ändern oder über eine Auswanderung zu diskutieren.
Die jüdische Gemeinde nutzte die Gelegenheit, wieder einmal finanzielle Unterstützung von der Regierung und von Gemeinden zu fordern, um jüdische Einrichtungen und Ereignisse zu schützen.
Wie reagiert die Linke?
So gut wie nicht, und soweit sie überhaupt reagiert hat, unterschied sich das kaum von den Rechten. Der Fraktionschef Grünen Linken im Parlament, Femke Halsema, twitterte: »Ist Bolkestein durchgedreht? Und von rechts bis links beeilten sich alle zu betonen: Auswanderung ist keine Lösung und die Religionsfreiheit ist Teil unserer Gesellschaft und sollte unter allen Umständen geschützt werden.
Zur Person
Jaap Hamburger wurde 1950 in einer alten Familie von holländischen Juden geboren. Der Familienname tauchte Anfang des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal auf, als Napoleon den Juden gleiche Rechte verliehen hatte. Der Name selbst geht zurück auf eine traditionsreiche Gemeinde sephardischer Juden in Hamburg.
Nach 23 Jahren im Zentrum von Amsterdam lebt Hamburger heute im ländlichen Norden der Stadt. Er arbeitet für die niederländische Sozialversicherung. Hamburger ist Mitglied der Grünen Linken, obwohl die Partei mehr und mehr zu einer klassisch liberalen Partei wird, wie er meint.
Seit 2008 ist Jaap Hamburger Vorsitzender der jüdischen Organisation »Eine andere jüdische Stimme« , die sich fast ausschließlich mit dem so genannten Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern beschäftigt. Die Gruppe ist nicht sehr groß, aber stolz darauf, ein Stachel im Fleische der restlichen jüdischen Organisationen zu sein, deren einseitige Stellungnahmen für Israel die Gruppe ablehnt. Hamburger zufolge ist der Begriff Konflikt nicht das richtige Wort, um die fortgesetzte koloniale Unterdrückung und Erniedrigung der Palästinenser durch Israel mit den technischen und bürokratischen Methoden des 21. Jahrhunderts zu beschreiben.
(Das Gespräch führte Jan Maas. Übersetzung: Rosemarie Nünning)
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