Achim Bühl ist einer der schärfsten Kritiker des Beschneidungsurteils des Kölner Landgerichts. Ein Gespräch mit starken Thesen und harten Ansagen. Vorabveröffentlichung aus marx21 Nr. 27, erhältlich ab 26. September
Achim Bühl ist kein Unbekannter für die marx21-Redaktion – vor zwei Jahren sprachen wir mit ihm über die lange Kontinuität der Islamfeindschaft. Auch bei unserem Kongress »Marx is muss« stellte er sich bereits der Diskussion. Ein Freund der zugespitzten These war er schon damals, doch so aufgewühlt wie jetzt haben wir ihn bislang nicht erlebt. »Angesichts der Debatte empfinde ich eine tiefe Scham«, sagt er zu Beginn unseres Gesprächs. »Das erste Mal seit langem habe ich als Agnostiker gedacht, ich hätte dieses Land verlassen sollen.« Die Debatte – das ist die Beschneidungsdebatte. Sie ist Thema eines Interviews, das sicher für viele Diskussionen sorgen wird.
marx21.de: Herr Bühl, wie beurteilen Sie das Urteil des Kölner Landgerichts zur religiösen Beschneidung?
Achim Bühl: Sowohl beim Kölner Urteil als auch bei der daran anschließenden Debatte geht es nicht um einen Grundrechtekonflikt. Es geht weder um Kinderrechte noch um das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Verhandelt wird hier vielmehr die bereits seit der Diskussion um die Wulff-Rede bekannte Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört. Ebenso geht es um die jüngst in der Wochenzeitung Die Zeit groß aufgemachte Frage: »Wann vergeht Vergangenheit?« Die Beschneidungsdebatte ist eine Fortsetzung des Historikerstreits, die Fortsetzung der »Schlusstrich-Debatte«, der wachsenden Nichtbereitschaft sich zur historischen Schuld zu bekennen und daraus Konsequenzen zu ziehen – unter anderem den selbstverständlichen Schluss, dass man in Deutschland jüdisches Leben nicht noch unnötig erschweren darf. Die Beschneidung ist nur ein Vorwand, das Ganze ist eine Stellvertreterdebatte. Der Kernsatz des Diskurses lautet: »Ich möchte wegen der Vergangenheit nicht mehr erstarren.« Dieser Satz bildet das antisemitische Zentrum der Debatte. Hinsichtlich des Islams beziehungsweise der Muslime ist es die Behauptung: »Die gehören nicht zu uns.«
Warum gehen Sie von einer politischen Kampagne aus? Der Ausgangspunkt der Debatte war doch ein Gerichtsurteil.
Die ganze Zeit wird so getan, als wäre das Urteil vom Himmel gefallen. Die Konferenz Europäischer Rabbiner hat demgegenüber zu Recht festgestellt, dass es einen Teil der sich nach dem 11. September entwickelnden spezifischen Form religiöser Intoleranz darstellt, die meist im aufklärerischen Gewande daherkommt. Der Zweck dieser »aufgeklärten« Religionsfeindschaft ist die Etablierung antimultikultureller Bündnisse. Dieses Projekt stößt auf parteien- wie schichtenübergreifende Resonanz. Wir dürfen nicht verkennen, dass es sich um eine Kampagne handelt, die vor allem Strafrechtler von langer Hand vorbereitet haben. Ihr Ziel war es, die bisherige juristische Sicht, welche die Beschneidung nicht als Körperverletzung wertete, zu kippen und die Zirkumzision (Beschneidung, Anm. d. Red.) stattdessen zu kriminalisieren. Der Kampagnencharakter des Ganzen wird am Freispruch des Kölner Arztes deutlich, der ja nicht im Sinne eines »im Zweifel für den Angeklagten« erfolgt ist, sondern um zu verhindern, dass gegen das Urteil Berufung eingelegt werden kann. Auf diese Weise sollte gezielt Rechtsunsicherheit erzeugt und eine gesellschaftliche Debatte initiiert werden, die auf die Kriminalisierung des Judentums wie des Islam hinausläuft. Es ist ein durch und durch politisches Urteil, keine »Provinzposse«. Dies zeigt auch das Vorspiel des Urteils. In seiner Begründung griff das Landgericht auf die Argumente des Juristen. Holm Putzke zurück. Der Strafrechtsprofessor der Universität Passau hat bereits 2008 den Aufsatz »Die strafrechtliche Relevanz der Beschneidung bei Knaben« veröffentlicht und dort seine Argumente gegen die rechtliche Zulässigkeit der religiösen Zirkumzision ausgeführt.
Bei seinem Kreuzzug gegen die Zirkumzision wird er unterstützt von seinem ehemaligen Doktorvater Professor Herzberg. Deren Anstoß war nach eigenen Angaben das Anti-Beschneidungs-Buch »Die verlorenen Söhne« der ausgewiesenen Islamfeindin Necla Kelek. Frau Kelek wurde von der Bild zu Recht als »Sarrazins größter Fan« bezeichnet, sie tritt in vielen Talkshows als Kronzeugin der Islamfeinde auf. Ihre Verbindung zu Herzberg und Putzke, die wiederum ausführlich in der Urteilsbegründung zitiert werden, legt nahe, dass hier auf juristischer Ebene eine gezielte Kampagne gefahren wird.
Juristen verschwören sich gegen Muslime und Juden? Klingt weit hergeholt…
Ich würde sogar eine Pizza mit Sardellen essen, wenn sich keine ernsthaften Querverbindungen der Kölner Kammer zu Professor Herzberg aufweisen ließen. Und wenn nicht – was ich bezweifele – so bleibt doch immer noch der Fakt, dass das Urteil einem gesellschaftlichen Klima oder einer Stimmungslage entspricht, wo es seitens des Bundespräsidenten möglich ist, klar und unmissverständlich den Satz »der Islam gehört nicht zu Deutschland« indirekt zu äußern, ohne dass eine solche Aussage als das benannt und scharf zurückgewiesen wird, was sie ist: nämlich Rassismus und verbaler Verfassungsbruch. Ein beredter Bundespräsident, der wochenlang angesichts eines fundamentalen Angriffs auf Muslime wie Juden beharrlich schweigt und sich erst nach expliziter Aufforderung durch den israelischen Staatspräsidenten Peres genötigt sieht, überhaupt irgendwas zu sagen. Ein Bundespräsident, der in demselben Zeit-Interview, welches den Islam aus Deutschland ausgrenzt, vor einer Überhöhung des Holocaust-Gedenkens warnt. Das ist doch alles kein Zufall – und auch nicht, dass hier wie beim Kölner Urteil Juden und Muslime die Opfer sind. Antisemitische und antimuslimische Ideen sind in unserem Land bereits so salonfähig, dass man sich als Staatsoberhaupt derartige Sätze problemlos erlauben kann. Nahezu niemand schreit da mehr auf.
Sie nennen die Urteilsbegründung ein »Dokument des Antisemitismus«. Wieso das?
Schauen wir uns die Urteilsbegründung im Detail an. Ich zitiere: »Zudem wird der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauerhaft und irreparabel verändert. Diese Veränderung läuft dem Interesse des Kindes, später selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden zu können, zuwider.«
Zum ersten ist dieser Satz sachlich falsch, da keine Religion bekannt ist, die beschnittenen Menschen die Konversion verbietet. Zum zweiten zeigt der Satz auch, wie nahe wir mit der Urteilsbegründung am biologischen Rassismus sind. Kennzeichnend für den modernen biologistischen Rassismus ist, dass man der Kategorie Rasse nicht entrinnen kann, die durch körperliche Merkmale dauerhaft festgelegt ist. Aus der Sicht des Landgerichts Köln scheint die Beschneidung ein solcher körperlicher Makel zu sein, der »repariert« gehört, aber »irreparabel« ist.
Die Beschneidung erscheint als körperliches Handicap, als Webfehler des jüdischen und muslimischen, »andersgearteten« männlichen Körpers, die einer Entscheidung für eine andere Religionszugehörigkeit »dauerhaft« zuwider steht. Einmal beschnitten, immer beschnitten. Einem jüdischen und muslimischen Körper, so möchte wohl das Landgericht Köln sagen, entkommt man nicht. Einmal Migrant, immer Migrant heißt es bei Sarrazin – einmal Jude oder Muslim, immer Jude oder Muslim beim Landgericht Köln. Die Beschneidung als Brandzeichen, als das eigentliche physische Anderssein, das alles andere biologistisch determiniert. Dem Körper des Säuglings, so hieß es in der FAZ, wird »eine religiöse Entscheidung aufgeprägt, die er im mündigen Alter nie mehr widerrufen kann.«
Im Kölner Fall ging es ja um einen muslimischen Jungen. Kann es sein, dass die Richter nur Muslime treffen wollten und schlicht vergessen hatten, dass auch im Judentum beschnitten wird?
Nein, an die Theorie eines unbeabsichtigten »Kollateralschadens« glaube ich nicht. Das Kölner Urteil veranschaulicht ja gerade die Existenz deutlicher Ähnlichkeiten zwischen dem antimuslimischen Rassismus und dem Antisemitismus. Das speist sich aus der jahrhundertelangen doppelten Abgrenzung Europas sowohl gegenüber dem Judentum als auch dem Islam. Seit langer Zeit vertritt das Christentum gegenüber den anderen beiden abrahamitischen Religionen einen rigiden Alleinvertretungsanspruch. Dazu kommen der biologistische Rassismus und der rassistische Begriff des »Semiten« sowie die vielen Parallelen in jüdisch-muslimischen Glaubenspraktiken wie etwa die Beschneidung oder das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch. Bereits seit längerem habe ich den Verdacht, dass sich der antimuslimische Rassismus hierzulande nicht zuletzt aus antisemitischen Quellen speist.
Das Urteil wurde teilweise auch in linken und liberalen Kreisen positiv aufgenommen. Die Befürworter können schwerlich alle Antisemiten sein …
Jeder, der das Urteil begrüßt, sollte ernsthaft darüber nachdenken, in welche Traditionslinie er sich stellt. Selbst wenn es bei dem zu entscheidenden Fall um einen Arzt und um muslimische Eltern ging, dürfte es dem Gericht kaum entgangen sein, dass das Urteil nicht nur den Islam, sondern auch das Judentum in seinen Grundfesten erschüttert.
Über Jahrhunderte waren Beschneidungsverbote ausschließlich antisemitisch motiviert. Juden wurden nicht zuletzt wegen des Brauchtums der Beschneidung, der Brit Mila, verfolgt. Sie wurde von Herrschern bei Todesstrafe verboten, um Juden zur Konversion oder Aufgabe ihres Glaubens zu zwingen. In der spätrömischen Biografie-Sammlung »Historia Augusta« wird die Beschneidung im Kontext des Verbotes durch den römischen Kaiser Hadrian als »mutilare genitalia« bezeichnet. Der Verfasser führt damit ein bis heute gängiges antisemitisches Stereotyp ein, die polemische Falschbezeichnung der Zirkumzision als »Verstümmelung«, als »Kastration«. Dies findet sich in aktuellen Blogbeiträgen zuhauf, zumal so Kastrationsängste geschürt werden.
Die Beschneidung hätten die Juden absichtlich gewählt, so der römische Geschichtsschreiber Tacitus, um sich abzusondern und kenntlich zu machen. In der Beschneidung drücke sich der Hass aus, den die Juden gegen alle anderen Völker empfänden. Spätestens mit Tacitus wird die Zirkumzision zum herausragenden rituellen Stigma, das nunmehr mit dem vermeintlichen »Menschenhass der Juden« gekoppelt ist. Seit der Antike ist der Judenhass untrennbar verbunden mit dem Ressentiment gegen die Zirkumzision.
Nun ist Tacitus Feindschaft gegenüber der Beschneidung aber kein hinlänglicher Beleg für die antisemitische Gesinnung heutiger Akteure …
Es bleibt ja nicht bei der Antike. Mein Punkt ist, dass die Stigmatisierung der Beschneidung eine Kontinuität bis heute hat. Die antike Tradition wurde im Mittelalter fortgesetzt. Zwar wird auf vielen mittelalterlichen Bildern der beschnittene Jesus dargestellt. Die Beschneidung Jesu markiert aber gerade keine Kontinuitätslinie zum Judentum. Der mittelalterliche Antijudaismus war zu der damaligen Zeit bereits viel zu stark ausgeprägt, um Jesus noch als Juden wahrzunehmen. Beschnitten wird vielmehr Jesus Christus, »wahrer Mensch und wahrer Gott«. Mit seiner Beschneidung wurde vermeintlich der »alte Bund« zwischen dem jüdischen Volk und Gott überflüssig. Jesu nimmt letztmalig und zwar stellvertretend für alle anderen Menschen die Beschneidung auf sich. Sie stellt aus christlicher Sicht einen Teil seines durch Juden verursachten Leidenswegs da. Für den mittelalterlichen Christen markierte die Beschneidung Jesu die christliche Differenz zum Judentum und keineswegs die gemeinsamen Ursprünge zweier abrahamitischer Religionen. Die Aussage christlicher Beschneidungsbilder besteht letztendlich in der Behauptung, dass das Judentum als Volk Gottes obsolet geworden sei und dass die Zirkumzision angesichts der christlichen Taufe nunmehr nur noch einen archaischen Akt einer überholten Religion darstelle. »Archaischer Brauch« sind auch genau die Worte, die von Befürwortern des Urteils benutzt werden. Die säkular vorgetragenen Argumente in der gegenwärtigen Beschneidungsdebatte sind christlich-antijüdisch geprägt – auch wenn das den Akteuren zumeist nicht bewusst ist.
Aber die Frage, ob Säuglinge und Kleinkinder ohne medizinischen Grund eine solche Operation über sich ergehen lassen müssen, ist doch legitim. Sie können die Sorge um das Kindeswohl doch nicht mit historischen Argumenten wegwischen.
Niemand, der sich an dieser Debatte beteiligt, vermag mir auch nur eine Minute lang einzureden, dass dieser Diskurs irgendetwas mit Kindeswohl zu tun hat. Es ist doch kein Zufall, wenn noch nicht einmal davor zurückgeschreckt wird, die Zirkumzision mit einer Kindesmisshandlung zu vergleichen. Jahrhundertelang war der Antisemitismus durch das Stereotyp des sogenannten »Ritualmordes« geprägt, der Diffamierung der Juden als Kinderschänder, als Kinderquäler, als Mörder christlicher kleiner Kinder – zumeist ein Auftakt für blutige Pogrome und Vertreibungen. Ich möchte es bewusst zuspitzen: Die Hysterie der Beschneidungsdebatte lässt sich nur als ein später Ausläufer der Ritualmordanklagen deuten, die sich bis in das 20. Jahrhundert hinein zogen und ein agitatorisches Dauerthema im faschistischen Hetzblatt Der Stürmer waren. Die aktuelle Diffamierung von Juden, die Bräuche pflegen würden, »welche die Kinder verletzen« und die man »beseitigen« möchte, ist eine Form von Ritualmordanklage.
Eine Kritik der Beschneidung ist doch keine Mordanklage – der Vergleich hinkt.
Ich bleibe dabei, dass in den Darstellungen ähnliche Motive aufgegriffen werden. Schauen Sie sich einmal die Webpage des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) an, die eine Pressemitteilung zur Petition gegen die Zirkumzision präsentiert. Zu sehen ist dort das Bild eines Kindes, das sein Gesicht in den Armen vergraben hat, das Stofftier liegt unbeachtet vor seinen Füßen. Das sind die »klassischen Bilder« von Kindern, die Opfer von sexueller Gewalt geworden sind. Diese Suggestion ist alles andere als zufällig, sondern gewollt, was die Tatsache belegt, dass dasselbe Bild auf der Startpage des BDK für das Kinderschutzprojekt RISKID benutzt wird. Bei RISKID handelt es sich um ein Projekt, das von einem Kinderarzt und einem Polizeibeamten anlässlich mehrerer durch Misshandlung sowie durch Vernachlässigung verursachter Todesfälle von Kindern initiiert wurde. Diese Seite des BDK halte ich für ein Anknüpfen an die mittelalterliche Ritualmordlegende. Aus meiner Sicht hätte ich Verständnis dafür, wenn der Vergleich oder die Parallelisierung der Zirkumzision mit Sexualdelikten und körperlicher Gewalt als »Volksverhetzung« aufgefasst würde.
Um es noch einmal zusammenzufassen: Die Beschneidungsdebatte und das Kölner Urteil an sich sind antisemitisch wie antimuslimisch-rassistisch, nicht nur die Untertöne. Es ist ein offensiver Versuch, den Islam und das Judentum zu kriminalisieren und auszugrenzen. Ohne Kenntnisnahme der langen europäischen Tradition des Antisemitismus wie der Islamfeindlichkeit ist die Debatte nicht zu verstehen. Mit »Sommerloch« hat sie rein gar nichts zu tun, sie wird uns daher leider noch sehr lange erhalten bleiben.
(Das Gespräch führte Stefan Bornost)
Zur Person:
Achim Bühl ist Professor für Soziologie an der Beuth Hochschule für Technik in Berlin. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Rassismusforschung, zu dem er zahlreiche Texte veröffentlich hat, unter anderem »Islamfeindlichkeit in Deutschland« (VSA 2010). Gegenwärtig arbeitet er an einem Buch über die Beschneidungsdebatte.
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