Die Bundesregierung behauptet, die Krise sei vorbei. Doch das Wirtschaftswachstum ist eng mit Leiharbeit und Niedriglöhnen verbunden. Gewerkschaften fordern statt dessen, die Menschen am Aufschwung zu beteiligen. DIE LINKE sollte sich mit ihrer Forderung nach einem Mindestlohn an den Protesten beteiligen. Eine Analyse von Volkhard Mosler
In seiner berüchtigten Agenda-2010-Rede vom März 2003 hatte der damalige Kanzler Gerhard Schröder (SPD) seinen Angriff auf die Arbeiterklasse damit begründet, dass sich nur so die »doppelte Krise« von Standort und Konjunktur überwinden ließe. »Gegen Ende des Jahrzehnts« rief Schröder, werde Deutschland in Europa »bei Arbeit und Wohlstand wieder Spitze sein«.
Oberflächlich gesehen scheint sein Agenda-Programm aufgegangen zu sein: Mit einem Wachstum von 3,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt Deutschland weit an der Spitze der entwickelten Industrieländer, der EU-Durchschnitt liegt bei 1,8 Prozent. Es ist die Rede von einem »Aufschwung nach Maß«. Wie steht es aber mit Wohlstand und Arbeit?
Umverteilung von unten nach oben
Der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen (Lohnquote) ist im letzten Jahrzehnt um sechs Prozentpunkte gesunken (2000: 72 Prozent, 2010: 66 Prozent), die Bruttolöhne sind in Deutschland als einzigem Land in der EU im ersten Jahrzehnt gefallen (um minus 1 Prozent, die Nettolöhne sogar um minus 2,4 Prozent). Die Umverteilung von unten nach oben war erfolgreich.
Deutschland ist jedoch keineswegs zum Wachstumsmotor der EU geworden, sondern zum Hemmschuh. Enorme Exportüberschüsse der deutschen Wirtschaft innerhalb der EU und nach China sind der entscheidende Impulsgeber des Aufschwungs, wachsende Überschüsse Deutschlands sind durch wachsende Defizite der übrigen Länder im Außenhandel mit Deutschland bedingt. Das Erfolgsrezept des Aufschwungs heißt Export. Dabei nimmt die erweiterte EU mit fast 500 Millionen Menschen inzwischen über 63 Prozent aller deutschen Exporte auf, vor der Osterweiterung der EU in den 90er Jahren waren es um die 50 Prozent.
Krise neu verteilt
Oskar Lafontaine bringt es auf den Punkt: »Die Erfolge des ‚Exportweltmeisters Deutschland‘ werden auf Kosten der nicht so erfolgreichen Ökonomien der südeuropäischen Länder erzielt. Was hier als Wettbewerb unter Staaten erscheint, ist tatsächlich das Ergebnis eines Vorgehens bundesdeutscher Konzerne bei ihrem Kampf um Umsatzanteile und Profit.«
Wachsende Handelsbilanzdefizite, wirtschaftliche Stagnation und eine sich dramatische verschärfende Finanzkrise Griechenlands, Irlands, Portugals und Spaniens bilden die Kehrseite des deutschen Aufschwungs. Die Krise ist nicht überwunden, sie ist nur neu verteilt – zu Lasten der schwächeren Standorte. Ein Ende der Schieflage ist nicht in Sicht, sie bedroht die Existenz des Euros.
Euro-Kurs stützt den Export
Die Einführung des Euros in einer vergrößerten EU stützt die deutsche Exportwirtschaft aber auch im Handel mit dem außereuropäischen Raum. Der amerikanische Marxist Robert Brenner hat in seinem Buch »The Boom and the Bubble« (2002) drauf hingewiesen, dass das Ende des Bretton-Woods-Systems und damit die Einführung eines freien Devisenhandels und freier Wechselkurse der Währungen die deutsche Wirtschaft mit ihrer hohen Exportabhängigkeit hart getroffen hatte.
Der alte Mechanismus der Nachkriegszeit von niedrigeren Produktionskosten und hohen Exportüberschüssen funktioniere nicht mehr, weil die Exportüberschüsse Deutschlands zu einem Anstieg des DM-Kurses geführt hatten und damit zur Verteuerung deutscher Waren auf den internationalen Märkten.
Bumerang-Effekt der Exportwirtschaft
Die Einführung des Euro und die Vergrößerung des Binnenmarktes auf 500 Millionen Menschen haben diesen Mechanismus zwar nicht ganz außer Kraft gesetzt, aber entscheidend abgeschwächt. Denn der Außenwert des Euros hängt – wie gerade jetzt zu beobachten ist – nicht nur von der Stärke der deutschen Wirtschaft, sondern auch von der Schwäche der meisten anderen EU-Staaten ab. Das verhindert einen Anstieg des Euro auf Höhen, die der deutschen Exportwirtschaft schaden würden.
Doch das System gleicht einer tickenden Zeitbombe, deren Zündung jederzeit erfolgen kann: durch eine weitere Verschärfung der Finanz- und Wirtschaftskrise der Verliererstaaten in der EU, aber auch durch einen finanzpolitischen Kurswechsel der US-Regierung weg vom Weg der grenzenlosen Staatsverschuldung zur Rettung des Finanzsektors und eines noch tieferen Absturzes der stagnierenden US-Wirtschaft. Die imperialistische deutsche Exportwirtschaft bedroht mit ihrem Bumerang-Effekt auch den bescheidenen Aufschwung der eigenen Wirtschaft.
Prekarisierung geht weiter
Wirtschaftsminister Brüderle (FDP) spricht bereits von Vollbeschäftigung, die bald erreicht sei. Das ist glatt gelogen. Insgesamt ist in die Zahl der Erwerbstätigen 2010 zwar gestiegen (um 0,5 Prozent). Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ist jedoch im Jahr 2010 gegenüber dem Vorjahr (ohne Kurzarbeiter und persönliche Arbeitszeitkonten) mit jeweils 40,6 Milliarden Stunden gleich geblieben. Die Zahl der Vollzeitbeschäftigten hat auch 2010 weiter abgenommen ( minus 300.000), die Zahl der Teilzeitbeschäftigten ist dagegen rasch gewachsen (plus 400.000).
Damit setzt sich ein Trend der letzten zehn Jahre fort: die Zahl der sozialversicherten Vollzeitstellen hat von 2000 bis 2010 um 1,5 Millionen abgenommen und umgekehrt ist die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Teilzeitjobs im gleichen Zeitraum um 1,5 Millionen gestiegen (von 3,9 auf 5,4 Millionen). Die Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung ist nur neu verteilt, aber nicht geringer geworden. Wachstum fand hauptsächlich im Dienstleistungssektor (plus 1,1 Prozent) und der in der Bauindustrie statt, im produzierenden Gewerbe (Industrie und Handwerk) sank die Leistung um 1,7 Prozent.
Immer mehr Leiharbeit
Eine Umfrage der IG Metall bei 5000 Betriebsräten im September 2010 ergab, dass 85 Prozent der Metallbetriebe zusätzlichen Arbeitskräftebedarf durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse (Leiharbeit, befristete Einstellungen) abdecken. Ähnlich äußerte sich DGB-Chef Sommer: Im Aufschwung seien »fast ausschließlich Leiharbeiter eingestellt worden, die für die gleiche Arbeit wesentlich weniger verdienen als Festangestellte.«
Die Zahl der Leiharbeiter war während der Krise 2009 scharf zurückgegangen, Ende 2010 hat sie bereits wieder die Millionengrenze erreicht. Die Stimmung unter den Arbeitnehmern sei daher, so die IG Metall, – anders als bei früheren Konjunkturaufschwüngen – nicht geprägt von Zuversicht: zwar hätten mehr Menschen in Deutschland Arbeit, »doch Angst und Unsicherheit breiten sich aus.«
Am Aufschwung beteiligen
Das ist -wenn es denn stimmt – ein wichtiger Unterschied zu früheren Aufschwüngen nach Krisen. 1936 führte eine leichte Erholung der Weltwirtschaft zur Explosion von Klassenkämpfen in den USA und Frankreich, 1969 und 1993 führten Konjunkturaufschwünge nach Krisen (mit entsprechenden Angriffen des Kapitals) auch in Deutschland zu Aufschwüngen von Streiks und Lohnkämpfen.
Zugleich berichtet die IG Metall jedoch von wachsenden Überstunden und Sonderschichten, die Zeitkonten füllten sich erneut. Sie kommt zu dem Schluss: »Die Arbeitnehmer haben mitgeholfen, die Krise zu überwinden« (durch Verzicht auf Löhne und Gehälter), da sei es »nur fair, sie am Aufschwung zu beteiligen.« Die IG Metall klagt: »Die Kluft zwischen arm und reich wächst weiter, trotz guter Konjunkturzahlen«, und dies gefährde den Aufschwung. Es tut sich eine Kluft zwischen gestiegenen Erwartungen der Arbeitnehmer und der Bereitschaft der Arbeitgeber zu Zugeständnissen auf.
Klassenkämpfe gegen Leiharbeit
Das hat mit dazu beigetragen, dass in zahlreichen Betrieben die Belegschaften bereits Konflikte über die Neueinstellung von Leiharbeitern ausgetragen haben, die zu wesentlich niedrigeren Löhnen arbeiten. Im September 2010 demonstrierten 800 Airbus-Beschäftigte in Hamburg für eine »Begrenzung der Leiharbeit.« Bei Airbus Deutschland arbeiteten 2010 21.000 Beschäftige, davon 4800 Leiharbeiter.
Ab Oktober 2010 hat sich die Belegschaft des Baumaschinenherstellers Atlas in Niedersachsen erfolgreich gegen den Einsatz von Leiharbeitern gewehrt (mehr dazu in der nächsten Ausgabe von marx21). Im Dezember hat die Belegschaft der Uni-Klinik Essen einen erfolgreichen Kampf gegen Leiharbeit geführt. Die Gewerkschaft NGG führte Anfang Oktober Warnstreiks in der bayerischen Milchindustrie durch, wo der Anteil der Leiharbeiter fast bei 50 Prozent liegt.
Leiharbeiter als Streikbrecher
In anderen Branchen haben die Betrieben 2010 Leiharbeiter – zum Teil erfolgreich – als Streikbrecher eingesetzt. 2010 war das der Fall im Münchener Nahverkehr, was zu einer Niederlage der GDL führte. Streikbruch durch Leiharbeitsfirmen gab es 2010 in der Metallindustrie, im Baugewerbe und im Einzelhandel.
Die Prekarisierung der Arbeit durch Arbeitnehmerverleih, befristete Verträge und Endlospraktika betrifft vor allem Jugendliche und junge Erwachsene. 2009 waren 28 Prozent aller unter 35-Jährigen prekär beschäftigt. Bei den 20 bis 24-Jährigen stieg der Anteil der Prekären im Aufschwungsjahr 2010 von 45 auf 54 Prozent.
Gleicher Lohn in Stahlindustrie
Der Abwehrkampf gegen die Instrumentalisierung der Leiharbeit zur Aushöhlung geltender Tarifverträge hat durch den erfolgreichen Arbeitskampf in der Stahlindustrie einen wichtigen Erfolg gehabt. Die IG Metall hat im September 2010 neben einer Anhebung der Tariflöhne um 3,6 Prozent (Laufzeit 14 Monate) auch das Prinzip von »Equal Pay« – von gleichen Löhnen für Leiharbeiter – durchgesetzt. Dieser Erfolg hat die Erwartungen, dass die IG Metall auch in den übrigen Bereichen gegen die Ausdehnung der Leiharbeit aktiv wird, erhöht.
Auch in der Bevölkerung ist die Stimmung umgeschlagen. 60 Prozent der Bundesbürger sind inzwischen gegen Leiharbeit überhaupt, 87 Prozent sind für das Prinzip »Gleiche Löhne für gleiche Arbeit« in der Leiharbeitsbranche.
Druck durch Freizügigkeit
Welche politische Bedeutung diesem Kampf gegen die Instrumentalisierung der Leiharbeit durch die Kapitalseite zukommt, wird klar, wenn man die möglichen politischen Auswirkungen des Eintritts des Prinzips der Freizügigkeit am 1. Mai 2011 berücksichtigt. Die Freizügigkeit umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatszugehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf Entlohnung, Beschäftigung und sonstige Arbeitsbedingungen. Ein Wettbewerb um die niedrigsten Löhne ist zu erwarten.
In Großbritannien streikten im letzten Jahr Arbeiter gegen den Einsatz polnischer Leiharbeiter auf einer Ölplattform des französischen Konzerns Total. Tausende protestierten unter der Losung »British Jobs for British Workers«. Rassistische Reaktionen sind auch in Deutschland möglich. »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« und eine Verteidigung der Tarifverträge sind die einzigen Mittel gegen die Instrumentalisierung osteuropäischer Arbeiter zur Spaltung und zur Durchsetzung von Niedriglöhnen.
DIE LINKE in den Verteilungskämpfen
Die IG Metall und der DGB rufen zu einem Aktionstag am 24. Februar auf. »Mit Demonstrationen und Aktionen in den Betrieben wollen die Arbeitnehmer für einen Mindestlohn von 8,50 Euro und gegen Missbrauch der Leiharbeit ankämpfen.« (DGB-Chef Sommer). Das DGB-Motto »Das ist das Mindeste…« richtet sich ebenfalls gegen die weitere Ausdehnung des Niedriglohnsektors durch Leiharbeit und Prekarisierung.
DIE LINKE sollte sich am 24. Februar und am 1. Mai aktiv beteiligen und so in die anstehenden Verteilungskämpfe einmischen. In den nächsten Monaten laufen die Tarifverträge für mehrere Millionen Arbeitnehmer aus (Öffentlicher Dienst, Textil, Bauwirtschaft, Bahn). Der Kampf gegen prekäre und marginale Beschäftigung spielt dabei eine wichtige Rolle. Auch der 100. Jahrestag des Weltfrauentags ist eine Gelegenheit, den Kampf für Gleichstellung der Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten mit dem Kampf gegen Überausbeutung durch Prekarisierung zu verbinden.
Zur Person:
Volkhard Mosler ist Mitglied des Kreisvorstandes der LINKEN Frankfurt am Main.