Der ägyptische Sozialist Hossam al-Hamalawy analysiert den politischen Fortschritt des Arbeiterwiderstandes gegen das Mubarak-Regime. Im April hatten die Proteste mit Massenstreiks, Betriebsbesetzungen und Demonstrationen ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Die Serie von Massendemonstrationen und -streiks des letzten Jahres haben die ägyptische Oppositionsbewegung gegen den neoliberalen Diktator Mubarak grundlegend verwandelt. Jahrzehntelang lebten die Menschen in Ägypten in Angst vor dem Regime.
Oppositionelle Aktivisten wurden verhaften, eingesprerrt und gefoltert – Streiks wurden von der Polizei brutal niedergeschlagen. Doch heute weht ein neuer Wind. Die zwei Tage andauernden Straßenproteste in der Textilstadt Mahalla al-Kubra Anfang April haben das Regime ernsthaft erschüttert. Der Widerstand in Mahalla ist Teil eines das ganze Land ergreifenden Phänomens. Wir erleben eine Zeit steigender Kampfbereitschaft. Eine Situation, die Rosa Luxemburg in ihrem Klassiker von 1905, „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften«, beschrieb. Ägypten heute ist ein Fallbeispiel dafür, wie ökonomische Forderungen in politische Forderungen übergehen, die dann ihrerseits weitere ökonomische Forderungen nach sich ziehen.
Wie alles begann
Die Wurzeln der heutigen Kämpfe liegen in der Solidaritätsbewegung mit den Protesten gegen die Unterdrückung der Palästinenser und der sich daraus entwickelten Bewegung gegen den Irakkrieg in Ägypten. Auf deren Höhepunkt im Jahr 2003 demonstrierten in Kairo zwei Tage lang bis zu 50.000 Menschen. Weil die Protestierenden, neben westlichen Fahnen, auch Mubarak-Plakate verbrannten, griff die Regierung hart durch und verhaftete Tausende. Aber die Antikriegsproteste hatten das Tabu, das Regime nicht kritisieren zu dürfen, gebrochen. Zwar litten die Arbeiter nach wie vor in den Fabriken, aber sie sahen zugleich die Fernsehbilder von Protesten in Kairos Innenstadt. Das hatte eine revolutionierende Wirkung auf die Einstellung der Menschen und gab ihnen das nötige Vertrauen, sich später selbst in Bewegung zu setzen.
Am 7. Dezember 2006 war es wo weit: Alles änderte sich. Ägyptens Ministerpräsident Ahmed Nasif, ein Neoliberaler und ausgesprochener Anhänger der Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF), hatte den Arbeitern des öffentlichen Diensts Zusatzzahlungen zur Deckung der steigenden Preise für Grundnahrungsmittel versprochen. Als die Regierung mit der Auszahlung in Verzug geriet, streikten die Arbeiter der Textilfabrik in Mahalla drei Tage lang und forderten die Einlösung des Versprechens. Frauen bilden die Mehrheit der Beschäftigten in der Textilfabrik. Mit ihrer Kampfbereitschaft beindruckten sie ihre männlichen Kollegen so sehr, dass sie schließlich gemeinsam in Aktion traten und die Fabrik besetzen (marx21 berichtete). Die Polizei versuchte, die Fabrik zu belagern, es gelang ihr aber nicht, den Streik zu brechen.
Der Sieg in Mahalla war der Auftakt für die größte und längste Streikwelle in Ägypten seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Mahalla ist traditionell tonangebend für die Arbeiterbewegung in Ägypten. Wenn sich Mahalla im Aufschwung befindet, dann auch die Arbeiterbewegung insgesamt. Wenn Mahalla verliert, kann das ein Zeichen für den Niedergang der Bewegung sein.
Arbeitersolidarität
Fast alle Textilfabriken entlang des Nildeltas im Norden traten zwischen Dezember 2006 und dem Frühjahr 2007 in den Streik. Die Kampfbereitschaft erfasste auch andere Sektoren. Die Zementarbeiter traten in den Ausstand, dann die Lokführer, die Züge blockierten, indem sie auf den Gleisen schliefen. Die U-Bahn-Arbeiter Kairos demonstrierten ihre Solidarität, indem sie die Fahrtgeschwindigkeit reduzierten. In all diesen Kämpfen spielte der Sieg von Mahalla eine wichtige Rolle.
Noch in den 1990er Jahren hätte das Wort „Streik« nur Kopfschütteln hervorgerufen. Das galt als altmodisch. Heute reden alle davon. In Ägypten haben wir das Sprichwort: „Wenn du von einem Hund was willst, sag ihm: ‚Du bist mein Herr‘.« Mittlerweile heißt es: „Wenn du was von dem Hund willst, sag ihm, wir machen einen Sitzstreik.« Das ist ein gutes Beispiel für die Veränderung in der politischen Kultur.
In den 1990er Jahren war die Angst, sich zu organisieren, allbeherrschend, und Diskussionen über die Bedeutung von Arbeitskämpfen waren kaum erwünscht. Die Textilindustrie als wichtigste Stütze der Arbeiterbewegung war durch Jahre der neoliberalen Umstrukturierung geschrumpft. Im Jahr 1976 betrug die Zahl der Beschäftigten in den Spinnereien und Webereien etwa eine halbe Million. Um die Jahrtausendwende waren es nur noch 209.000. Deshalb war die Linke so überrascht, dass die stärkste Opposition gegen das Regime heute von den Textilarbeitern kommt.
Nachdem die Arbeiterklasse ihre Kampffähigkeit unter Beweis gestellt hat, zeigt sich auch klar die Wirkung auf die Opposition. Am 6. April kamen regimekritische Gruppen zusammen, um zu diskutieren, wie die Solidarität mit dem Streik der Mahalla-Beschäftigten für einen landesweiten Mindestlohn am besten zu organisieren sei. Einige riefen nach einem Generalstreik, andere befürworteten kleine Solidaritätsaktionen vor Ort. Der Aufruf zum Generalstreik war ehrgeizig und letztlich unrealistisch, er macht aber deutlich, wie sehr sich die Lage verändert hat. Denn viele Oppositionelle hatten bislang kein Vertrauen in die Kämpfe der Arbeiterklasse. Der Streik vom 6. April war der Wendepunkt. Die Regierung geriet in Panik und überflutete Mahalla bereits frühmorgens mit staatlichen Sicherheitskräften (marx21 berichtete).
Oppositionelle im ganzen Land wurden festgenommen und jegliche Solidaritätsaktion im Keim erstickt. Der geplante Streik wurde abgesagt, worauf sich die Regierung brüstete, sie hätte sich am Ende doch durchgesetzt. Aber am Nachmittag kam es zu einer spontanen Protestdemonstration im Zentrum Mahallas. Die ägyptische Polizei eröffnete das Feuer mit Gummigeschossen und Tränengas, dennoch wuchs die Demonstration auf über 40.000 Teilnehmer an und skandierte: „Die Revolution ist da! Die Revolution ist da!« Die Polizei drehte durch, tötete mindestens zwei Menschen und verhaftete Hunderte.
Radikalisierung der Proteste
Diese politischen und ökonomischen Proteste erhalten nun durch die steigenden Lebensmittelpreise weiter Auftrieb. Ägypter können sich heute nur noch Brot leisten, wo früher Nudeln und Reis auf der Speisekarte standen. Die gestiegene Nachfrage hat die Brotpreise noch mehr in die Höhe getrieben. In den Warteschlangen vor den staatlichen Brotausgaben ist es zu Prügeleien gekommen, wobei in den vergangenen beiden Monaten mindestens 15 Menschen getötet wurden. Der allgemeine Nahrungsmangel hat wachsende Verzweiflung erzeugt. Als die Polizei letzten Monat ein Versteck mit Molotowcocktails und Waffen entdeckte, dachte sie, sie gehörten einer terroristischen Gruppierung. Sie musste dann aber feststellen, dass es einfache Bürger waren, die sich bewaffnet hatten, um an Brot zu kommen. Das Regime weiß nicht mehr, was es tun soll. Mubarak hat mittlerweile die Armee eingesetzt, um Brot zu backen und neue Bäckereien in Betrieb zu nehmen. Die Menschen sind auf die Straße gegangen. Wenn sie nichts mehr zu essen finden, haben sie auch nichts mehr zu verlieren. Ich bin seit zehn Jahren Sozialist. Ich weiß noch, wie wir 1998 aus der Koordination zur Organisierung propalästinensischer Proteste gewählt wurden, weil wir zu viel von Mubarak redeten. Riefen wir „Nieder mit Mubarak«, stimmte meistens niemand mit ein, da keiner den Mut dazu fand. Inzwischen rufen nicht nur politische Aktivisten, sondern ganz einfache Bürger: „Nieder mit Mubarak« und verbrennen Bilder von ihm.
Ursprünglich machte das Regime die Muslimbruderschaft [islamische Partei] für die Streiks verantwortlich, was einfach lächerlich ist, denn sie hat nie Unterstützung in der Arbeiterschaft genossen. Die Muslimbruderschaft ist zwar die größte Oppositionskraft im Lande, aber hauptsächlich erstreckt sich ihr Einfluss auf die gehobenen und unteren Mittelschichten sowie auf bestimmte Flügel der herrschenden Elite.
Sie hat allerdings ihre Unterstützung für die Arbeiterklasse und ihre Solidarität zum Ausdruck gebracht. Es bilden sich neue Gruppierungen innerhalb der Muslimbruderschaft, die für eine schärfere Gangart gegen das Regime und eine engere Zusammenarbeit mit der säkularen Opposition eintreten. Ihnen fehlen allerdings klare Wirtschaftsvorstellungen und überhaupt eine Antwort auf die Auswirkungen des Neoliberalismus, die Privatisierungen und die niedrigen Löhne. Den streikenden Arbeitern haben sie somit nicht viel zu sagen. Dennoch werden einige nach links gezogen.
Es ist mittlerweile klar geworden, dass kleine Protestaktionen in Kairo nicht mehr dieselbe Ausstrahlung besitzen wie früher. Wer wirklich ernst genommen werden will mit seinem Vorhaben, das Regime zu stürzen, muss sich den fortdauernden Streikwellen in den Provinzen zuwenden.
Diese Streiks werden weitergehen, weil die ihnen zugrunde liegenden ökonomischen Bedingungen weiterbestehen. Dabei geht es nicht bloß um Brot-und-Butterfragen. Die Streiks sind gekennzeichnet durch ein hohes Maß an politischer Reife. Das hat seinen Grund: Wer in einer Diktatur streikt, gegen eine staatliche Betriebsleitung, weiß, dass die Streikenden es mit der Staatsgewerkschaft zu tun bekommen werden, dass die Fabrik von staatlichen Sicherheitskräften umzingelt werden wird, die einen vielleicht umbringen oder entführen und foltern oder die Familie bedrohen. In einen Streik zu treten, ist daher eine politische Entscheidung. Geichzeitig erleben wir, wie ökonomisches Bewusstsein der Arbeiterklasse in politisches umschlägt. Die Streikenden von Mahalla trugen Transparente mit dem Slogan: „Nieder mit der Regierung«, während sie Parolen gegen den Weltwährungsfonds und die Weltbank riefen. Mittlerweile fordern sie eine Anhebung des Mindestlohns, rufen Parolen gegen den Präsidenten sowie seinen Sohn und Erben Gamal Mubarak, und gegen die Polizei. Arbeiter und Streikführer in jenen Fabriken fordern jetzt auch unabhängige Gewerkschaften.
Der Kampf ist nicht beendet
All das summiert sich zu einer enormen Herausforderung für Mubarak, die aufständische Arbeiterklasse im Zaum zu halten. In den 1980er und 1990er Jahren konnte er sich leisten, streikende Arbeiter niederzuschießen, weil wir uns damals in einem Wirtschaftsabschwung befanden und die Menschen Angst hatten. Heute aber erklären Arbeiter anderer Fabriken zumindest ihre Unterstützung, wenn sie nicht sogar in den Solidaritätsstreik treten, sobald eine Fabrik zu streiken beginnt. Unsere unabhängigen Medien haben über die Ereignisse berichtet, so dass Arbeiter im gesamten Textilsektor wissen, was mit ihren Brüdern und Schwestern in Mahalla und anderswo passiert ist.
Es waren vor allem die städtischen Armen, die während des Mahalla-Aufstands gegen die Polizei kämpften. Aber wegen des Entwicklungsweges des ägyptischen Kapitalismus sind Klassenstrukturen nicht immer so eindeutig. In ein und derselben Familie kann es einen Industriearbeiter geben, dessen einer Bruder in der Schattenwirtschaft arbeitet, während der andere Bruder zusammen mit seiner Ehefrau ein eigenes Stück Land gemeinsam mit ihren Kindern beackert. Auch wenn der Aufstand also vor allem von den Armen ausging, werden sie überall in den Fabriken von Mahalla Verwandte haben, die alle genauso wütend sind.
Die Arbeiter von Mahalla haben sich vorerst zurückgezogen, die Wut aber ist geblieben und ihre Forderungen wurden bisher nicht erfüllt. Dieser Kampf ist noch nicht beendet.
Zum Autor:
Hossam al-Hamalawy lebt in Ägypten. Er ist Sozialist und arbeitet als Internet-Journalist. Seine Internetseite (in Englisch): http://arabist.net/arabawy
Zum Text:
Aus dem Englischen von David Paenson und Rosemarie Nünning. Für marx21.de ist der Text überarbeitet und gekürzt worden.
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