Tibeter werfen Steine – und die chinesische Regierung protestiert gegen Gewalt. Verkehrte Welt? Die Wurzeln des Aufstands und die Interessen Chinas erläutert die Sinologin Ulrike Eifler im Gespräch mit Marcel Bois und Jan Maas.
marx21: Die Proteste in Tibet sind die größten seit Jahrzehnten. Der Dalai Lama, geistiges Oberhaupt der tibetischen Buddhisten, macht eine Verschlechterung der Menschenrechtslage dafür verantwortlich. Wogegen wehren sich die Tibeter?
Ulrike Eifler: Tibet ist seit 1949 von den chinesischen Kommunisten besetzt, was mit einer starken Unterdrückung der tibetischen Kultur einhergeht. Die „Autonome Region Tibet« ist heute nur halb so groß wie das unabhängige Tibet von 1911. Tibetische Trachten, Tänze oder die Sprache können nur eingeschränkt aufgeführt oder angewandt werden.
Tibeter werden zu Haftstrafen verurteilt, wenn sie ein Portrait des Dalai Lama besitzen oder sich weigern, ihn zu kritisieren. Infolge des tibetischen Volksaufstandes von 1959 wurden 6.000 buddhistische Klöster zerstört.
Nach der „Kulturrevolution« (1966-76) gab es keinen einzigen praktizierenden Mönch und keine einzige praktizierende Nonne mehr in Tibet. Viele wurden verhaftet, getötet oder flohen aus Tibet. Später wurden einige Klöster wieder aufgebaut und die Mönche teilweise rehabilitiert. Doch die buddhistische Religion kann auch heute nur unter strengen Auflagen praktiziert werden.
Angesichts des Aufstands ruft der Dalai Lama die Tibeter dazu auf, auf Gewalt zu verzichten und nicht gegen Chinesen, sondern gegen die chinesische Politik zu kämpfen. Doch offensichtlich erreicht der Friedensnobelpreisträger eine große Zahl der Tibeter nicht. Warum?
Die gegenwärtigen Proteste sind ein gewaltiger Wutausbruch der Tibeter. Sie sind nicht nur kulturell unterdrückt, sondern vor allem sozial an die Wand gedrängt.
Seit Jahren verfolgt die chinesische Regierung die Strategie, Tibet mit chinesischen Zuwanderern zu besiedeln, um die Tibeter in ihrer eigenen Region zu marginalisieren. Da die Han-Chinesen mit finanziellen Anreizen nach Tibet gelockt werden, führt diese Politik zu einer deutlichen Diskriminierung bei der Wohnungsbeschaffung, im Beschäftigungssektor, im Schulwesen oder bei der Gesundheitsfürsorge. Während Chinesen in Tibet eine freie Gesundheitsversorgung genießen können, müssen die Tibeter dafür zahlen. Gleichzeitig ist die Armut unter den Tibetern besonders groß, weil chinesische Zuwanderer bei der Besetzung von Arbeitsplätzen bevorzugt werden.
Die Arbeitslosigkeit unter jungen Tibetern beträgt Schätzungen zufolge mehr als siebzig Prozent. In Lhasa leben mittlerweile 3.000 Bettler, in Shigatse sollen es noch mehr sein. Der wütende Aufstand der Tibeter ist Ausdruck ihres täglichen Überlebenskampfes.
Die chinesische Führung verteidigt die Niederschlagung der Proteste damit, dass sie Gewalttaten nicht hinnehmen könne. Hat die chinesische Regierung das Recht, sich zu verteidigen?
Es ist die Politik der chinesischen Regierung, die zu einer Verarmung und Verelendung der Tibeter führt. Wenn Menschen sterben, weil sie sich die Krankenhausbehandlung nicht leisten können oder wenn sie vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden, weil sie Tibeter sind, dann ist das auch eine Form von Gewalt.
Die Begründung der chinesischen Regierung ist heuchlerisch. Sie will damit nur ihre Angst vor einer Ausweitung der Proteste verschleiern. Denn nicht nur in Tibet wächst die soziale Spaltung. Privatisierung, Arbeitslosigkeit, Druck auf die Löhne und frühkapitalistische Bedingungen sind der Preis, den die chinesischen Arbeiter für das Wirtschaftswachstum zahlen müssen.
Die chinesische Gesellschaft ist wegen der sozialen Unzufriedenheit derart instabil, dass die Regierung zu Recht eine Ausweitung der Proteste befürchtet. Im Sommer 1989 hatten Studenten und Arbeiter die Machtfrage gestellt. Das wollen die chinesischen Kommunisten kein zweites Mal erleben.
Der Sekretär der Kommunistischen Partei Chinas in Tibet hat den Konflikt mit den Tibetern als einen »Kampf auf Leben und Tod« bezeichnet. Was ist an Tibet so wichtig für die chinesische Regierung?
Tibet ist von geostrategischer Bedeutung für China. Es verfügt über einen enormen Reichtum an Bodenschätzen. Die bedeutendsten Vorkommen der Erde an Uran, Lithium, Borax und Eisen lagern in Tibet. Auch die Vorräte an Erdöl, Erdgas, Gold, Silber, Kupfer und Zink sind von Bedeutung. Insgesamt haben die abbaufähigen Vorräte der Bodenschätze in Tibet einen Wert von etwa 128 Milliarden Dollar.
Für eine aufstrebende Wirtschaftsmacht wie China ist der Zugang zu Mineralien und Energie in der Tat ein „Kampf auf Leben und Tod«. Die Kontrolle über Tibet mit stabilen Verhältnissen bedeutet für China eine Autarkie bei der Rohstoffversorgung.
Gleichzeitig ist Tibet ein wichtiger militärischer Stützpunkt, um Asien zu dominieren und die Vormachtstellung auszubauen. Die chinesische Regierung hat geheime Radarstationen, Militärflugplätze, Raketenabschussbasen und Nuklearraketen in Tibet installiert. Mit seiner Grenze zu Indien wird Tibet zu einer Frontlinie für die Großmachtambitionen Pekings. Deshalb ist die Stabilität so wichtig.
Zumindest der Dalai Lama betont, dass er nicht die Unabhängigkeit, sondern nur eine größere Autonomie Tibets fordere. Trotzdem wirft die chinesische Führung den Tibetern vor, Separatisten zu sein. Ist der Vorwurf gerechtfertigt?
Der Dalai Lama setzt auf einen Dialog mit der chinesischen Regierung. Die aktuellen Proteste der Tibeter hingegen sind stark geprägt von antichinesischen Ressentiments.
Wenn die Geschäfte chinesischer Ladenbesitzer geplündert oder Chinesen gelyncht werden, wird das von der chinesischen Regierung zum Anlass genommen, nicht mit den Tibetern zu reden. Tatsächlich ist sie aber an einem Dialog auch gar nicht interessiert. Denn ihre Politik trägt koloniale Züge. Sie dient erstens dazu, den Widerstand gegen die chinesische Herrschaft zu brechen, indem die tibetische Bevölkerung marginalisiert werden soll. Sie soll zweitens die soziale und politische Unzufriedenheit im restlichen Teil Chinas kanalisieren, indem arbeitslose Chinesen unter finanziellen Anreizen nach Tibet gelockt werden. Sie dient drittens dazu, rücksichtslos und aus einem eigenen Profitinteresse die natürlichen Ressourcen auszubeuten. Und sie zielt viertens darauf ab, die Kontrolle über eine militärisch und strategisch wichtige Zone in Zentralasien auszuweiten und auf solide Füße zu stellen.
Die Politik der chinesischen Regierung ist also durchaus vergleichbar mit der Besetzung von Irak oder Afghanistan. Linke sollten auf diese Parallelen hinweisen und klarmachen, dass sich die Hauptakteure imperialistischer Politik im Kern ähneln.
Der Vorwurf des Separatismus ist ein Versuch, die Proteste zu diffamieren. Die Tibeter kämpfen für die Erhaltung ihrer Kultur und gegen eine soziale Ausgrenzung.
Was wäre an einer Unabhängigkeit Tibets auszusetzen?
Gegenwärtig verlaufen die Grenzen in Tibet zwischen unterdrückten Tibetern und unterdrückenden chinesischen Funktionären. Mit der Siedlungspolitik der chinesischen Führung nahm nicht nur die Verarmung und Verelendung der Tibeter zu, sondern auch die systematische Zerstörung des Lebensraumes. Die Landwirtschaft der Regierung brachte das ökologische Gleichgewicht durcheinander, was Hungerkatastrophen zur Folge hatte.
Tibet ist inzwischen ein Lager von nuklearen Abfallprodukten. Gleichzeitig rutschen durch den zunehmenden Bergbau die Hänge weg und die Flüsse verschmutzen. Diese Entwicklung ist nicht länger hinnehmbar. Ein unabhängiges Tibet würde der chinesischen Regierung den unmittelbaren Zugriff auf die Bodenschätze entziehen. Gleichzeitig ist der Kampf für ein unabhängiges Tibet ein Kampf für die soziale Verbesserung der Tibeter.
Also sollten Linke die tibetische Unabhängigkeitsbewegung unterstützen?
Die tibetischen Proteste haben einen starken antichinesischen Charakter, weshalb es vielen Linken schwer fällt, sich mit ihnen zu solidarisieren. Es wäre allerdings zu leicht, die Proteste als rassistisch oder politisch unkorrekt abzutun. Tibet ist eine der ärmsten Regionen in China. Die aggressive Politik der chinesischen Regierung drückt viele Tibeter mit dem Rücken an die Wand. Sie verdienen bei gleicher Arbeit nur die Hälfte von dem, was Han-Chinesen in Tibet verdienen. Deshalb wird der Klassenkonflikt in Tibet sehr stark überlagert durch einen nationalen Konflikt. Die kulturelle und soziale Unterdrückung der Tibeter durch die Politik der chinesischen Regierung befördert antichinesische Ressentiments.
Entscheidend aber ist die Tatsache, dass die Proteste eine breite soziale Basis haben. Es sind nicht nur tibetische Mönche und Intellektuelle, die auf die Straße gehen. Es sind auch junge Arbeiter und Arbeitslose, die sich gegen die soziale Deklassierung wehren.
Deshalb ist auch die über die Medien suggerierte Verengung der Proteste auf den Dalai Lama falsch. Während sich der Dalai Lama mit Staatsoberhäuptern verschiedener westlicher Industriestaaten trifft und die kulturelle Autonomie Tibets fordert, kämpfen die Tibeter gegen ihre soziale Benachteiligung. Es ist der Frust einer neuen Generation von jungen Tibetern. Sie wollen gleiche Jobs und gleiche Bildungschancen! Insofern sollte die Forderung nach Unabhängigkeit von Linken unterstützt werden. Die Tibeter müssen selbst bestimmen können, was in ihrem Land passiert.
Zwar äußern auch Koch, Merkel und Bush Verständnis für die protestierenden Tibeter, aber sie machen es aus ganz anderen Gründen. Dass westliche Unternehmen von der Ausbeutung der Menschen in China profitieren, stört sie nicht. Gleichzeitig möchten sie aber ihrem aufstrebenden Konkurrenten so klein wie möglich halten. Während sie Großmachtinteressen vertreten, stellen wir uns auf die Seite derjenigen, die weltweit gegen die Umverteilung von unten nach oben kämpfen.
Aber, wie gesagt: auch die chinesischen Arbeiter leiden unter dem Regime. Sinnvoll wäre letztendlich ein gemeinsamer Kampf von Tibetern und Han-Chinesen gegen die Regierung und für ein soziales China. Ein solcher Kampf wäre zudem das beste Mittel gegen die anti-chinesische Stimmung unter den Tibetern.
Die Forderung nach einem Boykott der Olympischen Spiele erinnert an den Kalten Krieg, als die Spiele in Moskau 1980 von NATO-Staaten und die in Los Angeles 1984 von Staaten des Warschauer Paktes boykottiert wurden. Sollten Linke diese Forderung unterstützten?
Es wäre tatsächlich bitter, in Peking ein Sportfest zu feiern, wenn zur gleichen Zeit chinesische Panzer gegen tibetische Mönche auffahren würden. Jedoch haben sich die Veranstalter und Sponsoren der Olympischen Spiele in der Vergangenheit wenig daran gestört, wenn die Staatsmacht des Gastgeberlands besonders repressiv war. Beispielsweise ließ die mexikanische Regierung 1968 zehn Tage vor Eröffnung der Sommerspiele einen Streik von Studenten in der Hauptstadt brutal niederschlagen. Etwa 500 Menschen kamen dabei ums Leben. Die Spiele in Mexiko-City fanden dennoch statt.
Entgegen der Behauptung der Veranstalter sind die Olympischen Spiele kein Symbol der Völkerverständigung. Vielmehr handelt es sich um eine riesige Vermarktungsmaschinerie, bei der Sponsoren gegeneinander antreten, um einander Marktanteile und Profite abzuringen. Anstatt die Boykottforderungen zu übernehmen, sollten wir die Menschenrechtsverletzungen in Tibet und die miserablen Arbeitsbedingungen in den Kontext des chinesischen Wirtschaftswachstums stellen. Die Athleten treten in Sportausstattungen von beispielsweise Adidas, Nike und Umbro an. Alle drei Unternehmen lassen ihre Turnschuhe oder Fußbälle in China produzieren. Die Beschäftigten arbeiten 12 bis 16 Stunden am Tag unter menschenunwürdigen Bedingungen und für klägliche Entlohnung.
Zur Person:
Ulrike Eifler ist Landesvorsitzende der LINKEN in Hessen. Sie hat von 1998 bis 2004 Politologie und Sinologie (Chinawissenschaften) in Marburg studiert und sich besonders mit den sozialen Auswirkungen des chinesischen Booms auf die Arbeiter beschäftigt. 2007 erschien ihr Buch »Neoliberale Globalisierung und die Arbeiterbewegung in China«.