Nach dem Wahlsieg will Ministerpräsident Erdogan im Kurdenkonflikt hart gegen die PKK »durchgreifen«. Doch diese Politik verschärft den Konflikt. Frieden ist nur durch eine umfassende Anerkennung der politischen und kulturellen Eigenständigkeit Kurdistans möglich. Von Serdar Damar
Die türkischen Streitkräfte bombardieren seit mehreren Wochen Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in den Kurdenregionen der Ost-Türkei und im Nordirak. Begründet werden die Angriffe auf die kurdischen Guerilleros mit dem jüngsten Zwischenfall vom 17. August, bei dem 12 türkische Sicherheitskräfte, die an der türkisch-irakischen Grenzregion Militäroperationen gegen die PKK führten, zu Tode kamen.
Der türkische Ministerpräsident Erdogan schlägt harte Töne an gegen jeden, der sich nicht gegen die PKK stellt. Damit sind all jene gemeint, die sowohl mit der PKK als auch mit der einzigen pro-kurdischen Partei im türkischen Parlament BDP (Partei für Frieden und Demokratie) sympathisieren. Demnach sollen auch friedliche Aktivitäten der pro-kurdischen Bewegung stärker verfolgt und diskriminiert werden. Eine chauvinistische Stimmung, die sich auch gegen die zivilgesellschaftlichen kurdischen Organisationen richtet, beherrscht seither das Land. Schon am Tag nach dem tödlichen Angriff der PKK titelte die Zeitung »Yeni Safak« im Hinblick auf die kurdische BDP: »Ihr seid die Mörder«. Damit reihte sich die Zeitung in die Mehrheit der türkischen Medien ein, die an der Seite der Regierung Stimmung gegen Kurden machen.
Nun sollen »Spezialkräfte« stärker in den Städten gegen Demonstranten vorgehen. Bereits jetzt sind über 1700 kurdische Politiker (darunter viele gewählte Bürgermeister und Stadträte sowie ein gewählter Parlamentsabgeordneter), gegen die seit ca. zwei Jahren unter dem Vorwand der politischen Unterstützung der PKK der Prozess gemacht wird, in Haft. Doch die kurdische Bewegung, welche mehrheitlich mit der PKK sympathisiert, ist längst nicht mehr eine – wie vom Staat jahrelang gerne propagiert – marginalisierte Widerstandsbewegung. Längst stellt sie mit ihren Frauen- und Jugendsektionen eine Massenbewegung dar. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die massiven Angriffe und die Kriminalisierung der pro-kurdischen zivilgesellschaftlichen Organisationen zu einer weiteren Verschärfung des Konfliktes führen werden.
Aber die kurdische Bewegung hat nicht vor, sich durch diese Drohungen von ihrem Kampf für Gleichberechtigung und Anerkennung sowie gegen Diskriminierung abbringen zu lassen. In den letzten Monaten haben die Revolutionen in den arabischen Ländern einen neuen Schwung in die kurdische Bewegung gebracht. Im Juni dieses Jahres beschlossen kurdische Organisationen Aktionen des zivilen Ungehorsams gegen die politischen und militärischen Angriffe des türkischen Staates. So werden auf den Straßen aufgeschlagene »Friedenszelte« zu einem Ort der Debatten und des Protests für eine Lösung des Konfliktes. Seit den neuesten Kämpfen werden Straßen blockiert, auf denen das Militär Nachschub für den Krieg gegen die PKK-Kämpfer transportiert oder tausende Menschen ziehen in die Kampfgebiete und stellen sich als »lebende Schilde« zwischen die Fronten.
Die Aktionen gehen weiter, obwohl gegen sie immer wieder brutal vorgegangen wird – bereits am 28. August wurde ein junger Aktivist bei einer solchen Aktion vom Militär erschossen. Trotz der Übergriffe des Staates ist die kurdische Bewegung gegen eine Einmischung des Westens in den Konflikt in Kurdistan. Der stellvertretende Vorsitzende der PKK Murat Karayilan hat sich in einem Interview mit der kurdischen ROJ TV ausdrücklich gegen eine militärische Einmischung der NATO in Syrien und Iran ausgesprochen, obgleich dort die Kurden ebenfalls seit Jahren für ihre Rechte Kämpfen und sie sich an den Demonstrationen gegen die Unterdrückung beteiligen. Die PKK ist der Meinung, dass eine solche Einmischung des Westens nur den imperialen Interessen dient, sie die Bewegungen ersticken und die kurdische Bewegung schwächen würde.
Die dreijährige Phase einer relativen Entspannung und Hoffnung auf Frieden in der Türkei endete in der Sackgasse – wegen der Halbherzigkeit der türkischen Regierung in der Kurdenfrage. Doch leider hat auch die Politik der kurdischen BewegungDazu beigetragen.
Die Praxis der Erdogan Regierung unterscheidet sich zwar stark vom Vorgehen der Regierungen zuvor. So wurde dem Druck der kurdischen Bewegung teilweise nachgegebenund kurdische Bedürfnisse – wenn auch nur verbal – teilweise anerkannt. .. In den Medien wird über den Konflikt offen debattiert und. Demonstrationen werden nicht mehr niedergeschossen wie in den 1990er Jahren. Aber obwohl die Regierung von der Bevölkerung für eine Demokratisierungspolitik große Zustimmung in den Wahlen erhielt, wurden weder Gesetze geändert, die u.a. den Gebrauch anderer Sprachen als Türkisch in Ämtern und Schulen verbieten, noch die Militäroperationen gegen die kurdische Guerilla gestoppt, die mehrmals einseitig die Waffen niedergelegt hat. Allein zwischen Mitte März und Mitte Juli wurden 49 kurdische Guerilleros von den Militärs getötet. Viele Kurden halten die Politik der Regierung für eine Hinhaltetaktik. Deshalb finden sie verbale Zugeständnisse an die Kurden ohne rechtliche Garantien zu vage, da sie von einer anderen Regierung schnell rückgängig gemacht werden können. Außerdem kommt die von der Regierung gemachte Unterscheidung zwischen den PKK-Kämpfern und der kurdischen Zivilbevölkerung innerhalb der kurdischen Bewegung einer Verkennung der kurdischen Realität gleich.
Auf die veränderte politische Lage in der Türkei reagieren PKK und BDP unangemessen. Sie setzt die alten nationalistisch-militärischen Eliten mit der gegenwärtigen AK-Parteiregierung Erdogan gleich und vergibt damit Chancen. In den letzten Jahren wurde unter dem Druck verschiedener gesellschaftlichen Kräfte die Macht des Militärs über die Politik erheblich beschnitten, Rechte der Gewerkschaften und religiöser Minderheiten wurden gestärkt. Während die liberal-konservative AK-Partei offensiver als alle vorherigen Regierungen gegen den Status quo und somit gegen die verkrusteten Verhältnisse zwischen dem Militär und dem Staatsapparat vorging und dabei die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit genoss, hielt sich die kurdische Bewegung zurück und nahm eine »neutrale« Position ein.
Außerdem hat die kurdische BDP im Parlament ihre Zustimmung unter dem Druck der PKK für die bislang umfassendste Verfassungsreform – die unter anderem die Stärkung der Gleichberechtigung, die Stärkung der Rechte von Gewerkschaften und die Beschränkung der Rechte des türkischen Militärs vorsah – verweigert mit dem Argument, es beinhalte nichts über Kurden. Unter dem Eindruck des historisch tiefverwurzeltem Misstrauens gegenüber dem Staat, möchte die PKK keine andere Lösung für den Konflikt zulassen, die nicht ihre Führung und die ihres Chefs Öcalan über die kurdische Bewegung untermauert. Diese Politik isoliert die kurdische Bewegung innerhalb ihrer Bündnispartnern in der türkischen Gesellschaft, die sich sowohl für die Rechte der Kurden einsetzen als auch für soziale Gerechtigkeit und gegen die Militärs auf die Straße gehen.
Der Konflikt in Kurdistan bildet das größte Problem in der Türkei. Er ist letztendlich auf die jahrzehntelange Verleugnung und Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung durch den türkischen Staat zurückzuführen. Bis heute sind an die 12 Millionen Kurdinnen und Kurden von jeglichen verfassungsrechtlich gesicherten Garantien ausgeschlossen. Die Anerkennung der Kurden als ein eigenständiges Volk in der Verfassung, die amtliche Einführung der kurdischen Sprache in der Kurdenregion, die Rückbenennung der kurdischen Städte und Ortschaften, die ins türkische umbenannt wurden und die Errichtung eines Regionalparlaments in Kurdistan, das sich direkt um die Belange der ökonomisch unterentwickelten Region kümmert, sind für die Lösung des Konfliktes unabdingbar.
Die nun seit mehr als 11 Jahren andauernde Gefängnishaft des von der Mehrheit der Kurden als Führung der Bewegung akzeptierten PKK-Gründers Öcalan verhindert eine Niederlegung der Waffen und steht einem Frieden entgegen.Mitllerweile ist die kurdische Bewegung die größte und bestorganisierte Demokratiebewegung in der Türkei und sie ist durchaus in der Lage, durch friedliche Aktionen und Proteste zusammen mit anderen außerparlamentarischen Kräfte wie Anti-Kriegsbewegung, Gewerkschaften und Umweltbewegung in der Türkei gemeinsam Rechte zu erkämpfen.
Um dafür die Bedingungen zu verbessern, ist es wichtig, dass die PKK sich mehr auf die zivilen außerparlamentarischen Bewegungen stützt und der parlamentarischen Kraft BDP größere Handlungsspielräume eröffnet. Die türkische außerparlamentarische Bewegung und die kurdische Bewegung müssen sich mehr aufeinander beziehen und solidarisieren, um eine blutige Teilung der Türkei zu vermeiden.
Die Unterdrückung der Kurden in der Türkei wäre in dem Umfang nicht möglich, hätten westliche Staaten wie Deutschland, Frankreich und die USA die Türkei nicht politisch und militärisch unterstützt. So ist die Türkei seit langem größter Abnehmer für Kriegsgeräte des drittgrößten Rüstungsexporteurs Deutschland. Noch im Frühjahr 2010 versprach Bundeskanzlerin Merkel der Türkei die Lieferung von 56 »Leopard II«-Panzern. Darüber hinaus werden die politischen Ausdrucksmöglichkeiten der Kurden in Deutschland durch das Verbot der PKK und ihr nahe stehender Vereine nach wie vor massiv eingeschränkt.
Linke sollten sich für das Selbstbestimmungsrecht der Kurdinnen und Kurden einsetzen.
Auch in Deutschland kann hierzu ein Beitrag geleistet werden. So fordert etwa die Föderation kurdischer Vereine in Deutschland, YEK-KOM, eine Anerkennung der ca. 800.000 in der Bundesrepublik lebenden Kurdinnen und Kurdenals eigenständige Migrantengruppe, sowie ihre rechtliche Gleichstellung mit Migranten anderer Herkunft. Die Repression gegen die kurdischen Vereine muss ein Ende finden, ebenso wie die Waffenexporte an die Türkei eingestellt werden müssen.Derartige Schritte könnten auch für die Türkei Signalwirkung haben: Nur durch eine umfassende Anerkennung der politischen und kulturellen Eigenständigkeit Kurdistans kann die Türkei den Weg zu Demokratie und Frieden finden.
Zum Autor:
Serdar Damar studiert Politikwissenschaften in Frankfurt am Main und schreibst seine Diplomarbeit über den Aufstieg der Türkei zu einer Regionalmacht. Er ist Mitglied der LINKEN.