Nicht weniger als eine »zweite Gründerzeit« versprach der neue baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann bei seinem Amtsantritt. Doch der Koalitionsvertrag spricht eine andere Sprache. Von Dirk Spöri
Baden-Württemberg erwacht. Die Jahrzehnte währende Macht der CDU im Ländle ist gebrochen und Winfried Kretschmann zum ersten grünen Ministerpräsidenten in der Geschichte der Bundesrepublik gewählt worden. Mit dem grün-rotem Projekt verbinden sich große Hoffnungen. Die Wählerinnen und Wähler erwarten nicht nur einen Stopp des umstrittenen Bahnhofsprojekts Stuttgart21, sondern auch den Umbau des extrem selektiven Bildungssystems und die Einführung von Gesamtschulen. Sie verlangen außerdem die Abschaffung der Studiengebühren, einen schnellen Atomausstieg und einen ökologischen Umbau der Wirtschaft. Diesen Erwartungen entsprechend sprach Kretschmann in seiner Regierungserklärung von »einer neuen Gründerzeit«. Er wolle »Ökologie und Wirtschaft in Einklang« bringen.
Auch der Koalitionsvertrag nimmt einige der Hoffnungen auf. So ist in ihm die Abschaffung der Studiengebühren zum Sommersemester 2012 vereinbart. Die dadurch entstehenden Einnahmenausfälle der Hochschulen soll das Land ausgleichen. Des Weiteren will Grün-Rot die verfasste Studierendenschaft wieder einführen (sowohl in Baden-Württemberg als auch in Bayern dürfen sich Studierende seit den 1970ern nicht mehr politisch äußern). Ein Bildungsurlaubsgesetz soll ebenso verabschiedet werden wie ein Tariftreuegesetz, das einen Mindestlohn von 8,50 Euro beinhaltet. Diese Reformen sind ein Produkt der Straße. Seit Sommer 2010 gab es eine Welle von Protesten in Baden-Württemberg. Es fanden regelmäßig Demonstrationen gegen Stuttgart21 mit bis zu einhunderttausend Teilnehmern statt. Stuttgart wurde zeitweilig zur »Protesthauptstadt Deutschlands«. Hinzu kam die wiedererstarkte Anti-Atom-Bewegung: Am Tag vor der Landtagswahl gingen bundesweit 250.000 Menschen für einen sofortigen Ausstieg auf die Straße. Diese Proteste haben die Grünen an die Macht gebracht. Nun müssen sie die Hoffnungen und Erwartungen erfüllen. Kann unter Grün-Rot ein wirklicher Politikwechsel stattfinden?
„Ökologische und soziale Modernisierung bringt wirtschaftliche Dynamik« ist das Kapitel des Koalitionsvertrages überschrieben, in dem die neue Wirtschaftspolitik des Landes beschrieben wird. Der ökologische Umbau weg von fossilen Brennstoffen und hin zu reduziertem Energieverbrauch ist das wichtigste Projekt, das sich die Grünen auf die Fahne geschrieben haben.
In seiner Regierungserklärung sagte Kretschmann: »Eine künftige Exportstrategie im Mobilitätsbereich braucht also mehr als das klassische Automobil. Nochmals: Niemand in dieser Landesregierung will den Menschen vorschreiben, welches Auto sie kaufen sollen.« Das klingt nett und scheint sich an die Verbraucher zu richten. In Wahrheit ist es aber ein Zugeständnis an die Automobilindustrie, sich nicht in deren Belange einzumischen oder die Konzerne mit ökologischen und sozialen Mindeststandards zu behelligen.
Es liegt eben nicht in der Hand der Bürgerinnen und Bürger, welche Verkehrsmittel zur Verfügung stehen. Sondern die Automobilindustrie entscheidet, ob sparsame und bezahlbare Autos gebaut werden. Land und Gemeinden bestimmen, ob es einen gut ausgebauten Nahverkehr gibt. Doch bei Kretschmann klingt es so: »Ich bin aber nicht der Ansicht, dass der Staat in erster Linie bestimmte Technologien fördern, sondern dass er klare Rahmenbedingungen dort setzen sollte (…) Stimulierende, und nicht strangulierende Grenzwerte, bessere Vernetzung der Verkehrsträger, fahrleistungsabhängige und nicht besitzabhängige Abgabenpolitik. Das sind die Linien einer solchen Ordnungspolitik.« Hier wird die Chance auf einen ökologischen Umbau des Verkehrswesens vertan.
Auch zum Energiekonzern EnBW, der von Ex-Ministerpräisdent Stefan Mappus Anfang des Jahres nur mit dem Ziel eines teuren Weiterverkaufs verstaatlicht wurde, schweigt Grün-Rot. Einzige Aussage: Die Landesregierung will sich mit der EnBW »wettbewerblich neutral« verhalten, einen Weiterverkauf schließt sie nicht aus. Das wäre jedoch fatal. Denn die EnBW wehrt sich wie die anderen Energiekonzerne gegen den Atomausstieg. Gemeinsam wollen sie dagegen klagen, um auch für die nächsten Jahre ihre Profite zu sichern. Stattdessen sollte das Land seinen Einfluss bei der EnBW ausnutzen, um alle Atomkraftwerke in Baden-Württemberg in den nächsten ein bis zwei Jahren stillzulegen. Damit würde bundesweit politischer Druck für einen schnelleren Atomausstieg erzeugt. Dafür wäre es nötig, die Manager des Stromriesen zu entmachten. Doch weder mit EnBW noch mit dem in Stuttgart beheimateten Autobauer Daimler möchten sich die Grünen anlegen. Im Gegenteil: Bei ihrem Landesparteitag, der über den Koalitionsvertrag beriet, war Daimler mit einer Werbeveranstaltung präsent und Vertreter von EnBW saßen in der ersten Reihe.
Zum ökologischen Umbau heißt es unter anderem im Koalitionsvertrag: »Deshalb werden wir die Solarenergie konsequent fördern – zum Beispiel indem wir landeseigene Dachflächen für Bürgersolaranlagen zur Verfügung stellen.« Das Konzept dahinter: die Förderung mittelständischer Solar- und Windkraftunternehmen. Ähnlich ist im Jahr 2003 Rot-Grün im Bund vorgegangen, als ein 100.000-Dächer-Solarprogramm aufgelegt wurde. Doch einzig auf solche Förderprogramme zu setzen, ist wirtschaftlich nicht nachhaltig. Das zeigte sich in der Krise der vergangenen zwei Jahre, als viele Solarunternehmen im Südwesten in große Schwierigkeiten gerieten und Stellen streichen mussten, obwohl die Förderprogramme mit öffentlichen Geldern bezahlt wurden.
Stattdessen wäre ein öffentliches Investitionsprogramm zur Gebäudesanierung und zur Ausstattung der Dächer landeseigener Gebäude mit Solaranlagen notwendig.
Im Koalitionsvertrag bekennt sich Grün-Rot zur Schuldenbremse und kündigt einen Umbau der Verwaltung an, der »zur Haushaltskonsolidierung beitragen« solle. Diesem Prinzip folgend verkündeten Kretschmann und SPD-Chef Nils Schmidt bereits den Abbau von 10.000 Lehrerstellen während der kommenden Legislaturperiode. Forderungen wie kostenlose Kitaplätze – noch im Wahlprogramm der SPD zu finden – fehlen im Koalitionsvertrag, weil sie angeblich nicht finanzierbar sind. Aber auch im Umweltbereich sieht es nicht besser aus: kein Wort zu Sozialtarifen bei der Stromversorgung. Solar-Förderprogramme und gleichzeitig Schuldenbremse bedeuten eine Umverteilung auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung.
Neben Atomausstieg und Energiewende ist die versprochene Abwehr von Stuttgart21 das zweite zentrale Projekt, an dem sich die neue Landesregierung messen lassen muss. Bei Stuttgart21 handelt es sich um ein mafiöses Projekt der Bauindustrie, der Deutschen Bahn AG und von Politikern aus CDU, FDP und SPD. Ziel ist die Privatisierung von Teilen der Stuttgarter Innenstadt.
Auf den ehemaligen Gleis- und Bahnhofsflächen und dem bahnhofsnahen Park sollen große Bürokomplexe entstehen. Durch die geschätzten acht bis zehn Milliarden Euro an öffentlichen Geldern, die mit dem Bahnhofsbau unter der Erde versenkt werden, ist Stuttgart21 auch ein Umverteilungsprojekt auf Kosten der Bevölkerung. Die Grünen scheinen darauf zu setzen, das Projekt entweder durch den »Stresstest« – eine Computersimulation der Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs – oder spätestens über eine landesweite Volksabstimmung Ende Oktober zu stoppen. Beides ist unrealistisch. Wenn sich aus dem Stresstest Mehrkosten ergeben, ist zu erwarten, dass Bund oder Bahn dafür einspringen. Für die Volksabstimmung gibt es enorm hohe, gesetzliche Hürden: Knapp drei Millionen Menschen von Mannheim bis Konstanz müssten gegen das Projekt stimmen. DIE LINKE Baden-Württemberg fordert statt dessen eine Bürgerbefragung im Raum Stuttgart, die höhere Erfolgsaussichten hätte.
Wie wacklig die Grünen-Strategie ist, zeigte sich Anfang Juni. Als die Bahn dem Land im Falle einer Fortsetzung des Baustopps mit einer Millionenklage drohte, knickte die Parteiführung ein. Sie war nicht bereit, die wage Drohung der Bahn zu hinterfragen und akzeptierte stattdessen einen Weiterbau vor Durchführung von Stresstest und Volksabstimmung. Stattdessen hätten die Grünen für den Tag, an dem der Bau fortgesetzt wird, zu Demonstrationen aufrufen müssen. Die Erfahrungen bei Stuttgart21 zeigen schon jetzt: Ein grundlegender Politikwechsel muss auch unter Grün-Rot erkämpft werden. Ohne einen Bruch mit den Interessen von Daimler, Deutsche Bahn und Co. wird es unter der neuen Regierung keine andere Politik geben. Weder ein baldiger Atomausstieg noch ein soziales Bildungssystem werden vom Himmel fallen. Dabei gilt es an die Massenproteste gegen Stuttgart21 anzuknüpfen und das Selbstbewusstsein der Anti-Atom-Bewegung mitzunehmen, um:
- für einen schnellen Atomausstieg zu kämpfen, der nicht auf Kosten der Bevölkerung geht
- das Milliardengrab Stuttgart21 zu stoppen
- kostenlose Kita-Plätze und die versprochene Abschaffung der Studiengebühren durchzusetzen
- Stellenabbau im öffentlichen Dienst verhindern und die Wochenarbeitszeit zu verkürzen.
Ein Aktionsprogramm, das diese Punkte aufnimmt, kann Anknüpfungspunkt für viele Wählerinnen und Wähler von SPD und Grünen, aber auch für deren Mitglieder werden und den Druck auf die Landesregierung erhöhen. Nur wenn es gelingt, weiter Proteste auf die Straße zu bringen, kann verhindert werden, dass sich die hohen Erwartungen in die erste Landesregierung ohne CDU-Beteiligung seit 1953 in Frust und Apathie verwandeln.
Zum Autor:
Dirk Spöri Ist Mitglied im Landesvorstand der LINKEN in Baden-Württemberg.
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