Am 22. April beginnt die Urabstimmung am größten deutschen Standort Bad Hersfeld mit 3000 Beschäftigten. Ver.di-Sekretär Heiner Reimann erklärt, wie bei Amazon aus einer gewerkschaftsfreien Zone ein Streikbetrieb wurde
marx21.de: Die Beschäftigten von Amazon verlangen einen Tarifvertrag. Amazon-Deutschland-Chef Ralf Kleber behauptet, die Löhne lägen schon jetzt an der oberen Grenze dessen, was in der Branche üblich ist. Stimmt das?
Reimann: Das kommt darauf an, auf welche Branche sich Amazon bezieht.
Laut Wikipedia auf den Versandhandel.
Das dachte ich auch immer. Und die Beschäftigten dachten das auch. Aber seit wir einen Tarifvertrag verlangen, behauptet die Geschäftsleitung, Amazon sei ein Logistik- und Speditionsunternehmen.
Was würde das bedeuten?
In diesem Fall wäre ein Stundenlohn von 9,83 Euro für neu Angestellte leider nicht unüblich. Aber wir wollen den Tarifvertrag durchsetzen, den auch andere Versandhändler wie Otto bezahlen. Der bringt mindestens 12,18 Euro pro Stunde sowie Urlaubs- und Weihnachtsgeld, was es jetzt nicht gibt.
Amazon gilt traditionell als Unternehmen, ohne nennenswerten Einfluss von ver.di.
Das stimmt. Bis 2011 hatten wir am Standort Bad Hersfeld weit unter 100 Mitglieder. Heute sind wir näher an der 1000er Marke und fühlen uns stark genug, um unsere Forderungen durchzusetzen.
Wie das?
Ver.di hat vor zwei Jahren bei Amazon ein gewerkschaftliches Organizing-Projekt begonnen …
… und dabei offensiv Mitglieder geworben.
Eben nicht! Unser Organizing-Projekt bei Amazon war erfolgreich, weil wir gerade nicht zu den Beschäftigten gesagt haben: „Unterschreib das Mitgliedsformular, dann gibt’s mehr Kohle.«
Sondern?
Wir haben immer versucht, die Beschäftigten zusammenzubringen, sie gefragt, was ihre Probleme, ihre Bedürfnisse sind, wo bei ihnen der Schuh drückt. Gemeinsam haben wir einen Plan entwickelt um die Probleme anzugehen und bestenfalls zu lösen. Der Eintritt bei ver.di war dann eher ein Nebenprodukt unserer gemeinsamen Aktivität. Gerade dadurch sind umso mehr Kollegen Mitglied bei ver.di geworden. Weil sie gesehen haben, dass sie selbst tatsächlich etwas bewegen können.
Und ihr größtes Problem war, ohne Tarifvertrag arbeiten zu müssen.
Zu Beginn überhaupt nicht. Bad Hersfeld liegt in Hessen, 30 Kilometer entfernt von Thüringen. Die meisten Amazon-Beschäftigten stammen aus Ostdeutschland, viele sind ungelernt und waren lange arbeitslos.
Auch Ostdeutsche brauchen Tarifverträge …
… sicher, aber das bedeutet: Sowohl die jungen als auch die meisten älteren haben noch nie mit Tarifvertrag gearbeitet. Für sie war das anfangs ein abstrakter Begriff, von dem sie nicht wussten, was er ihnen bringt.
Welche Forderungen haben die Beschäftigten dann gestellt?
Weniger Leistungsdruck, weniger Befristungen und bessere Bezahlung. Eines der wichtigsten Themen war jedoch Respekt.
Was bedeutet Respekt bei Amazon?
Die Vorgesetzten sind manchmal unter 30 Jahre alt und haben gerade ihr Betriebswirtschaftsstudium abgeschlossen. Einige ältere Beschäftigte haben sich gewünscht, dass sie höflich angesprochen werden, wenn sie von denen Anweisungen bekommen. Ein wichtiges Thema im Dezember waren die Toiletten …
… von denen ein globaler Konzern wie Amazon sicher genug im Betrieb hat.
Schon. Aber für einen Gang auf die Toilette darf man inklusive Weg nur fünf Minuten brauchen. Der Standort in Bad Hersfeld hat die Fläche von 17 Fußballfeldern und geschätzt alle 300 Meter sind WCs.
Im Weihnachtsgeschäft 2011 verhielt es sich wie folgt: während normalerweise 3000 Beschäftigte dort arbeiten sind es kurz vor Weihnachten 8000 und manche Toiletten werden wegen Verschmutzung geschlossen. Dann will man als 60-Jährige nicht gefragt werden, warum man sieben Minuten gebraucht hat, um zu pinkeln.
Wie seid ihr als Organizer mit solchen Randthemen umgegangen?
Indem wir verstanden haben, dass es keine Randthemen sind. Als Organizer musst du die Beschäftigten 100 Prozent ernst nehmen.
Die Leute müssen dich als Werkzeug verstehen, um ihre Probleme zu lösen. Ich bekomme mein Gehalt von ver.di, aber die ver.di-Mitglieder bei Amazon sind praktisch meine Auftraggeber. Und mittelfristig musst du dich selbst überflüssig machen.
Der Gewerkschaftssekretär soll überflüssig werden?
Genau. Organizing bedeutet, die Selbstaktivität der Beschäftigten zu organisieren. Jede Kollegin muss selbst wissen, warum sie streikt, sonst fällt es einem Konzern wie Amazon leicht, den Beschäftigten Angst zu machen.
Zu viele Leute verstehen Gewerkschaftssekretäre noch wie Versicherungsvertreter: Ich habe ein Problem. Das muss die Gewerkschaft für mich lösen. Dafür bezahle ich meinen Mitgliedsbeitrag.
Klingt logisch.
Kann sein, aber es funktioniert nicht. Wenn ich der Amazon-Geschäftsführung eine Liste der Beschwerden der Beschäftigten schicke, kriege ich bestenfalls eine Eingangsbestätigung meiner Mail.
Die Menschen müssen wieder lernen, ihre Ziele selbst zu formulieren und den Kampf gegen Konzerne wie Amazon selbst aufzunehmen. Das ist der Gegenentwurf zur Gewerkschaftsstrategie des 20. Jahrhunderts, in der die Sekretäre stellvertretend für die Beschäftigten gehandelt haben.
Funktionieren alle Organizing-Projekte der Gewerkschaften so?
Meine Wahrnehmung: Leider nicht immer. Manchmal gehen die Sekretäre mit einem fertigen Ziel in den Betrieb rein und wundern sich, dass die Beschäftigten das Ziel nicht übernehmen. Hier müssen die Gewerkschaften noch viel lernen.
Bei Amazon lief es offenbar gut. Heißt das, der Streik wird erfolgreich sein?
Wenn die Beschäftigten für Streik stimmen, könnte es Anfang Mai losgehen. Weil es der erste Streik bei Amazon ist, wissen wir nicht ob wir genug Druck aufbauen können, um den Tarifvertrag zu erzwingen. Wir sind auch auf die Solidarität kritischer Verbraucher angewiesen!
Kann die Auslieferung der Artikel nicht verhindert werden?
Doch. Aber Amazon hat acht Standorte in Deutschland. Bestreiken können wir nach den Urabstimmungen derzeit die beiden größten, Bad Hersfeld und Leipzig. Wir wissen noch nicht, ob der Konzern die Auslieferung verlagern kann, wie viel das kostet und vieles andere.
Wenn wir streiken, werden wir dadurch auch wichtige Erfahrung für die Zukunft sammeln. Auch hier gilt: Die Beschäftigten müssen selber lernen und selbst entscheiden, wie der Streik geführt wird, wann man abbricht und wann man einen Schritt weiter geht.
(Das Interview führte Hans Krause.)
Zur Person:
Heiner Reimann ist Gewerkschaftssekretär für Handel in Frankfurt/Main.
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