Die Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst ist im vollen Gange. Jürgen Ehlers erklärt, worum es ver.di geht und wirft einen Blick auf den letzten großen Streik im Öffentlichen Dienst 1992. Damals kam es nach dem Streikabbruch zu einem offenen Konflikt zwischen Führung und Basis. Wird es dieses Jahr anders werden?
Im Forderungskatalog der Bundestarifkommission von Verdi für die 2,1 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst kommt in diesem Jahr, wie schon 2008 und 2012, der Forderung nach einem Sockelbetrag für alle Beschäftigten eine Schlüsselrolle zu. Alle Entgelte sollen in diesem Jahr um 100 Euro und für die Beschäftigten im Nahverkehr um 170 Euro angehoben werden. Auf der Grundlage soll dann noch eine Erhöhung um 3,5 % für alle folgen. Der Urlaubsanspruch soll in Zukunft einheitlich 30 Tage im Jahr betragen.
Die Forderung nach einem pauschalen Sockelbetrag wirkt sich umso stärker aus je niedriger das Einkommen ist und kann damit für einen Arbeitskampf eine starke mobilisierende Wirkung haben. Für einen Busfahrer, eine Altenpflegerin, Erzieherin oder Krankschwester bedeutet das, dass sich ihre Bruttoeinkommen in Abhängigkeit von Dienstjahren und Qualifikation zwischen 7 und 9 % erhöhen würde. Die meisten Beschäftigten in diesen Berufsgruppen werden so niedrig bezahlt, dass ihr Nettoeinkommen nach Abzug der Miete und der Nebenkosten nicht ausreicht, um Rücklagen zu bilden und Nachzahlungen infolge gestiegener Energiepreise zu einem ernsten Problem werden.
Warnstreiks vor zwei Jahren
Vor zwei Jahren lautete die Forderung 6,5 % mehr für alle, aber mindestens 200 Euro für jeden. Verdi ließ die Mitgliedschaft mit Warnstreiks warmlaufen. Tausende der Beschäftigten im Nahverkehr, auf Flughäfen und in Kitas folgten den Aufrufen ihrer Gewerkschaft. Das Verhandlungsergebnis entsprach nicht den hochgesteckten Erwartungen, weil der geforderte Sockelbetrag nicht durchgesetzt worden ist, sondern lediglich 6,3 % mehr in drei Stufen bei einer zweijährigen Laufzeit. Die Gewerkschaftsspitze um Frank Bsirske ist dafür von der Mitgliedschaft harsch kritisiert worden und in der Tarifkommission gab es nur eine knappe Mehrheit für dieses schlechte Verhandlungsergebnis.
Ob es in diesem Jahr anders kommt, hängt davon ab, ob es gelingt den Verhandlungsführern hinter den verschlossenen Türen, von außen so den Rücken zu stärken, dass sie einen deutlichen Erwartungsdruck verspüren. Der Ärger über den Ausverkauf dieser Forderung bei der letzten Tarifrunde sitzt tief und droht damit zu einem Problem werden, weil der Glaube fehlt, dass es diesmal anders ausgehen kann. Allen LINKEN in Verdi muss klar sein, dass es an ihnen liegt, möglichst viele Gewerkschaftsmitglieder davon zu überzeugen, dass es auf sie ankommt, um es der eigenen Führung sehr schwer zu machen, ihre wichtigste Forderung nicht wieder unter den Verhandlungstisch fallen zu lassen. Wie wichtig das sein kann, hat sich vor mehr als 20 Jahren besonders deutlich gezeigt.
Streikabbruch 1992
Nach einem Streikabbruch ist es 1992 es zu einem offenen Konflikt zwischen Führung und Basis in der damaligen ÖTV gekommen. Die ÖTV (Gewerkschaftschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr), heute größter Fachbereich in Verdi, geriet damals in eine Zerreißprobe, nachdem die damalige Gewerkschaftsführung gegen eine Mehrheit in der eigenen Mitgliedschaft ohne vorherige Diskussion einen 12tägigen Streik abbrach. Der damalige Bundesvorstand machte von seinem satzungsgemäßen Recht Gebrauch, sich über das Votum mit der Begründung hinwegzusetzen, dass es zwar keine Mehrheit für das Verhandlungsergebnis gab, aber das nicht gleichzusetzen sei mit einer Mehrheit für die Fortsetzung des Arbeitskampfes.
Viele kehrten daraufhin der ÖTV den Rücken. Von den rund 60.000 neuen Mitgliedern, die im Streikjahr 1992 gewonnen worden sind, das entsprach einem Zuwachs von 5 %, ging die Hälfte bereits im Folgejahr wieder verloren. Viel schlimmer aber war, dass sich viele der ehrenamtlich Tätigen, die über den Streik politisiert und aktiviert worden sind, auf den Verrat der eigenen Führung mit Enttäuschung und Rückzug aus der Gewerkschaftsarbeit reagierten. Damit blieb die wichtigste Lehre aus der Niederlage, dass es 1992 an selbstbewussten Basisstrukturen fehlte, um dem mächtigen Apparat mit dem Bundesvorstand an der Spitze, etwas entgegensetzen zu können, bis heute fast überall ohne Konsequenzen.
Wer bezahlt?
Die poltischen und ökonomischen Rahmenbedingungen unterscheiden sich heute von den damaligen in vielen Detailpunkten. Es gibt aber auch eine wichtige Parallele, das ist die politische Dimension dieses Tarifstreits. Das war 1992 die Frage, wer bezahlt für die Kosten der Wiedervereinigung und heute ist es die Frage, wer bezahlt für eine Steuerpolitik, die die Unternehmen und die Reichen begünstigt und die dafür verantwortlich ist, dass viele öffentliche Haushalte heute sehr hoch verschuldet sind. Die 2009, mit Zustimmung der SPD gegen den, wenn auch zahnlosen Protest der Gewerkschaften, beschlossene Schuldenbremse, macht viele Kommunen handlungsunfähig. Der Verhandlungsführer der kommunalen Arbeitgeber, Thomas Böhle macht keinen Hehl daraus, dass ihm der Sockelbetrag viel zu teuer ist. Er droht unverhohlen damit, dass sein Durchsetzen den Verlust von Arbeitsplätzen bedeuten kann, weil im öffentlichen Nahverkehr, bei der Müllabfuhr, also überall dort, wo kommunale Betriebe bei Ausschreibungen von Dienstleistungen mit privaten Anbietern konkurrieren müssen, diese dann einen größeren Wettbewerbsvorteil hätten.
Weitere Privatisierungen sind nicht die Folge eines Sockelbetrages, der einen Busfahrer um 170,- Euro plus 3,5 % im Monat für eine Kommune teurer macht. Mit den Privatisierungen ist begonnen worden, obwohl die Bezahlung im öffentlichen Dienst in den unteren Lohngruppen schlecht gewesen ist. So wie in der Industrie, sichert auch im öffentlichen Dienst ein Lohnverzicht keine Arbeitsplätze. Es ist eine politische Entscheidung ob privatisiert wird oder nicht und wie diese Entscheidung ausfällt, hängt davon ab, wie groß der Druck der Beschäftigten ist. Auch hier gibt es eine Parallele zu 1992.
Tarifpolitische Wende
Die damalige Koalition aus CDU und FDP unter Führung von Helmuth Kohl sah sich mit einer wachsenden Kritik aus dem Arbeitgeberlager konfrontiert, das arbeitsmarktpolitische Reformen forderte, um die Tariflöhne unter Druck setzen zu können. Eine Forderung, die Kohl nicht erfüllen konnte, weil er eine offene Konfrontation mit allen Gewerkschaften gleichzeitig zu diesem Zeitpunkt politisch nicht überlebt hätte. Weil er sich für eine große Lösung, die später der sozialdemokratische Kanzler Schröder mit der Agenda 2010 durchsetzten konnte, nicht stark genug fühlte, suchte er ersatzweise nach einer kleinen Lösung.
In der Tarifrunde im öffentlichen Dienst wollte er 1992, nach seinen eigenen Worten, eine tarifpolitische Wende durchsetzen. Er lehnte den von Heide Simonis, der damaligen Verhandlungsführerin der Arbeitgeber und Ministerpräsidentin der SPD in Schleswig-Holstein, bereits akzeptierten Schlichterspruch, den die ÖTV-Führung schon akzeptiert hatte, ab. Er wollte die Lohnkosten im öffentlichen Dienst drücken und damit ein politisches Zeichen setzen. Die ÖTV nahm die Herausforderung an, weil sie ihr Selbstverständnis als Verhandlungspartner auf Augenhöhe in Frage gestellt sah und mobilisierte ihre Mitgliedschaft. Das Ziel war, Kohl zu zwingen, den Schlichterspruch anzunehmen. Die Streikbeteiligung war so groß wie nie zuvor im öffentlichen Dienst, und mit jedem Streiktag stiegen die Erwartungen an das Ergebnis, die schnell über den Schlichterspruch hinausgingen. Für Kohl endete sein Angriff in einem politischen Desaster, er musste den Schlichterspruch annehmen. Der Streikabbruch durch die ÖTV-Führung, die einen Kontrollverlust über ihre Mitgliedschaft fürchtete, rettete ihm die Kanzlerschaft.
Basisstrukturen
In dem Arbeitskampf von 1992 spielte natürlich auch die politische Gegnerschaft, zu einer unter den meisten Gewerkschaftern verhassten konservativen Regierung, eine erhebliche Rolle. Heute ist die SPD an der Bundesregierung beteiligt und obwohl sie mitverantwortlich ist für die Schuldenbremse und eine Steuerpolitik zugunsten der Reichen und Konzerne, wird die sozialdemokratische Fraktion in der Gewerkschaftsführung, sie nicht freiwillig zu einer Kraftprobe herausfordern wollen. Wenn der Erwartungsdruck groß genug ist und bereits in den ersten Aktionen zur Mobilisierung unmissverständlich von der Basis deutlich gemacht wird, kann sich daran etwas ändern. Deswegen ist es so wichtig, dass über die LINKE Basisstrukturen in der Gewerkschaft aufgebaut werden, die eine Demokratisierung durchsetzen und dauerhaft gewährleisten.
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