Die Geschichte Tunesiens und Ägyptens zeigt, dass der Westen stets dazu bereit war, antidemokratische und autoritäre Regimes zu tolerieren und zu unterstützen, wenn dies im Einklang mit den eigenen Interessen stand. Doch dieser Schluss kann dann zu Verwirrungen führen, wenn Regime, die sich offiziell in Opposition zur westlichen Dominanz im Nahen Osten befinden, von Innen herausgefordert werden. Von Leandros Fischer
Dies war der Fall bei den Reaktionen eines erheblichen Teils der Linken zu den Protesten gegen das iranische Regime nach den Wahlen im Jahre 2009. Ahmadinedschad wurde nicht nur in Erklärungen der linken Regierungen Lateinamerikas, sondern oft auch in Medien wie der »jungen Welt« als das kleinere Übel oder sogar als ein »Antiimperialist« dargestellt. Die Proteste gegen ihn wurden als ein von außen und den »verwestlichten Mittelschichten« inszeniertes Spektakel im Sinne der (tatsächlich inszenierten) »farbigen Revolutionen« in der Ukraine oder Georgien dargestellt. Das gleiche Muster scheint sich teilweise im Falle Libyens und Syriens zu wiederholen.
Bei Libyen und dem Iran ist es einfacher, diese krude Argumentation zu kontern. Immerhin verfolgt die Islamische Republik seit Jahrzehnten Linke, unterdrückt Frauen und tötet Homosexuelle. Die Erinnerungen von Gaddafis Treffen mit Obama und Berlusconi sind weiterhin allzu frisch in Erinnerung, um Gaddafi ernsthaft als Antiimperialisten ansehen zu können. Schwieriger wird es bei der Einschätzung Syriens. Hier beschuldigt das Regime von Bashar al-Assad neben dem Westen und Israel auch fundamentalistische Salafisten mit der Planung der Unruhen. Das syrische Ba´ath-Regime ist offiziell »säkular« und »sozialistisch«. Syrien hat zwei »offizielle« kommunistische Parteien, die Teil der »Nationalen Fortschrittlichen Front« sind, ein von der säkular-nationalistischen Ba´ath-Partei angeführtes Bündnis ganz im Vorbild der Beziehung der SED mit den ostdeutschen Blockparteien. Weiterhin wird das Regime bei vielen Linken in der Region aufgrund seiner Unterstützung der Hisbollah im benachbarten Libanon und für radikale palästinensische Gruppierungen in der Region als Teil der »Achse des Widerstandes« angesehen.
Der Weg zum Aufstand
Das syrische Regime ist eines der brutalsten im Nahen Osten. Folter, Hinrichtungen und das »Verschwinden« von Dissidenten gehören zum Alltag. Das Land befindet sich seit 1963 unter Ausnahmezustand, was ein Dutzend unterschiedlichen Geheimdienste erlaubt, frühzeitig und ohne Gerichtsverfahren jede Opposition im Keim zu ersticken. Zehn Prozent der Einwohner gehören der kurdischen Minderheit an, die zum großen Teil als Bürger zweiter Klasse leben.
1982 ließ der damalige Präsident, der Vater des heutigen Präsidenten, einen Aufstand der Muslimbrüder mit einem Massaker in der Stadt Hama, in der sich ein Generalstreik ereignete, niedergeschlagen. Dabei kamen laut dem britischen Journalist Robert Fisk 20.000 Menschen ums Leben. Die Stadt wurde danach mit Absicht für einige Monate in Ruinen gelassen, um Angst zu Schüren und einen zukünftigen Aufstand vorzubeugen.
Syrien ist aber gleichzeitig ein Land mit einer reichen Tradition von sozialen Kämpfen, eine Tradition die auch im jetzigen Aufstand weiterlebt. In den 50er und 60er herrschte in Syrien eine Periode der Unstabilität und kontinuierlicher Putsche. Unter der Arbeiterklasse wuchs die kommunistische Partei enorm. In ihren Reihen fanden sich Muslime, Christen, Araber und Kurden. 1970 kam Hafiz al-Assad an die Macht. Dieser gehörte dem »pragmatischen« rechten Flügel der Ba´ath-Partei an. Davor fand die Herrschaft des linken Flügels der Ba´ath statt, dessen halbherzige Versuch sozialistische Reformen von Oben einzuführen ins Chaos mündete.
Assad neutralisierte die KP indem er diese in seine Regierungsfront als Alternative zur erneuten Verfolgung brachte. Die KP ist seitdem nur nominell legal. Ihre Aktivitäten werden streng vom Regime beobachtet. Linke, die die Dominanz der Ba´ath-Partei nicht akzeptieren, werden verfolgt.
Syrien definiert sich als sozialistisches Land. Damit ist hier die Vorherrschaft des staatlichen Sektors in der Wirtschaft gemeint. Trotzdem geht der Trend in den letzten Jahren, wenn auch im langsamen Tempo, in Richtung Neoliberalisierung. Seit 2002 wurden teilweise Preiskontrollen, Subventionen auf bestimmte Nahrungsmittel sowie Zollbarrieren aufgehoben.
Dabei spielt die Frau von Bashar al-Assad, Asma, eine treibende Rolle. Durch Auftritte in Zeitschriften wie der Vogue versuchte sie, Syrien für westliche Investitionen attraktiv zu machen. Vor der Ehe mit dem Präsidenten bekleidete sie Stellen bei der Deutschen Bank, JP Morgan sowie bei einem Hedgefonds. Eine weitere Zielscheibe der Proteste ist der Cousin des Präsidenten Rami Makhlouf. der durch seine Geschäfte in diversen Bereichen wie Telekommunikation, Luftfahrt und Ölforderung ca. 60% der syrischen Wirtschaft im Griff hat.
Vetternwirtschaft und Korruption sind weit verbreitet. Gekoppelt mit Erinnerungen an die langjährige Repression der Diktatur, werden die Proteste auch von einem tief verankerten Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit getrieben. Deren Parolen und Forderungen unterscheiden sich nicht von denen in Ägypten. Schließlich, und im Gegensatz zu seinem Vater, basiert die Herrschaft von Bashar al-Assad weniger auf den Apparat der Ba´ath-Partei und der Armee, sondern vielmehr auf persönlichen und familiären Netzwerken. Dies erklärt die Schwierigkeit des Regimes, den Zusammenhalt der Streitkräfte zu bewahren und eine Welle von Überläufen seitens Offiziere zu verhindern.
Auch die Säkularität des Regimes muss in Frage gestellt werden. Seit dem Aufstand der Muslimbrüder 1982 bemüht sich das Regime, ähnlich wie Mubarak in Ägypten, islamistischen Gruppen die Hegemonie im kulturellen Bereich zu überlassen. So ist zum Beispiel in touristischen Broschüren immer zu lesen, wie der »gläubige Präsident« die Restaurierung von diversen islamischen Denkmälern anordnete.
Das Regime konnte bis jetzt nicht nur durch Terror überleben. Parallel dazu sicherte es sich durch soziale Maßnahmen die Duldung von großen Teilen der Bevölkerung. Damaskus ist eine Stadt von bescheidenen, aber würdigen Verhältnissen und nicht zu vergleichen mit Kairo. Kombiniert mit der massiven Präsenz des Repressionsapparats erklärt sich die Tatsache, dass die Wirkung der Proteste in den großen urbanen Zentren von Damaskus und Aleppo bis jetzt relativ gering blieb. Anders sieht es aus in den ländlichen Regionen oder mittelgroßen Städten wie Homs, Latakia und Hama.
Ein wichtiger Unterschied zur ägyptischen Revolution ist auch die bisherige Abwesenheit einer organisierten Arbeiterklasse. Arbeiter sind bei den Protesten aktiv, aber die Anzahl von Streiks blieb bis jetzt beschränkt. Im Gegensatz zu Tunesien und Ägypten machte die extreme Repression die Bildung einer Kampftradition in den letzen Jahren durch Streiks oder die Bildung unabhängiger Gewerkschaften nahezu unmöglich.
Ohne diese Aktivität der Arbeiterklasse droht den Protesten eine Militarisierung wie in Libyen oder eine Übernahme durch reaktionäre Gruppen die den Konflikt als einen zwischen der sunnitischen Mehrheit und der alawitischen Minderheit betrachten. Diese Konflikte werden schon jetzt vom Regime geschürt. Die Ängste der religiösen Minderheiten vor einer angeblichen Übernahme der Macht durch die sunnitischen Muslimbrüder werden instrumentalisiert um den überkonfessionellen Widerstand gegen das Regime zu brechen.
Ein antiimperialistisches Regime?
Syrien wird nicht nur durch massive interne Widersprüchen geprägt. Seit 1967 besetzt Israel die strategisch wichtigen und wasserreichen Golanhöhen. Dies erklärt auch die zögerliche Hinwendung in Richtung wirtschaftlicher Öffnung, verglichen mit Ägypten unter Mubarak. Durch die Konfrontation mit Israel befindet sich das Land auch in einem ambivalenten Verhältnis zu den USA.
Der Versuch, die Golanhöhe 1973 durch Krieg zurückzuerobern, scheiterte aufgrund der massiven militärischen Verstärkung Israels durch die USA. Seitdem ist für das Regime klar, dass eine Rückgabe der Golanhöhen nur mittels einer Verständigung mit dem USA möglich ist. Dieses Axiom leitet seitdem das zwischen Konfrontation und Kooperation abwechselnde Verhältnis des Landes zum Westen. 1976 marschierte Syrien im Libanon ein um die rechtsgerichteten Phalangisten in ihrem Kampf gegen die PLO und die libanesische Linke zu unterstützen.
Syrische Truppen verübten im gleichen Jahr ein Massaker an das palästinensische Flüchtlingslager von Tel al-Zaatar bei dem bis zu 3000 Menschen starben. Größer als die Angst vor Israel war für das Regime die Möglichkeit einer linksgerichteten und demokratischen Regierung im Nachbarland. Tatsächlich, wie der kritische israelische Historiker Avi Shlaim berichtet, gaben die USA und Israel dem Einmarsch grünes Licht und waren mit diesem höchst zufrieden.
Den US-Einmarsch gegen Saddam Hussein in Kuwait unterstützte Syrien 1991 mit Truppen. Als Gegenleistung durfte Syrien seine Hegemonie im Libanon für die nächsten 15 Jahre ausbauen. Auch während des »Krieges gegen den Terror« fungierte Syrien als Verhör- und Folterzentrum für die CIA-Geheimflüge des Programms »außerordentlicher Lieferung« (extaordinary rendition). Für die USA ist seit Obamas Amtsübernahme die Abkoppelung des Regimes vom Iran und nicht die Einführung der Demokratie die höchste Priorität.
Trotzdem blieb Syrien ein sowjetischer Verbündeter im Kalten Krieg und stärkte seit dessen Ende seine Allianz mit dem Regime im Iran. Seit Beginn der Bush-Ära verschärften sich die Töne zwischen Damaskus und Washington. Die vormals geduldete syrische Dominanz im Libanon endete 2005 aufgrund von Kriegsdrohungen seitens der USA und Frankreich. Israel sieht sich auch in Zeiten von Wasserknappheit immer weniger veranlagt, die Golanhöhe zurückzugeben. Die mangelnde Bereitschaft der USA, Druck an ihren besten Verbündeten auszuüben veranlasste Syrien dazu, seine Allianz mit dem Iran weiter zu befestigen.
In diesem Kontext muss die Unterstützung des Regimes für radikale palästinensische Gruppen sowie für die Hisbollah betrachtet werden. Durch dessen Sieg im Libanonkrieg 2006 und das US-Debakel im Irak sah sich das Regime in seinem Kurs bestätigt und gewann in der Region an Prestige. Nichtsdestotrotz ist es ein offenes Geheimnis, dass bei einer vollen Rückgabe der Golanhöhe sowie beim aktuellen Machtgleichgewicht in der Region, das Regime die Beziehungen zu Israel normalisieren und die Unterstützung für die Hisbollah und die Palästinenser einstellen wird.
Für die USA und Israel ist bis jetzt das Assad-Regime das kleinere Übel. Es hat die Grenze zu den Golanhöhen während der letzten vier Jahrzehnten überraschend ruhig gehalten und jeden Versuch, Waffen an die Bewohner dort zu schmuggeln effektiv unterbunden. Verglichen zu Libyen ist auch die Reaktion der USA eher zurückhaltend. Und Israel ist mehr um die geplante Ausrufung der Unabhängigkeit seitens der palästinensischen Autonomiebehörde im September als über die Ereignisse in Syrien besorgt.
Assad mag vielleicht ein Kontrahent sein, er ist aber ein bekannter Kontrahent. Das kann sich natürlich ändern je mehr sich die Ereignisse entwickeln und je mehr sich opportunistische Kräfte innerhalb der Opposition herauskristallisieren, die bereit sind, westliche Einmischung zu akzeptieren. Deswegen ist die Rolle der syrischen Arbeiterklasse eine höchst wichtige, um die Revolte nach vorne statt nach hinten zu treiben.
Was wenn?
Sicher ist es auch, dass der Westen sowie die Türkei, die eigene Regionalmachtambitionen verfolgt, bestimmte Elemente innerhalb Syriens unterstützen. Tatsächlich ist ein wichtiger Aspekt der Ereignisse in Syrien die wachsende geopolitische Rivalität zwischen der Türkei und dem mit Assad befreundeten iranischen Regime. Während die Türkei Assad dazu aufrief, demokratische Reformen einzuführen, unterstützen Truppen des iranischen Regimes die Repression. Dies bildet aber nicht die Kernessenz des Aufstandes.
Die gleichen Prinzipien, die die Linke hierzulande in Richtung einer bedingungslosen Unterstützung jedes Kampfes für Demokratie und Würde bewegen müssen, müssen gleichzeitig auch in eine unmissverständliche Ablehnung jeder Einmischung des Westens übersetzt werden. Der Angriff gegen Libyen ist der Beginn eines Planes für die Eindämmung der revolutionären Welle in der arabischen Welt. Ein weiterer Teil dieses Vorgehens war der blutige Einmarsch der Saudis in Bahrain, über den natürlich die westlichen Regierungen kein Wort verlieren, ja diesen sogar wie die Bundesrepublik mit Panzerlieferungen belohnen.
Eine Intervention ist von den Menschen in Syrien unerwünscht, da diese langfristig konträr zu den demokratischen Anliegen des syrischen Volkes laufen wird. Dies ist so im Falle Libyens, in dem sich die Rebellen bewusst oder unbewusst in Instrumente der NATO verwandelt haben. Es ist fraglich, wie viel Freiraum für fortschrittliche Politik ein neues libysches Regime besitzen wird, dessen eventuelle Existenz ein Geschenk von Nicolas Sarkozy und David Cameron sein wird.
Während aber über die möglichen Pläne der USA, Saudi Arabiens, Israels, der europäischen Mächte und der Türkei gewarnt werden muss, kann das Regime in Damaskus nicht als ein antiimperialistisches bezeichnet werden. Die Missstände im Land – insbesondere die jetzt dort stattfindenden Massaker – müssen deutlich angeprangert werden. Eine Einstellung, die soziale Rechte oder Antiimperialismus den individuellen Freiheiten als übergeordnet betrachtet, ist nicht in der Lage, das dialektische Verhältnis zwischen den Kämpfen für soziale Rechte und gegen den Imperialismus, sowie für mehr individuelle Freiheit zu begreifen.
Bei allen handelt es sich nämlich um Kämpfe gegen Ausformungen der gleichen kapitalistischen Machtstruktur, die sich in unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Konstellationen ausdrückt. Der Antiimperialismus der syrischen Regimes ist ein grotesk opportunistischer und stellt im Endeffekt ein Hindernis und kein Mittel für die Realisierung eines der wichtigsten Ziele der arabischen Revolution dar, nämlich die Freiheit von jeglicher Fremdbestimmung und die Befreiung Palästinas von der israelischen Besatzung.