Jan Richter ist Betriebsrats-Vorsitzender bei H&M in der Berliner Friedrichstraße. Auf der Marx ‚is Muss-Konferenz am 9. November in Oberhausen wird er gemeinsam mit Christine Buchholz (MdB DIE LINKE) und Mischa Aschmoneit (Interventionistische Linke) darüber diskutieren, wie man vom Wahlkampf zum Klassenkampf kommt und welche Strategien die Linke 2014 braucht.
Jan, während in Griechenland und Spanien fast regelmäßig zu Generalstreiks aufgerufen wird, scheint in der Bundesrepublik trotz Krise alles ruhig. Angela Merkel wird als Krisen-Managerin gelobt. Dabei gibt es auch hier Lohnsenkungen, Leiharbeit und Schuldenbremse. Der Protest lässt aber auf sich warten. Gibt es noch Hoffnung für den Klassenkampf in Deutschland?
Ja klar gibt’s Hoffnung, auch wenn wir Klassenkampf erst wieder lernen müssen. Das mussten wir bei H&M an der Berliner Friedrichstraße auch. Als sich vor zehn Jahren der Betriebsrat gegründet hat, waren wir gerade mal zwei Gewerkschaftsmitglieder im Haus. Da gab es kein Klassenbewusstsein, geschweige denn Klassenkampf. In der Tarifrunde 2007/2008 konnten wir die ersten Neumitglieder gewinnen. Am ersten Streiktag waren wir damals zu viert auf der Straße, am zweiten dann zu sechst, am dritten zu neunt. Wir konnten Kolleg_innen über den Streik aktivieren.
Heute sind 52 Kolleg_innen von 60 gewerkschaftlich organisiert und die Kolleg_innen verstehen sich als Teil der arbeitenden Klasse. Heute bestreiken wir ganz selbstverständlich auch allein unseren Standort oder probieren neue Formen wie Raus-Rein-Streiks aus.
Wie habt ihr das geschafft?
Maßgeblich dafür war unser Verständnis von Betriebsrats-Arbeit: Wir haben nicht Politik für, sondern mit unseren Kolleg_innen gemacht. Wir haben Workshops, Betriebsversammlungen und Umfragen organisiert. Die Beteiligung der Klasse ist unverzichtbar, wenn man Klassenbewusstsein oder Klassenkampf herstellen will.
Früher fanden es die Kolleg_innen seltsam, wenn bei uns manchmal die Wörter „Arbeiterklasse“, „lohnabhängig Beschäftigte“ oder „Arbeitskampf“ gefallen sind. Heute sind sie selbstverständlich.
Damit ein Arbeitskampf aber zum Klassenkampf wird, ist es unbedingt notwendig, dass der Arbeitskampf in die Gesellschaft hineinwirkt; sowohl politisch als auch privat. Demzufolge müssen sich auch Streikstrategien ändern. Ich persönlich finde das Engagement des Studierendenverbandes SDS in unserer Auseinandersetzung beispielhaft für eine neue Form des Politverständnisses. Auch die Berliner Blockupy-Plattform schließt sich jetzt in Berlin an und will den Arbeitskampf im Einzelhandel aktiv unterstützen. Das stärkt uns alle ganz ungemein.
Welche Arbeitskämpfe gibt es gerade?
In Berlin streiken seit Ende 2012 die angestellten Lehrer_innen. Es ist also mittlerweile ein sehr langer Konflikt. Aber der Berliner Senat verhandelt nicht mit ihnen. Die einzige Antwort, die meine fast seit einem Jahr streikenden Kolleg_innen der GEW vom Senat bekommen haben, ist eine Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit. Das ist skandalös. In jeder Talkshow reden Sozis über Bildung, Hannelore Kraft will sogar kein Kind zurücklassen. Und in Regierungsverantwortung kürzen sie dann den Etat für Bildungsausgaben. Ganz gleich, ob ihnen hier in Berlin die CDU oder die LINKEN als Koalitionspartner pflichtbewusst helfen.
In Berlin bahnt sich auch eine Auseinandersetzung bei der Charité an…
Genau, dort werden grad Tarifverhandlungen zu den Themen Gesundheitsschutz und Mindestbesetzung geführt. Dass die Frage der Mindestbesetzung, welche bisher mitbestimmungsfrei im ureigenen Unternehmerfeld lag, nun tariffähig gemacht wird, ist wahre Pionierarbeit der Kolleg_innen in der Charité. Und diese Auseinandersetzung wird nicht nur Auswirkungen auf andere Krankenhäuser haben, sondern auch auf andere Branchen. Da bin ich mir ganz sicher. Deshalb schaue ich mir die Auseinandersetzung an der Charité ganz genau an und bringe mich auch aktiv mit ein, wenn es die Kraft und Zeit unserer Auseinandersetzung zulässt.
Was muss getan werden, damit die Streiks erfolgreich werden?
Die Beispiele zeigen, dass Klassenkampf in Deutschland überall nur vereinzelt stattfindet. Aber die Charité bindet die Öffentlichkeit vorbildlich mit in ihre Auseinandersetzung ein. Das Motto der Beschäftigte lautet „Mehr von uns ist besser für alle“. Im Hinblick auf die Arbeit der Kolleg_innen an der Charité kann ich immer nur wieder sagen: „Mehr von euch ist besser für uns“. Im nächsten Schritt müssen diese Kämpfe unbedingt zusammengeführt werden, damit sie eben nicht mehr von der breiten Öffentlichkeit und den Medien ignoriert werden können.
Viele ArbeitnehmerInnen haben die Argumentationen der Konzerne und Manager übernommen, glauben mit Streiks oder weniger Arbeit würden sie ihren Arbeitsplatz gefährden. Wie habt ihr es geschafft, dass die KollegInnen wieder Klassenbewusstsein entwickeln?
Nun, der Einzelhandel gilt ja mittlerweile aus Testwiese für prekäre Beschäftigung, legitimiert durch landes- und bundespolitische Entscheidungen der letzten zehn Jahre. Die Agenda-Politik von Rot-Grün hat dafür gesorgt, dass eine Schwemme von Leiharbeit über uns hereingebrochen ist. Es ist ekelhaft, wieviele Minijobs geschaffen wurden und dass das Mittel der sachgrundlosen Befristung über zwei Jahre rigoros von den Arbeitgebern ausgeschöpft wurde. Parallel liberalisierten die Landesregierungen 2006 im Schatten der Fußball-WM das Ladenschlussgesetz. Nirgendwo ist es so „liberal“ wie 2006 im Rot-Roten Berlin. Supermärkte haben von Montag 7:00 Uhr bis Samstag 24:00 Uhr durchgehend geöffnet. Vielen Dank dafür!
2009 musste in Berlin sogar das Bundesverfassungsgericht eingreifen. Wieso?
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass verkaufsoffene Standorte an allen vier Adventssonntagen sittenwidrig sind. Ich finde dies noch immer beschämend. In schwarzen Bundesländern wie Baden-Württemberg oder Bayern gibt es im Jahr vier verkaufsoffene Sonntage, in Berlin gleich zehn. Über 80% der Beschäftigten im Handel sind weiblich. Viele haben Kinder und Familien. Wozu sollen diese die Vorweihnachtszeit genießen und den Anspruch erheben, einen Adventssonntag mit ihrer Familie zu verbringen, wenn man doch für die Interessen des Kapitals Schlüpfer verkaufen kann in seinem befristeten Beschäftigungsverhältnis? Sozialdemokraten und Sozialisten zusammen haben gerade hier in Berlin maßgeblich ihren Anteil daran, dass der Einzelhandel ein Hort prekärer Beschäftigung ist.
Heute fordern unsere Arbeitgeber in der Tarifrunde die Flexibilisierung unserer Arbeitszeiten, damit diese den aktuellen Bedürfnissen der Kunden angepasst werden. Sie nennen es liebevoll „Modernisierung“. Mir wird da nur noch schlecht.
Aber wie kamt ihr von der Wut zur Aktion, wie habt ihr eure KollegInnen für Streiks motivieren können?
Es war eine Kombination aus mehreren Gründen. Einerseits haben wir als Betriebsrat über Jahre vor Gericht erkämpft, dass unseren Kolleg_innen die Arbeitszeiten in den Verträgen erhöht werden, wodurch die Gruppe der Vollzeitbeschäftigten heute die größte bei uns im Haus ist. Parallel haben wir klare Überzeugungen wie „keine Leiharbeit“, „keine verlängerten Öffnungszeiten“ oder „mehr Vollzeit“ gebetsmühlenartig wiederholt und unsere Betriebsratspolitik danach ausgerichtet. Auf Betriebsversammlungen halten wir nicht einfach nur Rechenschaftsberichte, sondern beteiligen die Kolleg_innen in den betrieblichen Auseinandersetzungen und Verhandlungen. In den Verhandlungsentwürfen unserer Betriebsvereinbarungen für Einigungsstellen sind grundsätzlich immer die Forderungen unserer Kolleg_innen enthalten. Ihr Arbeitszeitmodell haben wir seinerzeit mit unseren Kolleg_innen zusammen erarbeitet und anschließend mit dem Arbeitgeber verhandelt und eins zu eins durchbekommen. So haben meine Kolleg_innen über Jahre die Erfahrung gemacht, dass es zu spürbaren Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen geführt hat, wenn sie sich erstens selbst beteiligt haben und zweitens einen Betriebsrat hatten, der ihre Forderungen als Maßstab genommen hat. Außerdem haben unsere Kolleg_innen verstanden, dass unser Arbeitsverhältnis zwangsläufig konfliktreich ist und es da unabdingbar ist, einen Betriebsrat zu haben, der keine Sozialpartnerschaft betreibt.
Wie meinst du das?
Ein sozialpartnerschaftlicher Betriebsrat stellt längere Öffnungszeiten normalerweise nicht infrage, sondern erklärt den Beschäftigten, warum sie für das Unternehmen notwendig sind. Das ist doch absurd. Als unser Arbeitgeber 2006 mit der „Idee“ der Verlängerung der Ladenöffnungszeiten zu uns ins Büro kam, haben wir ihn achtkantig rausgeschmissen, da unsere Kolleg_innen uns bereits per Beschluss auf einer Betriebsversammlung mitgeteilt haben, dass sie das nicht wollen. Also hatten wir einen klaren Auftrag als Betriebsrat. Und das ist Interessenvertretung. Ein Betriebsrat ist nicht dazu da, die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten zu verschlechtern, weil er Verständnis für die Anliegen des Arbeitgebers hat.
In deutschen Medien wird immer das Bild der kämpfenden Gewerkschafter in Griechenland oder Frankreich gezeichnet. Dagegen sieht die Streikbereitschaft der DGB-Gewerkschaften fahl aus. Brauchen wir neue Gewerkschaften?
Nein, ich denke nicht, dass wir neue Gewerkschaften brauchen. Aber Gewerkschaften müssen Klassenkampf ganz genauso neu lernen, wie auch die Beschäftigten. Es ist richtig, Mitte der 90er Jahre hat es ausgereicht, wenn der HBV vor einer Tarifrunde einen eintägigen Warnstreik mit den Beschäftigten eines großen Warenhauses veranstaltet hat und dann saß man am Verhandlungstisch und hat sich sozialpartnerschaftlich verständigt und geeinigt.
Wieso geht das heute nicht mehr?
Während ver.di am Anfang des neuen Jahrtausend für einen längeren Zeitraum damit beschäftigt war, sich zu gründen, sich Satzungen zu geben und irgendwie zu starten, haben sich die Arbeitgeber mit der Agendapolitik im Rücken längst von der Sozialpartnerschaft verabschiedet. Es gab einen fließenden Übergang zu einem System, welches auf Ausbeutung, Gewinnmaximierung um jeden Preis, Verantwortungslosigkeit und auf reiner Gier beruht. Und heute streiken wir im Berliner Einzelhandel seit Juni 2013 und die Arbeitgeber verhandeln einfach nicht mehr mit uns.
Wie haben sich die Unternehmen im letzten Jahrzehnt verändert?
Ich stelle mal eine Gegenfrage: Wer geht denn heute noch zu Karstadt, wenn er einen USB-Stick braucht? Wer geht denn heute in ein Warenhaus, wenn er Schreibpapier braucht? Shopping-Center sprießen überall aus dem Boden und in diesen Centern kleine Filialen großer Unternehmen. So hat man schön die Belegschaften zerteilt auf eine Stärke von 20, 50 oder 70 Beschäftigte, je nachdem, ob wir über McPaper oder H&M reden. Karstadt geht pleite und die Beschäftigten beteiligen sich nicht mehr am Arbeitskampf. Und nun steht ver.di da. Die großen Flagschiffe aus der Vergangenheit mit den großen organisierten Belegschaften kämpfen nicht mehr. Jetzt gibt es neue große Belegschaften, bei den ganzen Filiallisten. Aber die hatte man bisher kaum im Blick, geschweige denn ein gewerkschaftliches Konzept entwickelt, wie man an diese kleinen Belegschaften rankommt, die auf über 50 Standorte in einer Stadt wie Berlin verteilt sind. Und das wird die große Herausforderung für die Zukunft.
Wie geht ver.di mit diesem Wandel um?
Eine neue Gewerkschaft bräuchten wir, wenn unsere vor dieser Herausforderung den Kopf in den Sand stecken würde. Aber ver.di reagiert und öffnet sich und entwickelt zusammen mit den Organisierten neue Strategien. Ich habe die Hoffnung, dass ver.di sich durch den Streik erneuern kann und so stärker, kämpferischer und selbstbewusster in zukünftige Auseinandersetzungen mit Arbeitgebern zieht. Man kann quasi sagen, dass sich nicht nur die Arbeiterklasse emanzipieren muss, sondern auch die Gewerkschaft.
Das Interview führte Paula Rauch.
Mehr Informationen:
Marx-is-Muss-Konferenz Oberhausen
9. November, 11.00 Uhr
Linkes Zentrum Oberhausen, Elsässer Str. 19, 46045 Oberhausen
Weitere Informationen: www.marxismuss.de