Mehr Frauen in den Chefetagen? Das bringt ihren Geschlechtsgenossinnen aus der Arbeiterklasse wenig. Frauenbefreiung erfordert weitaus tiefgreifendere gesellschaftliche Veränderung, meint die marx21-Redaktion
Anfang dieses Jahres wurde eine vom Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebene Studie zur Chancengleichheit von Frauen und Männern veröffentlicht. Die Ergebnisse zeigen drastisch die Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Die Maßnahmen, die die Kommission zur Verbesserung der Situation vorschlägt, weisen in eine Richtung, die der schwarz-gelben Regierungspolitik entgegengesetzt ist.
Zwar ist mittlerweile die Mehrheit der Frauen erwerbstätig, aber zu deutlich schlechteren Bedingungen als Männer: Sie arbeiten seltener Vollzeit, zu geringerem Stundenlohn und häufiger in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Die Lohnkluft zwischen Männern und Frauen ist in Deutschland mit 23 Prozent so hoch wie in kaum einem anderen europäischen Land. Mehr als zwei Drittel derjenigen, die in Deutschland zu Niedriglöhnen arbeiten, sind Frauen.
Streit über Quote
Die Kommission schlägt daher unter anderem vor, dass ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wird, auf Minijobs die vollen Sozialbeiträge entfallen und dass Tarifverträge allgemein verbindlich werden sollen.
Schwarz-Gelb lehnt diese Forderungen ab. Das Einzige, über das die Regierung derzeit öffentlich diskutiert, ist der Ruf nach einer Quote für Führungspositionen in der Wirtschaft. Tatsächlich sind Frauen in den Chefetagen der Großkonzerne kaum vertreten: In den Vorständen der 100 wichtigsten Konzerne betrug der Frauenanteil im vergangenen Jahr nur 2,2 Prozent. Während die ehemalige Familienministerin Ursula von der Leyen noch eine verbindliche Quote für Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen verlangte, ist die aktuelle Familienministerin Kristina Schröder gegen einen festen Schlüssel. Stattdessen plädiert sie für eine flexible Regelung, bei der sich die Unternehmen eigene Quotenziele setzen können. Der Koalitionspartner FDP lehnt die Frauenquote für Chefetagen gänzlich ab, weil sie einen unzulässigen Eingriff in die unternehmerische Freiheit darstelle.
Chefin bei Schlecker
Die Debatte über die Quote ist längst überfällig. Doch auch durch eine solche Regelung bessert sich die Situation der Mehrheit der erwerbstätigen Frauen nicht. Eine Verkäuferin bei Schlecker hat nichts davon, wenn sie nun von einer Chefin erklärt bekommt, warum der Mindestlohn dem Unternehmen schade. Wir sind deswegen nicht gegen die Einführung einer solchen Quote (DIE LINKE fordert eine 50-Prozent-Quote für Führungspositionen), aber wir müssen unseren Schwerpunkt in der Diskussion über Frauenförderung auf die Bedürfnisse der Frauen aus der Arbeiterklasse legen.
Wir können dabei an die Tradition der proletarischen Frauenbewegung anknüpfen, die den Kampf für die Befreiung der Frau als untrennbaren Teil des Klassenkampfes für eine sozialistische Gesellschaft verstand. Rosa Luxemburgs Ausspruch »Kein Sozialismus ohne Demokratie, keine Demokratie ohne Sozialismus« ließe sich abwandeln in: »Keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung«. Der Kapitalismus ist eine Klassengesellschaft und kann ohne Ausbeutung und damit einhergehende Unterdrückung nicht funktionieren.
Hier und jetzt kämpfen
Doch diese Umstände bedeuten nicht, dass wir warten, bis der Kapitalismus abgeschafft ist. Ohne im Hier und Jetzt das Los der unterdrückten und ausgebeuteten Frauen zu verändern und sie zu ermutigen, politisch und gewerkschaftlich aktiv zu werden und sich zu wehren, werden wir nie eine Massenbewegung aufbauen, die den Sozialismus erkämpfen kann. Der Kampf um Reformen war in der marxistischen Tradition immer zentral. Dieses Erbe sollten wir wieder entdecken.
Entscheidend für den sozialistischen Ansatz ist, dass wir den Kampf für Frauenbefreiung aus einer Klassenperspektive betrachten und nicht als Geschlechterkampf aller Frauen gegen alle Männer. Von der Unterdrückung der Frauen profitieren die Herrschenden, die zum einen durch die niedrigeren Frauenlöhne und die Prekarisierung der gesamten Arbeitswelt die Ausbeutungsrate steigern. Zum anderen entlastet es das Kapital finanziell, wenn die Reproduktionsleistungen privat organisiert werden (sprich: die unbezahlten Arbeiten in Haushalt und Familie, wie Kindererziehung oder Altenpflege). Die Männer aus der Arbeiterklasse profitieren hingegen nicht davon, wenn Löhne gedrückt werden und der Stress in der Familie zunimmt. Das bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass es nicht auch sexistisches Verhalten bei Männern der Arbeiterklasse gibt. Davon wird im nächsten Abschnitt die Rede sein.
Kollektive Klasse
Die Orientierung auf die Kämpfe der Arbeiterbewegung bietet aus mehreren Gründen eine Perspektive für die Frauenbefreiung. Die Arbeiterklasse hat zum einen das Potenzial, Sexismus entgegenzutreten. Zum anderen kann sie durch ihre kollektiven Kämpfe eine völlig andere Gesellschaft begründen. Frauen sind heute integraler Bestandteil der Arbeiterklasse, die Mehrheit der Frauen ist erwerbstätig.
Erstens hat die Arbeiterklasse potenziell große wirtschaftliche Macht, weil die Gesellschaft nicht funktionieren kann, wenn Arbeiterinnen und Arbeiter die Arbeit niederlegen.
Zweitens führt der Kapitalismus mit seinen Angriffen auf den Lebensstandard die Arbeiterklasse in ihrem Widerstand zusammen. Arbeiterinnen und Arbeiter müssen in großen Betrieben miteinander kooperieren und die einzige Möglichkeit, ihre Interessen zu verteidigen, besteht in der gemeinschaftlichen Organisation. Wenn eine Beschäftigte der Telekom oder in einem Krankenhaus eine Lohnerhöhung möchte, ist es selten der beste Weg, sich persönlich an die Geschäftsführung zu wenden. Erfolgversprechender ist es, wenn die Beschäftigten, Männer wie Frauen, dem Management als Masse gegenübertreten, durch ihre Kollektivorganisationen, die Gewerkschaften. Die Arbeiterklasse ist gezwungen, vorhandene sexistische oder rassistische Spaltungen zu überwinden, wenn sie kollektive Stärke in den Auseinandersetzungen gewinnen will. Kein anderer Teil der Gesellschaft hat ein solches Potenzial.
Sexismus durchdringt die Gesellschaft
Sozialisten halten die Arbeiterklasse also nicht deshalb für ein Mittel der Veränderung, weil sie im Hier und Jetzt vorurteilsfreier, netter oder sozialistischer wäre, sondern weil der Druck zur Einheit in ihrer Klasse erst die Bedingungen schafft, die bestehenden gesellschaftlichen Vorurteile abzubauen.
Wir sprechen hier von einem Potenzial der Arbeiterklasse, nicht davon, dass alle Lohnabhängigen zu jeder Zeit kollektiv gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen bereit sind. Tatsächlich ist die Arbeiterklasse nicht immun gegen sexistische Ideen, Vorurteile und geschlechtsspezifische Rollenklischees – vor allem in Zeiten ohne größere soziale Kämpfe. Eine lange Tradition von materieller Abhängigkeit eines Geschlechts vom anderen hat starke Auswirkungen auf das grundsätzliche Rollenbild von Frauen und Männern. Frauenunterdrückung wurzelt zwar in den materiellen Verhältnissen des Kapitalismus, hat aber nicht nur einen ökonomischen Charakter. Sexismus durchdringt alle gesellschaftlichen Bereiche.
Spaltungen überwinden
Um ihr revolutionäres Potenzial zu entfalten, muss die Arbeiterklasse solche Spaltungen überwinden und gemeinsam kämpfen. Es ist die Aufgabe einer sozialistischen Organisation, für die größtmögliche Einheit der Klasse einzutreten und in den verschiedenen Bewegungen gegen alle Formen von Unterdrückung zu kämpfen. Eine sozialistische Organisation darf dem Druck von rückschrittlichen Ideen nicht nachgeben: Ein männlicher Sozialist muss noch entschiedener gegen Diskriminierung und Sexismus auftreten als seine Genossinnen.
Eine Organisation, die sich die Überwindung der Frauenunterdrückung zum Ziel gesetzt hat, muss selbst schon eine Organisation sein, in der sich Frauen wohlfühlen und sich gerne politisch engagieren. Es bedarf dafür besonderer Anstrengungen, damit die gesellschaftlichen Ungleichheiten nicht einfach in der politischen Arbeit reproduziert werden. Ziel der sozialistischen Organisation ist schließlich, die Selbstemanzipation der lohnabhängigen Klasse zu befördern – »die sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen will« (Gramsci). Schulung, Ausbildung und Befähigung der Mitglieder in allen dafür notwendigen Aspekten sind die zentralen Aufgaben.
Vorurteile umkrempeln
»Die herrschenden Ideen sind die Ideen der herrschenden Klasse«, schrieb Karl Marx. So übernehmen wir im Alltag häufig Vorstellungen, dass die gesellschaftlichen Bedingungen mit ihrer Konkurrenz, dem Egoismus und den geschlechtlichen Rollenbildern naturgegeben und unveränderlich seien.
Ein Blick auf Massenbewegungen in Zeiten großer Klassenkämpfe zeigt allerdings, wie diese Vorurteile ebenso umgekrempelt werden können wie die Gesellschaft selbst.
Aktuell können wir in den Demokratiebewegungen im arabischen Raum sehen, wie selbst in Gesellschaften mit stark traditionalistischen Rollenbildern in den Massenmobilisierungen und Streiks Frauen an vorderster Front der Kämpfe stehen. So berichtete in der letzten Ausgabe von marx21 die ägyptische Sozialistin und Bloggerin Gigi Ibrahim über ihre Erfahrungen in der Bewegung: »Diskriminierung und sexuelle Belästigung von Frauen sind fest in der ägyptischen Alltagskultur verankert. Überall und ständig werden wir angemacht (…) Doch seit Beginn der Revolution ist das anders. Während der 18 Tage, die ich auf dem Tahrir-Platz verbrachte, wurde ich kein einziges Mal sexuell belästigt (…). Wir Frauen spielten eine zentrale Rolle bei den Protesten. Wir demonstrierten, wir stellten uns dem Tränengas und den Kugeln.«
Befreiung von der Hausarbeit
Das bisher weitestgehende Beispiel für eine solche Massenbewegung war die Russische Revolution im Jahr 1917. Erstmalig in der Geschichte machte es sich eine Regierung zur Aufgabe, die Gleichstellung der Frau ökonomisch, politisch und sexuell zu verwirklichen. Neben dem Achtstundentag und der Gleichstellung der Frauen bei den Löhnen wurde der Mutterschutz eingeführt, Scheidungen wurden ermöglicht und Abtreibungen legalisiert. Zudem richtete die neue Sowjetregierung kommunale Restaurants, Wäschereien, Kinderkrippen und Kindergärten ein, mit denen die Frauen von der Last der Hausarbeit befreit werden sollten. Mit dem Aufstieg des Stalinismus wurden diese Errungenschaften zunichte gemacht. Dennoch zeigen die ersten Jahre der Russischen Revolution, wie mit der Abschaffung der kapitalistischen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse die Voraussetzungen für die vollständige Befreiung der Frau geschaffen wurden.
Revolutionäre Politik wartet nicht auf die Revolution, sondern setzt an den heutigen Widersprüchen an und kämpft im Hier und Jetzt für Verbesserungen. Gesellschaftssprengende Dynamik entfaltet sich aus diesen konkreten Kämpfen. Wichtige Forderungen der Linken heute sind: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung sowie der Altenpflege, kostenlose Kitas, Weg mit Hartz IV und ein Mindestlohn von 10 Euro. Soziale Forderungen stellen einen Kernbestandteil sozialistischer Frauenpolitik dar, denn sie würden das Schicksal der Mehrheit der Frauen verbessern. Es ist zugleich abzusehen, dass sie nur gegen den Widerstand der Herrschenden durchzusetzen sind. Durch den gemeinsamen Kampf für konkrete Verbesserungen und Reformen kann dabei politisches Bewusstsein entstehen, das eine über das kapitalistische System hinausgehende Perspektive ermöglicht.
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- Christine Behrens, Michael Ferschke, Katrin Schierbach: Marxismus und Frauenbefreiung (Edition Aurora 1999).