Am 15. Mai fanden in vielen arabischen Ländern Demonstrationen zum Jahrestag der Vertreibung der Palästinenser 1948 statt. Von Syrien aus gelangten Aktivisten mit Mitteln des zivilen Ungehorsams auf die von Israel besetzten Golanhöhen. In Ägypten schoss das Militär eine Demonstration vor der israelischen Botschaft zusammen. Von Mona Dohle, Kairo
Die Spannungen zwischen der ägyptischen Armee und Aktivisten der Palästinasolidarität haben sich am Sonntag, dem 63. Nakba-Tag, zugespitzt. Nakba bedeutet Katastrophe und bezeichnet die Vertreibung der Palästinenser bei der Gründung des Staats Israel.
Das Gesundheitsministerium hat mitgeteilt, dass über 350 Menschen bei den Zusammenstößen am Sonntag verletzt wurden. Atef Jehja, einer der Demonstranten, erlitt einen lebensgefährlichen Kopfschuss. Ali Chalaf, ein weiterer Demonstrant, erhielt einen Bauchschuss, er scheint aber außer Gefahr zu sein. Die Armee verhaftete mindestens 60 Leute.
Friedlicher Protest
Am Sonntag versammelten sich Tausende vor der israelischen Botschaft in Kairo, um ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk zu bekunden. Die Stimmung vor der Botschaft war anfangs friedlich. Die Protestierenden sangen palästinensische Lieder und riefen Parolen.
Auf die Anwesenheit der Militärpolizei reagierten Demonstranten mit den Rufen: »Das Volk und die Armee sind eins!« Dennoch stiegen die Spannungen am Nachmittag, als Einzelne versuchten, in die Botschaft zu gelangen. Die Streitkräfte, reguläre Streitkräfte wie Militärpolizei, begannen in die Luft zu feuern, um die Menge aufzulösen. Die Demonstranten, die sich vor die Armee stellten, wurden zunehmend wütend.
Armee mit scharfer Munition
Die Lage blieb auch am Abend gespannt, als Demonstranten den Abzug der Armee forderten. Augenzeugen berichteten, dass ein paar Leute den Zaun, der sie von der Armee trennte, zu entfernen versuchten. Sie gingen auf die Soldaten aber mit erhobenen Armen zu als Zeichen für ihre friedlichen Absichten. Plötzlich feuerte die Armee mit Tränengas auf die Demonstranten. Die Situation spitzte sich zu, als die Armee mit scharfer Munition in die Menge zu schießen begann.
Mindestens eine Person erlitt einen Kopfschuss, etwas fünfzehn andere wurden verletzt. Der Bereich um die Botschaft wurde abgeriegelt und die Aktivisten wurden von dem Gelände gedrängt. Rund hundert Protestierende stellten sich erneut vor den Soldatenketten auf. Dutzende Demonstranten wurden daraufhin verhaftet und etliche Journalisten misshandelt, darunter der Vertreter von al-Dschasira, Rawja Rageh. Bis in den frühen Morgen kam es zu Straßenschlachten mit der Armee. Rund 350 Personen wurden verletzt.
Spannungen in Ägypten
Mohammed Effat, ein freiberuflich arbeitender Journalist, beschrieb die Ereignisse für al-Dschasira: »Sie richteten ihre Gewehre auf uns, zwangen uns, uns auf den Bauch zu legen, gaben Salven in die Luft ab, beschimpften und schlugen uns. Ein Offizier sagte zu mir, wer nach oben guckt, kriegt einen Schlag in den Nacken. Zum Schluss nahmen sie uns unsere Handys und Ausweise ab, drängten uns in Autos [der Staatssicherheit] und brüllten: Viel Spaß im Militärgefängnis, revolutionäre Jugend!« Etliche Aktivisten, die während der Revolution über Twitter Berühmtheit erlangten, wie Tarek Schalabi und Mosaab Elschami, wurden verhaftet.
Dieser Zusammenstoß stellt einen neuen Höhepunkt der Spannungen zwischen Protestierenden und Armee dar. Konflikte entwickelten sich nach einer Kampagne über Facebook, mit der der diesjährige Nakba-Tag als Tag der dritten palästinensischen Intifada ausgerufen wurde. Diese Kampagne erzeugte zunehmend Druck auf die ägyptische Militärregierung. Die Armee wird mit wachsender Skepsis betrachtet. Es werden Fragen gestellt, warum sie die Angriffe auf Kopten nicht verhindert hat und warum weiterhin Demonstranten von Militärgerichten abgeurteilt werden. Die Facebook-Kampagne für eine dritte Intifada scheint der Strohhalm gewesen zu ein, der dem Kamel das Genick gebrochen hat.
Unterdrückungsapparat intakt
Die Proteste hatten am Freitag begonnen, als Tausende auf dem Tahrir-Platz demonstrierten und ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk wie auch mit den Kopten kundtaten. Die Spaltung zwischen den Aktivisten und der Armee vertiefte sich am Samstag, als tausende Menschen zur Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen reisen wollten. Der Oberste Rat der Streitkräfte wies Tourismusunternehmen an, keine Busse für den Konvoi zur Verfügung zu stellen. Die wenigen Busse, die dann doch abfuhren, wurden von der Armee angehalten.
Mai Schahin, eine der Organisatorinnen des Konvois, sagt bestürzt: »Unter Mubaraks Regime konnten wir einen Konvoi von Kairo nach Rafah organisieren. Jetzt, nach der Revolution, ist das verboten.« Viele Aktivisten der Palästinasolidarität hatten gehofft, dass die Übergangsregierung die Absicht verkünden würde, die Grenze zum Gazastreifen zu öffnen, Die Vorfälle vom Sonntag zeigen jedoch, dass Mubarak zwar politisch abgetreten, sein Unterdrückungsapparat aber weiterhin intakt ist.
(Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning)
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