Jochen Gester über den ungewöhnlicher Aufruhr bei Daimler in Sindelfingen
Anfang Dezember 2009 kam es im Zentrum der württembergischen Daimlerwelt zu einem bemerkenswerten Aufruhr, dessen Epizentrum das Sindelfinger Werk war. Fast eine Woche lang war die Normalität des Arbeitsalltags suspendiert. In allen Schichten legte die Belegschaft des Werks Sindelfingen die Arbeit nieder. Nur wenige haben in der gesamten Arbeitswoche mehr als 20 Stunden gearbeitet. Statt dessen diskutierten die Kollegen darüber, sich an Infoaktionen des Betriebsrats zu beteiligen, eine werksinterne Demo zur Hauptkantine und dann durch die Sindelfinger Innenstadt zum Busbahnhof zu organisieren.
Sindelfingen ist mit 36.000 Beschäftigten der größte Standort des Konzerns und eine der Wiegen der ehemaligen Daimler-Benz AG und heuten Daimler AG. 1915 wurde hier die Daimler Motorengesellschaft gegründet. Das Werk ist normalerweise nicht Ausgangspunkt von Arbeitskämpfen. Der Betriebsrat ist fest in der Hand der auf Co-Management orientierten Mehrheitsströmung innerhalb der IG Metall. Zündfunke für den ungewöhnlichen Aufruhr war eine Erklärung des Vorstandsvorsitzenden Zetsche, in Zukunft die Produktion der C-Klasse aus dem Sindelfinger Werk abzuziehen und in andere Werke zu verlagern. Nach Infos von dpa sollten 60% der C-Klassen-Fertigung ins Bremer Werk, 20% nach Tuscaloosa im Bundesstaat Alabama, USA, und jeweils 10% nach China und Südafrika. Offizielle Angaben gibt es nicht. Die C-Klasse ist der Volumenproduzent des Konzerns, entsprechend viele Arbeitsplätze sind damit verbunden. Jeder dritte Daimler-Pkw ist ein Modell der C-Klasse.
Tuscaloosa, USA
Die Beschneidung der Produktpalette um die Wagen der C-Klasse wurde von vielen als Dammbruch begriffen: Plötzlich schien eine vermeintlich unantastbare Sicherheit des Broterwerbs infrage gestellt. Der Betriebsrat kam zum Ergebnis, die Maßnahme gefährde 3000 Arbeitsplätze, und kritisierte die Entscheidung als »falsch und in der Wirkung fatal«. Insbesondere die Verlagerung in die USA stand im Mittelpunkt der Diskussion. Bisher hatte Daimler dort nur Geländewagen und große Vans gebaut. Daimler möchte den schwachen Dollar nutzen und Zoll- und Transportkosten einsparen. Auch rechnete der Vorstand der Belegschaft vor, in Tuscaloosa würden 1800 statt 1350 Stunden wie in Sindelfingen gearbeitet und dass Lohnkosten poro Fertigungsstunde würde die Aktionäre nur 30 statt 54 Euro kosten. Er vergaß zu erwähnen, dass der Konzern durch konsequentes union bashing dafür gesorgt hat, dass es in Tuscaloosa keine gewerkschaftliche Belegschaftsvertretung gibt.«
Seit Gründung des Werks in Tuscaloosa 1995 scheiterten zwei Gewerkschaften im Kampf um ihre Anerkennung. Die Südstaaten, insbesondere Alabama, wurden eine Art Refugium für Konzerne auf der Suche nach gewerkschaftsfreien Zonen. In keinem Werk der dort angesiedelten internationalen Autokonzerne stört eine Gewerkschaft das Geschäft. Als Sahnehäubchen fließen die Steuergelder. Alabama sponserte den Stuttgarter Konzern bei der Errichtung des Werks mit 253 Mio. US-Dollar, für die Ausweitung der Produktion wurden erneut 100 Mio. Dollar in Aussicht gestellt. Die Entwicklung in den Südstaaten zeigt wie im Brennglas, wie überlebensnotwendig ein überzeugender gewerkschaftlicher Internationalismus und der Bruch mit der Ideologie der Standortkonkurrenz geworden ist.
Zahme Antwort auf wilden Streik
Der Ausstand der Beschäftigten in Sindelfingen blieb nicht auf das dortige Werk beschränkt und entwickelte eine eigene Dynamik. Insgesamt 3500 Werksangehörige legten auch in den Werken Untertürkheim und Mettingen die Arbeit nieder und solidarisierten sich mit ihren Kollegen. In Rastatt kam aufgrund fehlender Teile die Produktion zum Erliegen. Der Protest war spontan oder, nach arbeitsrechtlicher Lesart, »wild«. Die IG Metall hat ihn nicht ausgelöst, sondern ihm in Form von Versammlungen im Rahmen von Der Betriebsrat informiert zum Teil legale Ausdrucksformen verschafft. »Mit einer bestimmten Strategie von Betriebsrat und Gewerkschaft hat das nichts zu tun«, schrieb deshalb auch ein Redakteur der Stuttgarter Zeitung. Jörg Hoffmann, Bezirksleiter der IG Metall, sagte einem Redakteur der Zeitung, in Sindelfingen drohe die Situation außer Kontrolle zu geraten, erklärte jedoch gleichzeitig, die IG Metall sei »keine Ordnungsmacht, die den Schaden beseitigt, den der Vorstand angerichtet hat«.
Es macht sich sofort positiv bemerkbar, wenn sich die IG Metall in ihrer Bereitschaft, Ordnungsmacht zu spielen, etwas zurückhält. Dies hat dazu beigetragen, dass auch der Vorstand ungewöhnlich vorsichtig bei der Verfolgung und Ahndung des unerwünschten und arbeitsvertragswidrigen Protests der Belegschaft agierte. Die Wortwahl des Vorstandsvorsitzenden ist erstaunlich und lehrreich: »Nicht jede Aktion ist aus unserer Sicht nachvollziehbar«, sagte Zetsche. »Wir bewerteten die Situation mit Augenmaß und werden die Entwicklung beobachten.« Sanktionen müssten die wild Streikenden nicht fürchten, mal abgesehen von den Abzügen entstandener Fehlstunden auf den Arbeitszeitkonten. »Was soll Zetsche aber auch anderes tun? ‹Jeder Versuch einer Repression würde die Stimmung nur noch weiter anheizen›, heißt es im Betriebsrat. ‹Was glauben Sie, was hier dann los wäre?›«, resümiert das Stuttgarter Blatt. Lehrreich ist die Szene, weil sie exemplarisch demonstriert, wie ein erweitertes Arbeitskampfrecht bis hin zum politischen Streikrecht entsteht: nicht durch Sammlung von Unterschriften, die im Parlament dann zu einer Aussprache führen, bei der sich fast das gesamte Parteienspektrum von CSU bis Grün über eine solche Initiative lustig macht, sondern durch das kluge Ausnutzen von Situationen, in denen Wut und Empörung über die Zumutungen des Kapitalismus Menschen in Bewegung setzt, die sich sonst den Anforderungen des Arbeitsalltags beugen. Sie nehmen sich dann Rechte, die sie nicht haben, und ihre massenhafte Wahrnehmung ist der beste Schutz davor, diszipliniert zu werden. Rechte müssen zuerst wahrgenommen werden, dann werden sie auch als Rechtstitel anerkannt, nicht umgekehrt.
Arbeitsplatzgarantie
Beendet wurde die Auseinandersetzung bei der Daimler AG mit einer Betriebsvereinbarung, die zwei Anforderungen erfüllt: Sie verbaut dem Vorstand nicht seine Pläne, nötigt ihm jedoch Zugeständnisse ab, die der Gewerkschaft erlaubt, ihr Gesicht zu wahren. Die C-Klasse wird ausgelagert. Bis 2020 sind betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen. Durch Hereinnahme anderer Produkte, wie des Roadster SL, der Guard G-Klasse, und durch die Eigenherstellung der Sitze für alle in Sindelfingen gefertigten Fahrzeuge soll es, nach Angaben der IG Metall, 2700 Ersatzarbeitsplätze geben. Auch der Gang in die Altersteilzeit wird erleichtert. In jedem Fall geht die Zahl der zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze zurück, die neu geschaffenen gehen zum Teil bei den Zulieferern verloren. Außerdem kann sich der Konzern in wirtschaftlich schwierigen Situationen über eine Ausstiegsklausel den eingegangenen Verpflichtungen entziehen.
Zentrale Forderung der in Rage geratenen Stuttgarter Autobauer war die Garantie der Erwerbsarbeitsplätze. Dies ist eine berechtigte, aber auch systemwidrige, weil unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht, oder nur zeitweilig, zu realisierende Utopie. Realisierbar wäre sie in einer Gesellschaft, in der wirtschaftliches Handeln gesellschaftlichen Bedürfnissen folgt und nicht von der Gewinnerwartung der Eigentümer abhängt. Vernünftigerweise könnte diese Gesellschaft nicht garantieren, dass bis in alle Ewigkeit Autos im bisherigen Umfang gebaut werden. Vielleicht würden dann auch Eisenbahnen oder etwas anderes gebaut, wie die Kollegen der Gewerkschaftslinken bei Daimler in ihrer Betriebszeitung Alternative schreiben. Doch die Gesellschaft könnte garantieren, dass für alle arbeitsfähigen Menschen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, die eine verlässliche Existenzsicherung und die Teilhabe am materiellen und kulturellen Reichtum erlauben. Eine solche Garantie bleibt im real existierenden Kapitalismus durch die verfassungsrechtliche Garantie der unternehmerischen Freiheit ausgeschlossen. Erneut stellt sich die alte Frage: Warum soll eine Gesellschaft die gesamtwirtschaftliche Entwicklung davon abhängig machen, was sich für eine Minderheit von Privateigentümern rechnet, obwohl der produzierte Reichtum das Werk ganzer Arbeitergenerationen ist und ohne die Nutzung einer umfangreichen steuerfinanzierten Infrastruktur gar nicht möglich (gewesen) wäre? Diese Gleichung geht für die Gesellschaft immer weniger auf.
Zum Text:
Der Artikel erschien zuerst in der SoZ – Sozialistische Zeitung unter dem Titel »Die C-Klasse geht« in der Ausgabe 02/2010.