Seit einem Monat sind die Streiks der Amazon-Beschäftigten aus den Medien verschwunden. Warum wir wohl bald wieder eine Menge davon zu sehen kriegen, erklärt Christian Krähling von der ver.di-Gruppe bei Amazon Bad Hersfeld im marx21-Gespräch
marx21.de: Die Beschäftigten von Amazon in Bad Hersfeld und Leipzig haben im Sommer mehrmals für die Einführung eines Tarifvertrags gestreikt. Hattet ihr Erfolg?
Christian Krähling: Noch nicht. Wir kämpfen weiter.
Wird es weitere Streiks geben? Seit über einem Monat war nichts mehr von euch in den Medien
Wir hatten eine kurze Phase, in der wir uns reorganisieren mussten. Wir haben zum Beispiel neue Vertrauensleute hinzugewählt. Im August haben wir in Bad Hersfeld als bisheriger Höhepunkt drei Tage hintereinander gestreikt.
Hat Amazon darauf reagiert?
Zu Verhandlungen ist man noch nicht bereit. Aber man hat sich dazu durchgerungen, Weihnachtsgeld zu zahlen. Dieses ist zwar weit unter Tarif, aber immerhin ein erster kleiner Erfolg.
Wir werden sehr bald wieder streiken. Genaueres kann ich aus strategischen Gründen noch nicht verraten.
Ist es noch sinnvoll zu streiken, wenn Amazon keine Zugeständnisse macht?
Keine Zugeständnisse bedeuten, dass wir sie noch nicht genug unter Druck gesetzt haben. Deshalb müssen wir die Streiks ausweiten.
Ist das möglich?
Ja. Bisher haben wir nur die beiden größten deutschen Amazon-Standorte, Bad Hersfeld und Leipzig bestreikt. Hier gewinnen wir derzeit weitere Mitglieder, um die Zahl der Streikenden vergrößern zu können. Vor allem aber bauen wir an weiteren Standorten streikfähige ver.di-Gruppen auf und vernetzen uns deutschlandweit.
Es gibt nicht viele Gewerkschaftsmitglieder, die so kämpferisch sind wie du
Bei Amazon schon. Und ich hoffe, dass sich andere Beschäftigte an uns ein Beispiel nehmen.
Wie ist es möglich, dass bei Amazon Bad Hersfeld so viele Kollegen bereit sind zu streiken?
Die Ausgangsbedingungen waren denkbar schlecht. Noch Weihnachten 2011 waren bei uns 80 Prozent befristet Beschäftigt. Befristet beschäftigte können sich kaum gewerkschaftlich engagieren.
Warum nicht?
Weil Amazon keine Kriterien hat, wonach ausgewählt wird, wer einen unbefristeten Vertrag bekommt und wer nicht. Solange ein Vorgesetzter dich bei Vertragsende ohne Begründung auf die Straße setzen kann, ist es schwierig, bei einer streikenden ver.di-Gruppe mitzumachen.
Die Geschäftsführung handelt völlig willkürlich?
Ja, wir sind hier bei Amazon und nicht bei Volkswagen. Man möchte die Arbeitsbedingungen am liebsten allein diktieren und lässt oft auch den Betriebsrat selbst bei mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten außen vor, so dass dieser sein Recht bei der Einigungsstelle einfordern muss.
Ich habe erlebt, wie ein Kollege abgemahnt wurde, weil er die Sicherheitsbestimmungen missachtet hatte. Sein Vergehen: Er hielt sich beim Hinuntersteigen einer Treppe nicht am Geländer fest.
Waren die Beschäftigten wütend über Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne?
Damals nicht. Noch 2011 musste ich an einem so genannten »All Hands« teilnehmen. Das ist so ähnlich wie eine Betriebsversammlung, die von der Geschäftsleitung einberufen wird.
Was wurde dort besprochen?
Besprochen eigentlich gar nichts. Ein Mitglied der Geschäftsleitung hat in einer flammenden Motivationsrede erklärt, warum es für uns alle gut ist, dass wir das sechste Jahr hintereinander keinen Cent Lohnerhöhung bekommen.
Und die Beschäftigten?
Haben mehrheitlich Beifall geklatscht. Ich dachte, ich bin im falschen Film.
Wie konntet ihr ver.di dann aufbauen?
Wir haben die Beschäftigten nach ihren Problemen gefragt und sie selber die Antworten darauf finden lassen. Am Ende der Diskussion haben wir für uns gemerkt, dass ein Tarifvertrag viele unserer Probleme lösen würde.
Die ver.di-Beitritte waren in diesem Prozess dann nur noch Formsache. Viele haben gesehen, dass es Leute im Betrieb gibt, die nicht an die Märchen der heilen Amazon-Welt glauben. Wir sind offen mit Aktionen und mit Flugblättern aufgetreten. Dadurch haben die Kolleg/innen im Betrieb gelernt, was Gewerkschaft ist und gesehen, dass sie keine Angst davor haben müssen sich zu organisieren.
Was hat die Gruppe damals gemacht?
Wir haben die Probleme in die betriebliche Öffentlichkeit gebracht und immer wieder den Finger in die Wunde gelegt. Auch bei Anfragen der Presse haben wir immer wieder unsere Probleme angesprochen6.
Wir haben zum Beispiel die Belegschaft für das Thema Befristungen sensibilisiert und aufgezeigt, dass man nicht alles stumm hinnehmen muss. Wir konnten das Thema Befristungen Ende 2011 auch über die Presse in die Öffentlichkeit bringen. Kurz darauf wurden massenhaft Verträge umgewandelt. Jetzt müssen nur noch 20 bis 25 Prozent der Beschäftigten mit befristeten Verträgen arbeiten.
Das hat ausgereicht, um streikfähig zu werden?
Nein. Hinzu kam 2010 ein sehr gutes Organizing-Projekt von ver.di. Seitdem hat sich die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder bei uns verachtfacht.
Läuft das Organizing bei euch noch?
Nein. Die Organizer sind lange weg. Hunderte ver.di-Mitglieder sind geblieben und wir werden noch mehr.
Heute haben wir über 30 Vertrauensleute und eine Tarifkommission. Und das Beste ist: Die Mitglieder machen uns Druck, die Streiks voranzutreiben.
Aber wozu streiken, wenn der Betrieb problemlos weiterläuft?
Als wir dieses Jahr mit Streiks begonnen haben, wusste niemand, ob wir damit den Versand der Artikel behindern können. Anfangs schien es nicht so.
Aber der dreitägige Streik im August hat gezeigt, dass die Amazon-Geschäftsführung entgegen ihrer Behauptung sehr wohl Probleme mit unserem Streik hatte.
Inwiefern?
Das erste Mal in unserem Leben sahen wir Manager und Vorarbeiter an den Bändern stehen und Artikel einpacken. Andere Beschäftigte wurden panisch hin- und her verschoben, um entstandene Lücken zu füllen. Auf dieser Erfahrung bauen wir auf.
Wie könnte es weitergehen?
Einige Beschäftigte fordern einen durchgehenden Streik von zum Beispiel zwei Wochen.
Wäre das möglich?
Wenn die Beschäftigten das wollen und wenn die Gewerkschaft das will, ist alles möglich. Als der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske hier war, hat er uns volle Unterstützung und ausreichend Geld aus den Streikkassen zugesagt. Dieses Versprechen werden wir einfordern.
Was hindert euch dann noch zu streiken?
Hindern tut uns gar nichts. Aber wir wollen keine voreiligen Schnellschüsse.
Bei uns wird nicht willkürlich zu Streiks aufgerufen. Sie werden intensiv besprochen und es wird kontrovers diskutiert. Wir versuchen es so hinzubekommen, dass sich möglichst viele mit einbringen können und sind bestrebt, das Ganze basisdemokratisch zu organisieren.
Gleichzeitig müssen wir die Vernetzung mit den anderen Standorten koordinieren. Nur das bringt das notwendige Engagement der Beschäftigten und nur damit können wir gewinnen.
Hat DIE LINKE eure Streikbewegung jemals unterstützt?
Oh ja. Sowohl die hessische Fraktionsvorsitzende Janine Wissler als auch der thüringische Fraktionsvorsitzende Bodo Ramelow haben uns in Bad Hersfeld bei Streiks besucht.
Wie kamen sie bei den Beschäftigten an?
Die Reaktionen waren widersprüchlich. Die Kollegen misstrauen allen Parteien und damit auch der LINKEN und ihren Politikern. Aber sobald Wissler oder Ramelow gesprochen haben, fanden sie ihre Aussagen gut, was aber nichts am grundsätzlichen Misstrauen ändert.
Und DIE LINKE aus der Region hat sich nicht blicken lassen?
Doch. Auch Mitglieder der LINKEN Bad Hersfeld sind bei Streiks zu unserem Betrieb gekommen und haben in Flugblättern ihre Solidarität ausgedrückt. Der Kreisverband der LINKEN hat sogar ein Solidaritätskonzert mit Barbara Thalheim organisiert.
Auch das hat manchen Kollegen gefallen und manchen weniger. Aber DIE LINKE hat auf jeden Fall bewiesen, dass sie unseren Kampf ernst nimmt und ihn unterstützen will.
Wann kommt der Amazon-Streik wieder im Fernsehen?
Dazu kann ich im Moment nichts sagen. Nur so viel: Ich werde im Betrieb jeden Tag gefragt, wann es endlich wieder losgeht.
(Das Interview führte Hans Krause.)
Zur Person:
Christian Krähling arbeitet als Escalation Specialist bei Amazon Bad Hersfeld. Er ist Vertrauensmann von ver.di und Mitglied der Tarifkommission.
Mehr auf marx21.de:
- ver.di kämpft um Mindestbesetzung in der Charité: In Krankenhäusern fehlen so viele Pflegekräfte, dass Patienten sterben, die nicht sterben müssten. Warum ein Streik im Berliner Krankenhaus Charité das verändern könnte, erklärt Anja Kistler vom Deutschen Berufsverband der Pflegeberufe im marx21-Gespräch
- »Wir müssen Klassenkampf neu lernen«: Jan Richter arbeitet seit zehn Jahren erfolgreich dafür, dass die Beschäftigten einer Berliner H&M-Filiale selbstbewusst für ihre Forderungen einstehen. Wie er und die anderen Betriebsrätinnen das machen, erläutert er im marx21-Gespräch