Eine Mehrheit von 58 Prozent hat in der Türkei für zentrale Verfassungsänderungen gestimmt. Die Änderungen waren von der konservativen Regierung vorgelegt. Warum das auch ein Sieg für die Linke ist, erklärt Chris Stephenson
Die jetzt beschlossenen Verfassungsänderungen haben weitreichende Folgen. Eine der Änderungen ist die Abschaffung der Straffreiheit für die Generäle, die 1980 den Putsch anführten. Andere Änderungen beziehen sich auf die Zusammensetzung zentraler Körperschaften des Justizwesens, und den Angestellten des öffentlichen Dienstes soll das Recht zugestanden werden, sich kollektiv zu organisieren. Die Änderungen sind Teil des erbitterten Kampfes zwischen der Regierungspartei, die 2002 in ihre erste Amtszeit gewählt wurde, und dem »tiefen Staat«. Diese Auseinandersetzungen finden zwischen zwei Flügeln der türkischen herrschenden Klasse statt, aber es geht dabei auch um zentrale Anliegen der Arbeiterklasse und der Linken. Die Kleinunternehmer, die den Kern der Anhängerschaft der AK Partei bilden, wollen die Bevorzugung ihrer größeren Konkurrenten beendet sehen, und sie wünschen sich eine Anerkennung ihres konservativen, islamischen Lebensstils. Sie wollen ein Ende der Herrschaft der Generäle über den Staat und das Justizwesen sowie uneingeschränkte Möglichkeit, sich politisch zu betätigen. Islamisten, Kurden und Linke haben alle erleben müssen, wie ihre Parteien durch eine nicht gewählte Justiz geschlossen und deren Vermögen eingezogen wurden, während ihren Mitgliedern die politische Betätigung verboten wurde.
Der erneute Sieg der AK Partei, die aus den Wahlen von 2007 gestärkt hervorging, machte die so genannten »Ergenekon«-Ermittlungen möglich. Den Mitgliedern der Ergenekon und anderer Verschwörungen wird vorgeworfen, Morde begangen und Provokationen verursacht zu haben, die zu Instabilität führen und einen Vorwand für einen erneuten Militärputsch liefern sollten. Einige dieser Morde sollten Islamisten in die Schuhe geschoben werden, wurden aber von sekulären Kräften durchgeführt. Mittlerweile stehen Dutzende von Offizieren, darunter auch viele Generäle, vor Gericht.
Das Referendum war auch eine Abstimmung über die Energekon-Verfahren. Der positive Ausgang wird Erwartungen bei den Menschen wecken, die am meisten unter dem undemokratischen Regime leiden: Arbeiter und Kurden. Gleichzeitig stärkt er deren Zuversicht, die Macht der Generäle und der Justiz einschränken zu können.
Aber der Kemalismus, die nationalistische und anti-islamische Ideologie des türkischen Staates, hat großen Einfluss auf die türkische Linke, so dass sie diese Zusammenhänge nicht erkennt.
Die offizielle parlamentarische Linke, die Republikanische Volkspartei (CHP) hat sich gegen die Verfassungsänderungen und die Energekon-Verfahren ausgesprochen und sogar indirekt zu einer Intervention des Militärs aufgerufen.
Aber auch große Teile der radikalen Linken rufen zu Wahlenthaltung oder zur Ablehnung der Änderungen auf. Von den zwei links beeinflussten Gewerkschaften ruft die DISK (Industriearbeiter) zur Ablehnung auf, und die KESK (öffentlicher Dienst) hat sich für Wahlenthaltung entschieden, nachdem sie anfänglich ebenfalls für eine Ablehnung war.
Die kurdische Parlamentspartei (BDP) hat ihre Zustimmung als Gegenleistung für andere Änderungen angeboten, die den kurdischen Wünschen nach Demokratie entgegenkommen sollen. Obwohl ihr keins dieser Zugeständnisse gemacht wurde, hat die BDP die Vorschläge der Regierung gerade so weit unterstützt, dass sie im Parlament verabschiedet werden konnten.
Die Armee hat der Regierung im Zusammenhang mit Energekon einige Zugeständnisse machen müssen. Ihren Einfluss versucht sie sich derweil zu sichern, indem sie den Zusammenbruch des Waffenstillstands mit dem bewaffneten kurdischen Widerstand eingefädelt hat. Infolgedessen ist die Zahl der Toten in diesem Konflikt sprunghaft angestiegen. Die Islamisten machen sich für alle anderen ihrer Maßnahmen zur Demokratisierung mehr ein als für ihre „Demokratieinitiative" für die Kurden. Die Verhandlungen der BDP mit der Regierung haben zu keinerlei greifbaren Ergebnissen geführt. Dass die BDP deshalb zum Boykott des Referendum aufrief ist allein Schuld der Regierung. Eine neue Partei der Einheit auf der Linken, die Partei für Gleichheit und Demokratie (EDP) ruft allerdings zur Zustimmung bei der Volksabstimmung auf. Die Partei ist aus der erfolgreichen Kampagne zur Wahl gemeinsamer linker Kandidaten bei den Wahlen 2007 hervorgegangen. Viele ihrer Mitglieder kommen aus kemalistischen Traditionen. Die mit überwältigender Mehrheit getroffenen Entscheidung der EDP, für Zustimmung beim Referendum zu werben, zeigt, dass heutzutage doch Veränderungen auf der türkischen Linken möglich sind.
Zur Person:
Chris Stephenson lehrt Computerwissenschaften an der Bilgi Universität in Istanbul ist ist aktiv in der Partei für Gleichheit und Demokratie (EDP)