In der Serie »Was will marx21?« werden die politischen Grundlagen des marx21-Netzwerks vorgestellt. Teil 2: »Gibt es überhaupt noch eine Arbeiterklasse? Welche Rolle spielt sie im Kampf für den Sozialismus?«
Mit welcher Strategie können linke Forderungen in der Gesellschaft durchgesetzt werden? Anfang des Jahres gründeten Mitglieder der LINKEN, der SPD und der Grünen eine »Denkfabrik«, um Antworten auf diese Frage zu entwickeln. Das Institut Solidarische Moderne grenzt sich in seiner Gründungserklärung von der Orientierung der »alten« Linken auf die Kämpfe der Arbeiterbewegung ab: »Zu den konzeptionellen Schwächen der industriellen Linken gehörte und gehört (…) die Fokussierung auf Erwerbsarbeit und eine damit einhergehende Ignoranz gegenüber anderen, gesellschaftlich gleichermaßen bedeutenden Tätigkeiten wie Reproduktionsarbeit, politisches Engagement, Bildungsarbeit und Muße.« An die Stelle einer Orientierung auf die Klasse der Lohnabhängigen setzt das Institut »den politischen Kampf um die gleiche Teilhabe aller BürgerInnen an den gesellschaftlich produzierten Werten, für die öffentliche Garantie gesellschaftlich angemessener Existenzbedingungen und gleicher Lebenschancen für alle«.
Dieser Argumentation liegt die Annahme zugrunde, dass durch den Wandel der Beschäftigungsverhältnisse im modernen Kapitalismus die Arbeiterklasse massiv an Größe und Bedeutung verloren habe.
Häufig trifft man auch auf eine Vorstellung von der Arbeiterklasse, die diese entweder an ihrem Lebensstil und Konsumverhalten festmacht oder daran, ob ihre – zumeist männlichen – Angehörigen einen Blaumann tragen. Die Tatsache, dass es seit 1945 im Großen und Ganzen erhebliche Realeinkommenszuwächse bei Industriearbeitern gegeben hat und sich Konsumformen der Industriearbeiter und der Angestellten angenähert haben, wird dann als Beleg für den »Untergang« der Arbeiterklasse angeführt.
Neu ist diese Idee nicht: Schon im 19. Jahrhundert behauptete ein Kommentator in Großbritannien, die Arbeiterklasse werde sich auflösen, da die Arbeiter nun Leder- statt Holzschuhe trügen. Für Karl Marx waren Fragen des Lebensstils und des Konsumverhaltens jedoch keine Kriterien für die Definition der Arbeiterklasse. Er hatte auch keineswegs nur die Fabrikarbeiter mit »Blaumann und Kettenfett« im Blick.
Der Kapitalismus ist das dynamischste Produktionssystem in der Geschichte und verändert kontinuierlich die Zusammensetzung der Arbeiterschaft und somit auch deren Lebensstile und ihr Konsumverhalten. Deshalb ist die Geschichte der Arbeiterklasse eine Geschichte des stetigen Wandels, in dessen Rahmen alte Branchen untergehen, während neue entstehen und die Arbeitsorganisation umgewälzt wird. So hat sich mit dem technologischen Fortschritt auch das »typische« Bild von der Tätigkeit der Lohnabhängigen gewandelt: Die Werkstätten und Manufakturbetriebe in der Frühzeit des Kapitalismus wurden verdrängt durch die Fließbandarbeit in großen Fabrikhallen und ergänzt um den wachsenden Dienstleistungssektor mit beispielsweise Callcentern als relativ junger Erscheinung der kapitalistischen Lohnarbeit.
Zudem haben sich mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus neue, länderübergreifende Produktionsketten und Arbeitsteilungen herausgebildet. So wurden besonders arbeitsintensive Tätigkeiten wie etwa in der Textilbranche zunehmend in Billiglohnländer ausgelagert. In hochindustrialisierten Ländern wie Deutschland bestimmen vermehrt kapitalintensive Arbeitsplätze wie im Maschinenbau und der Automobilbranche das Bild sowie Branchen, die eine höhere Qualifikation erfordern.
Auch politische Entscheidungen können das Bild der Beschäftigungsverhältnisse verändern. Die Einführung der Hartz-IV-Gesetze durch die Schröder-Regierung hat beispielsweise zu einer massiven Ausweitung des Niedriglohnsektors geführt.
Die Klassenstellung ist nach Marx von der Position eines Menschen innerhalb der Produktionsverhältnisse abhängig. Kontrolliert oder besitzt eine Person Produktionsmittel (Maschinen, Büros etc.), oder hat sie nichts als ihre Arbeitskraft auf dem Markt anzubieten? Hier ist der Begriff der Verfügungsgewalt wichtig. Ein Manager besitzt heute selten eine Firma, aber er verfügt maßgeblich über sie und hat Einfluss auf ihre Geschicke. Eine Lohnarbeiterin oder ein Lohnarbeiter hat hingegen keinen oder nur wenig Einfluss darauf, wie der Betrieb agiert. Sie oder er muss die Arbeitskraft verkaufen, um überleben zu können, weil sie über keine Produktionsmittel und kein Vermögen verfügen, von dem sie ihr Leben finanzieren könnten. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob jemand in einem Industrie- oder Dienstleistungsbetrieb arbeitet beziehungsweise ob jemand vor einem Computer sitzt oder am Fließband steht.
Das betrifft die überwältigende Mehrheit der Erwachsenen in den Industrieländern. Der vielfach unterstellte Rückgang der Arbeiterklasse ist zahlenmäßig nicht zu belegen. Im Gegenteil: Der Kapitalismus heutiger Prägung hat die Kategorie der Lohnarbeit vielmehr auf dem ganzen Globus verallgemeinert, anstatt sie abzuschaffen.
Der Prozess der Proletarisierung, den Marx und Engels im »Kommunistischen Manifest« beschreiben, setzt sich im Weltmaßstab fort. So hat die Industrialisierung in China alleine in den letzten zehn Jahren Dutzende Millionen Wanderarbeiter vom Land in die Städte und Sonderwirtschaftszonen gezogen, wo sie in den Fabriken, auf dem Bau und als Hausangestellte arbeiten. Die globale Arbeiterklasse ist heute nicht nur weitaus größer als zu Zeiten von Marx , sondern auch als vor 50 oder vor 20 Jahren.
Grob geschätzt gehören 70 bis 75 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung Deutschlands zur Arbeiterklasse: Arbeiter, Angestellte, Arbeitslose und ihre Familien. Die anderen Schichten und Klassen unserer Gesellschaft sind deutlich kleiner: Etwa fünf Prozent »alte« Mittelschicht bzw. Kleinbürgertum: kleine Handwerker, selbständige Ärzte und Anwälte, Bauern. Etwa zehn bis fünfzehn Prozent neue Mittelschicht: höhere Angestellte, leitende Beamte. Nur etwa ein bis zwei Prozent gehören zur herrschenden Klasse: Geschäftsführer, Vorstandsmitglieder, Direktoren von Großkonzernen etc.
Die herrschende Klasse definiert sich unabhängig davon, ob ihre Mitglieder formal ein »Gehalt« beziehen oder Eigentümer eines Unternehmens sind. Entscheidendes Merkmal ist ihr Interesse, die Ausbeutungsrate zu erhöhen, um die Profite zu steigern (zum Begriff der Ausbeutung siehe weiter unten). Marx nennt sie »personifiziertes Kapital«. Ein Teil der neuen Mittelschicht ist dabei ein wichtiger Verbündeter: Sie »verdienen« sich ihre hohen Gehälter dadurch, dass sie der herrschenden Klasse helfen, die Arbeiterklasse zu kontrollieren und ökonomisch auszubeuten.
Eine zweite Frage lautet, ob die Arbeiterklasse eine entscheidende Bedeutung für die Abschaffung des Kapitalismus hat? Und wenn ja, welche?
Der Kapitalismus beruht auf der Ausbeutung der Arbeiterklasse. Aus ihr stammen die Profite der herrschenden Klasse. Genauer: Der Profit entsteht dadurch, dass den lohnabhängig Beschäftigten nicht der eigentliche Wert ihrer Arbeit bezahlt wird, sondern nur ein Teil. So fließt nicht der Gegenwert der Leistung eines ganzen Arbeitstags auf das Lohnkonto, etwa von acht Stunden, sondern nur der von – sagen wir – fünf Stunden. Jene drei Stunden, die die Arbeiterin, der Arbeiter quasi »umsonst« arbeiten, eignet sich der Kapitalist als Mehrwert an. (Das genaue Verhältnis von bezahlter und unbezahlter Lohnarbeit kann auch ein anderes sein. Die obigen Zahlen sollen nur als Beispiel dienen.) Ausbeutung ist also eine ökonomische und keine moralische Beschreibung: Sie bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber schlecht behandelt wird.
Dieses Ausbeutungsverhältnis bedeutet auch, dass Arbeiter, wenn sie sich gemeinsam organisieren, die Fähigkeit haben, der Kapitalistenklasse die Arbeitskraft zu entziehen und somit den Mehrwertzufluss zu unterbrechen. Mit anderen Worten: ohne Lohnarbeit kein Umsatz und kein Gewinn. Das ist einer der Gründe, warum Streiks so wichtig sind.
Marx argumentierte, dass die Arbeiterklasse in den Kämpfen für Löhne und bessere Arbeitsbedingungen die kollektive Fähigkeit erwerben kann, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu stürzen und sie durch eine neue Gesellschaftsform zu ersetzen, in der es weder Klassen noch Ausbeutung gibt. Das setzt voraus, dass sich Arbeiter ihrer Stellung im Produktionsprozess und der damit verbundenen Macht bewusst werden.
Arbeiter im Kapitalismus unterscheiden sich in dieser Hinsicht von allen früheren unterdrückten Klassen. Erstens leben sie in einer Gesellschaft, in der die Teilung der Klassen keine Bedingung mehr für gesellschaftlichen Fortschritt ist. Die Reichtümer könnten heute gleichmäßig verteilt werden, ohne dass die Wissenschaften, die Künste und die Kultur insgesamt zu einem Stillstand kommen müssten, wie es noch in vorkapitalistischen Gesellschaften der Fall gewesen wäre.
Zweitens befähigt das Leben im Kapitalismus Arbeiter auf vielfältige Weise für eine Kontrolle der Gesellschaft. So braucht der Kapitalismus Lohnabhängige, die eine im Vergleich zu früheren Gesellschaften gute Ausbildung und Erziehung haben. Der Kapitalismus presst Massen von Menschen in riesigen Industrie- und Dienstleistungszentren zusammen, wo sie ein mächtiges Potenzial für einen gesellschaftlichen Umsturz darstellen.
Weil sie derart »zusammengefasst« und damit im Arbeitsprozess wie im Kampf gegen Angriffe der Unternehmer aufeinander angewiesen sind, fällt es Arbeiterinnen und Arbeitern wesentlich leichter als früheren unterdrückten Klassen, ihre Produktionsstätten und die Gesellschaft demokratisch selbst zu kontrollieren.
Zudem erlaubt die Entwicklung des modernen Kommunikations- und Verkehrswesens – Eisenbahnen, Straßen, Flugzeuge, Post, Telefon, Fernsehen, Internet – den Arbeitern, außerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft und ihrer eigenen Büros und Fabriken mit anderen Arbeitern zu kommunizieren. Sie können sich als Klasse national und international zusammenschließen, was sich frühere unterdrückte Klassen nicht in ihren kühnsten Träumen hätten vorstellen können.
Des Weiteren liegt das revolutionäre Potenzial der Arbeiter darin, dass sie gemeinsam kämpfen müssen. Es ist meist erfolglos, wenn ein einzelner Arbeiter seinen Chef um eine Lohnerhöhung oder den Erhalt seines Arbeitsplatzes bittet. Um ihre Lage zu verbessern, müssen Lohnabhängige sich zusammenschließen, zum Beispiel in Gewerkschaften, und kollektiv handeln. Der Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter wird dabei umso effektiver, je mehr es ihnen gelingt, die Konkurrenz untereinander aufzuheben: innerhalb der Belegschaft eines Betriebs, zwischen den verschiedenen Standorten eines Konzerns, innerhalb der gesamten Branche und schließlich durch branchenübergreifende Solidarität. Die Logik des Kampfs der Arbeiterklasse ist die Ausweitung der kollektiven Aktion.
Gehen wir noch einen Schritt weiter und fragen, wie die Arbeiterklasse Produktionsmittel in Besitz nehmen kann. Das geht offensichtlich nicht in Form von Verteilung unter den einzelnen Beschäftigten. Denn ein Callcenter, eine Fabrik oder eine Eisenbahn kann nicht in Stücke zerlegt und in Einzelteilen an die Arbeiterinnen und Arbeiter verteilt werden, so wie Land unter kleinen Bauern bzw. Pächtern aufgeteilt werden kann. Solche Produktionsmittel können nur kollektiv bedient oder genutzt werden. Deswegen liegt die einzige Lösung in der kollektiven Inbesitznahme.
Um eine sozialistische Gesellschaft zu erreichen, die auf Kooperation, demokratischer Teilhabe und Solidarität beruht, kann deshalb nicht auf die Arbeiterklasse verzichtet werden.
Lesetipp:
- Chris Harman: »Workers of the World. Die Arbeiterklasse im 21. Jahrhundert«, Broschüre, 68 Seiten, 4 Euro, Edition aurora 2003. Bestellen bei: edition.aurora[ät]yahoo.de
Mehr auf marx21.de:
- Was will marx21? – Teil 1: »Sozialismus von unten«