Der preisgekrönte Journalist John Pilger über die Bedeutung von Wikileaks, die Jagd auf Julian Assange und das Versagen des Mainstream-Journalismus
Anmerkung: Dieser Artikel ist auf Deutsch am 19. August 2010 zuerst erschienen bei »znet – a community comitted to social change«. Übersetzung: Andrea Noll. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von znet. Originalartikel: »Why Wikileaks Must Be Protected«
Am 26. Juli veröffentlichte Wikileaks Tausende geheime Militärakten über den Krieg in Afghanistan: ein geheimes Killerkommando, Vertuschungen, getötete Zivilisten – alles wurde dokumentiert, Akte für Akte ein brutaler Anklang an die kolonialistische Vergangenheit. Seit Malaya, Vietnam und dem »Blutigen Sonntag« (Nordirland) bis zu den Geschehnissen in Basra hat sich wenig getan. Der Unterschied ist nur, dass es heute einen außergewöhnlichen Weg gibt, zu erfahren, wie Gesellschaften in fernen Ländern in unserem Namen routinemäßig geschändet werden: Wikileaks ist es gelungen, sechs Jahre Aufzeichnungen über das Töten von Zivilisten in Afghanistan und im Irak in die Hände zu bekommen. Und die Veröffentlichungen in »Der Spiegel«, »The New York Times« und »The Guardian« sind nur die Spitze des Eisbergs.
Verständlicherweise hat dies zu einer gewissen Hysterie an der Spitze geführt – inklusive Forderungen, WikiLeaks-Gründer Julian Assange »zur Strecke zu bringen« oder »auszuliefern«. In Washington interviewte ich ein hochrangiges Mitglied des Verteidigungsministerium und fragte: »Können Sie mir garantieren, dass die Redakteure von Wikileaks und der Chefredakteur, der sich nicht in Amerika aufhält, nicht zum Ziel einer Menschenjagd werden – wie es in den Medien steht?« Er antwortete: »Es steht mir nicht zu, eine Garantie für irgendetwas zu geben«. Er verwies auf »laufende strafrechtliche Ermittlungen« gegen den US-Soldaten Bradley Manning, der angeblich ein Whistleblower (Mahner) ist. In einem Land, das von sich behauptet, jene zu schützen, die die Wahrheit sagen, verfolgt die aktuelle Obama-Regierung mehr Whistleblower und hängt ihnen Ermittlungsverfahren an als jede andere US-Regierung der modernen Zeit zuvor. In einem Dokument des Pentagon steht schlicht: Der US-Geheimdienst wolle Wikileaks »endgültig marginalisieren«. Die bevorzugte Technik: Schmierenkampagnen durch Journalisten, die für (Medien-)Konzerne arbeiten und sich für Derartiges hergeben.
So interviewte die gefeierte Reporterin Christiane Amanpour am 31. Juli US-Verteidigungsminister Robert Gates auf »ABC network«. Sie ermutigte ihn, den Zuschauern seine »Wut« über Wikileaks zu beschreiben. Amanpour gab die »Linie« des Pentagon wieder, indem sie sagte: »Dieses Leck hat Blut an den Händen«. Sie animierte Gates zu der Aussage, Wikileaks sei »schuldig«. Wikileaks habe »moralische Schuld«. Was für eine Heuchelei – von einem Regime, das im Blut der afghanischen und irakischen Menschen watet (was die eigenen Akten klarmachen). Allerdings ist dies offensichtlich nicht Gegenstand journalistischer Nachforschungen. Doch das überrascht kaum. Wikileaks repräsentiert eine neue, furchtlose Form der öffentlichen Verantwortung. Diese Form ist nicht nur eine Gefahr für die Täter, sondern auch für deren Apologeten.
Die aktuelle Propaganda lautet: Wikileaks handelt »verantwortungslos«. Anfang des Jahres hatte Wikileaks das Cockpit-Video eines amerikanischen Apache-Kampfhubschraubers veröffentlicht, das zeigt, wie dieser Hubschrauber 19 irakische Zivilisten tötete – darunter Kinder und Journalisten. Wikileaks schickte einige seiner Leute nach Bagdad, um Kontakt zu den Familien der Opfer aufzunehmen und sie auf das Kommende vorzubereiten. Bevor Wikileaks im vergangenen Monat die »Afghanistan-Tagebücher« (Afghan War Logs) veröffentlichte, schrieb es an das Weiße Haus und bat um die Identifizierung (Namen) von Personen, die eventuell Schwierigkeiten bekommen könnten. Es kam keine Antwort. Daraufhin hielt Wikileaks 15.000 Akten zurück. Assange sagt, diese Dokumente würden erst freigegeben, wenn man sie »Zeile für Zeile« durchgesehen habe, so dass alle Namen von gefährdeten Personen gelöscht werden könnten.
Der Druck auf die Person Assange scheint nicht nachzulassen. In seiner Heimat, Australien sagte Schattenaußenministerin Julie Bishop, falls ihre rechtsgerichtete Koalition die Wahlen am 21. August gewänne, würde sie »angemessene Aktionen« einleiten, »sollte ein Bürger Australiens bewusst etwas unternommen haben, was das Leben der australischen Streitkräfte in Afghanistan gefährdet oder unsere Operation in irgendeiner Weise untergräbt«. Die Australier in Afghanistan haben im Grunde die Rolle von Söldnern im Dienste Washingtons. Bislang hat das australische Engagement zu zwei herausragenden Ergebnissen geführt: Erstens massakrierten die Australier in der Provinz Oruzgan 5 Kinder, was zweitens, zu absoluter Empörung bei den meisten Australiern führte.
Im Mai – kurz nach Veröffentlichung der Cockpit-Aufnahmen des Apache-Helikopters – wurde Julian Assanges australischer Pass zeitweilig eingezogen, nachdem er nach Australien zurückgekehrt war. Die (noch) Labor-Regierung in Canberra bestreitet, dass Washington an sie herangetreten ist, damit sie Assange verhaftet und das Wikileaks-Netzwerk ausspioniert. Auch die (britische) Regierung unter Cameron bestreitet Derartiges. Aber sie würden es tun – oder nicht? Assange kam im Juli nach London, um die Veröffentlichung der »Kriegstagebücher« vorzubereiten. Jetzt hat er England eilig verlassen – auf der Suche nach »mehr Sicherheit«, wie er sagt.
Am 16. August schrieb (die britische Zeitung) »The Guardian«, der große israelische Whistleblower Mordechai Vanunu sei »der größte Held des Atomzeitalters« und zitierte damit Daniel Ellsberg. Vanunu hatte der Welt das Geheimnis der israelischen Atomwaffen offenbart. Die Israelis kidnappten ihn daraufhin und sperrten ihn für 18 Jahre ein (nachdem die britische »Sunday Times« ihm keinen Schutz gewährt hatte, obwohl sie die Dokumente, die Vanunu ihr übergeben hatte, veröffentlichte).
1983 übersandte Sarah Tisdall, eine Angestellte im Büro des Britischen Außenministeriums »The Guardian« Dokumente, aus denen klar hervorging, dass die Regierung Thatcher plante, die Ankunft amerikanischer Cruise Missiles in Großbritannien zu vertuschen. Der Guardian beugte sich jedoch einer gerichtlichen Anordnung, die forderte, die Dokumente zu übergeben, und Sarah Tisdall kam ins Gefängnis. Auch sie ist eine heroische Whistleblowerin.
Die Veröffentlichungen durch Wikileaks sind in gewisser Weise eine Schande für den Mainstream-Journalismus – der im Grunde nur das bringt, was die zynischen, bösartigen Mächtigen ihm diktieren. Das ist Staats-Stenografie – und nicht Journalismus. Gehen Sie einmal auf die Seite von WikiLeaks und lesen Sie, was in einem Dokument des Verteidigungsministeriums zum Thema »Bedrohung« durch den echten Journalismus steht.
Journalismus sollte tatsächlich gefährlich sein. Nachdem »The Guardian« das Wikileaks-Exposé über den betrügerischen Krieg so gekonnt veröffentlicht hat, sollte es die Redaktion nun als ihre Aufgabe ansehen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Julian Assange und seine Kolleginnen und Kollegen zu beschützen, denn dass sie die Wahrheit sagten, ist von einzigartiger Bedeutung. Seit ich lebe, gab es nicht viele Veröffentlichungen der Wahrheit, die so bedeutsam waren.
Ich mag Julian Assange staubtrockenen Humor. Als ich ihn fragte, ob es in Großbritannien schwieriger sei, Geheiminformationen zu veröffentlichen, erwiderte er: »Wenn wir uns Dokumente ansehen, (mit dem Stempel) des ›Offiicial Secret Act‹, so steht darauf, es sei verboten, diese Informationen zurückzuhalten oder zu vernichten. Also gibt es doch nur eine Möglichkeit: sie zu veröffentlichen«.
Zum Autor:
John Pilger ist ein weltweit bekannter und mit zahllosen Journalismus-Preisen ausgezeichneter australischer Journalist und Dokumentarfilmer. Von 1963 bis 1986 war Pilger Leiter der Auslandsredaktion des »Daily Mirror«. Seitdem arbeitet er als freier Journalist. Er drehte mehr als 50 Filme und hat in seiner Karriere für viele bekannte englischsprachige Zeitungen geschrieben.