Rund um den Globus sind in den vergangenen Wochen Menschen für sexuelle Selbstbestimmung auf die Straße gegangen. Katrin Schierbach zeigt die Wurzeln sexueller Gewalt und Perspektiven im Kampf dagegen
Unter dem Motto »Slutwalks« – »Schlampenmärsche« und »für sexuelle Selbstbestimmung und gegen sexuelle Gewalt« gingen in Berlin Mitte August 3.000 Frauen, Männer und Transgender auf die Straße. Diese Demonstration ist eine von vielen, auf denen in den letzten Monaten in Kanada, London und vielen anderen Städten Zehntausende ihre Unzufriedenheit ausdrückten.
Der Anlass der Demonstrationen war die Aussage eines kanadischen Polizisten. Nach einer Vergewaltigung riet er Studentinnen, sich nicht wie Schlampen anzuziehen, wenn sie nicht vergewaltigt werden wollen. Diese Ansicht teilt der Polizist mit vielen anderen. Noch immer wird Frauen eine Mitschuld gegeben, wenn sie vergewaltigt werden. Entweder seien sie betrunken gewesen. Oder sie haben geflirtet. Oder einen zu kurzen Rock getragen. Oder nach einem Kuss nicht laut genug Nein gesagt. Oder Nein gesagt und doch Ja gemeint.
»Nein heißt Nein«
Die Frauenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren hatte diese Vorurteile in Frage gestellt und deutlich gemacht, dass Frauen nicht mitschuldig an Vergewaltigungen sind. »Nein heißt Nein« und »Mein Körper gehört mir« lauteten wichtige Parolen. Dass diese Vorurteile nach wie vor in den Köpfen von Leuten vorhanden sind, zeigt, wie tief verankert Frauenunterdrückung in dieser Gesellschaft ist. Diese Unterdrückung äußert sich besonders brutal in der Gewalt gegen Frauen.
Der größte Anteil an sexueller Gewalt gegen Frauen geschieht in deren sozialem Umfeld. Nur ein Teil der Vergewaltigungen entsprechen dem in der Gesellschaft vorherrschenden Bild der Vergewaltigung durch einen Unbekannten im dunklen Park. Katja Grieger, Psychologin beim Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, betont: »Wir wissen, dass Vergewaltigungen häufig Beziehungstaten sind und dass häufig nur geringe körperliche Gewaltanwendung im Spiel ist. Die psychische Gewalt, der Druck, die Manipulation, die dem Angriff vorausgehen, werden zum Problem, wenn die Tat für das Strafverfahren objektiviert werden muss.«
Armut und Gewalt
Je nach Studie werden 8 bis 15 Prozent der Frauen in Deutschland vergewaltigt. Die Anzahl der versuchten Vergewaltigungen liegt etwa doppelt so hoch. Gewalt gegen Frauen findet sich in allen Klassen wieder. Die aktuelle Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Jugend und Frauen vom November 2008 (»Gewalt in Paarbeziehungen«) betont dabei, dass ärmere Frauen tendenziell stärker von Gewalt in Paarbeziehungen betroffen sind.
Die Autorinnen der Studie führen dies auf den verstärkten sozialen Stress in Beziehungen »in schwierigen sozialen Lagen« und verunsicherten männlichen Rollenbildern zurück. Die Partner können aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit oder ihres geringen Verdienstes nicht mehr die (bei allem gesellschaftlichen Wandel immer noch eingeforderte) Ernährerrolle übernehmen. Die nur leicht geringer ausgeprägte Gewalt gegen Frauen mit höheren Einkommen führen die Autorinnen der Studie darauf zurück, dass die überlieferten Geschlechterrollen hier gebrochen werden und sich in Aggressionen der Männer gegen ihre Partnerinnen niederschlagen.
Angeboren oder nicht?
Es sind aber nicht alle Männer Vergewaltiger. Immer noch einflussreiche Ansätze von Autorinnen wie Susan Brownmiller (»Gegen unseren Willen« 1975) stellten diese Behauptung dennoch auf. Sie behaupten, dass Vergewaltigung und Gewalt in der Natur der Männer liegt und die Beziehungen von Männern und Frauen schon immer prägten – und auch immer prägen werden.
Brownmiller schreibt: »Die Entdeckung des Mannes, dass seine Genitalien als Waffe dienen konnten, um Angst zu erzeugen, ist eine der wichtigsten Entdeckungen in prähistorischen Zeiten gewesen, neben der Benutzung von Feuer und der ersten groben Steinaxt. Von prähistorischen Zeiten bis heute, so glaube ich, hat Vergewaltigung eine kritische Funktion gehabt. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als ein bewusster Prozess der Einschüchterung, durch den alle Männer alle Frauen in einem Zustand der Angst halten.« Andere Ansätze erklären Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt mit dem in Genen verankerten männlichen Sexualtrieb.
Eine Klassenfrage
Vergewaltigung und sexuelle Gewalt sind aber nicht Teil der gesamten Menschheitsgeschichte und einer angeblichen immerwährenden männlichen Natur. Vergewaltigung und sexuelle Gewalt sind mit den Klassengesellschaften entstanden. Friedrich Engels beschreibt in seinem Buch »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« den Übergang von einer klassenlosen Gesellschaft zu einer Gesellschaft, die sich auf Klassen und Ausbeutung gründet. Diese Umwandlung führte auch zu tief greifenden Veränderungen in der bis dahin gleichberechtigten Lebensweise.
Die Unterdrückung von Frauen war nötig, um die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit zu sichern. Dies erforderte bewaffnete Macht – den Staat – und die Vererbung durch die Familie. An Vererbung war Monogamie, die Entstehung einer Familie und eine Intensivierung der Anstrengungen, viele Kinder aufzuziehen, geknüpft. Dies wiederum bedeutete die Unterwerfung der Frauen. Eine Vielzahl von marxistischen und feministischen Anthropologinnen und Anthropologen wie Eleanor Leacock haben seitdem bestätigt, dass Frauenunterdrückung und Gewalt erst mit den Klassengesellschaften entstanden sind.
Kooperation statt Konkurrenz
Die Sozialistin Sheila McGregor schreibt: »Es geht hier nicht darum, mit der Beschreibung der Lebensweise noch existierender Jäger- und Sammlergemeinschaften ein glorifizierendes Bild eines verlorenen Paradieses zu zeichnen. Gezeigt werden soll, dass die Mittel, mit denen die Menschen ihre Nahrung bekommen – die ökonomische Organisation der Gesellschaft -, die Beziehungen zwischen den Menschen formt und damit ihr persönliches Verhalten gegenüber den anderen. Solche Gruppen zeigen eindeutig, dass Gleichheit zwischen Menschen, und deshalb Männern und Frauen, möglich und verwurzelt ist in dem autonomen, aber gleichermaßen wichtigen Beitrag, der von beiden Geschlechtern zur Ökonomie der Gruppe geleistet wird.
Es zeigt auch, dass wirtschaftliche Kooperation zu sozialer Kooperation führt und damit Gewalt zwischen Erwachsenen und zwischen Erwachsenen und Kindern ausgeschlossen ist. Das Leben solcher Gemeinschaften mag hart sein, aber sie sind frei von sexueller Unterdrückung.« Spannendes berichtet sie auch über die Geschlechtszugehörigkeiten in diesen Gesellschaften: »Die Anerkennung des Rechts von Kindern, die Rolle des anderen Geschlechts zu wählen, scheint in den Stämmen der nordamerikanischen Indianer fest verankert gewesen zu sein.«
Es ist die Entfremdung in dieser kapitalistischen Gesellschaft, die dazu führt, dass auch die Sexualität tief entstellt ist. Karl Marx verdeutlichte, wie in einer Gesellschaft, die sich auf Ausbeutung gründet, eine tiefgreifende Entfremdung des Menschen mit sich bringt. Die Mehrheit der Menschen ist gezwungen, ihre Arbeitskraft auf einem unkontrollierbaren Markt zu verkaufen. Sie können nicht über die Dinge, die sie herstellen, und die Prozesse, unter denen sie arbeiten, bestimmen. Diese Entfremdung beeinflusst die Gesamtheit des menschlichen Lebens und der Erfahrungen – einschließlich der sexuellen Beziehungen.
Sexualität als Ware
Die menschliche Sexualität ist heute in einer Reihe von tief gehenden Widersprüchen gefangen. Einerseits wurde Sex von der menschlichen Beziehung abgekoppelt, ein Objekt, das ge- und verkauft werden kann wie jedes andere. Sex wird benutzt, um andere Waren zu verkaufen. Der Körper von Frauen wurde in den Mittelpunkt ihrer Fähigkeit, eine Beziehung zu Männern aufzunehmen, gerückt. Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen sind weiterhin ungleich.
Andererseits hat die zunehmende Unabhängigkeit von Frauen als Arbeiterinnen und Berufstätige und der Zugang zu Verhütungsmitteln ihre Erwartungen gesteigert, ihr eigenes Leben und ihren Körper kontrollieren zu können. Sie erwarten, mit Würde und Respekt behandelt zu werden.
Diese Widersprüchlichkeit spiegelt sich in den sexuellen Beziehungen wieder. Vergewaltigung und sexuelle Gewalt sind einige der extremsten Formen dieser entfremdeten Beziehungen. Sexualität wird, wie so vieles andere auch, zu einer Ware, die gekauft und verkauft – und sich manchmal auch »einfach genommen« werden kann.
Weitere Kontrollverluste
Der Abbau des Sozialstaates bedeutet für einige Frauen aber auch an anderer Stelle einen Verlust an Kontrolle über ihre Sexualität. Sie können sich wegen Geldmangel nur noch eingeschränkt Verhütungsmittel leisten. Eine kleine Studie der Beratungsstelle pro familia in Köln wirft ein Licht darauf, was niedrige Hartz-IV-Sätze für das Nutzen von Verhütungsmitteln bedeuten.
Eine Hartz-IV-Empfängerin: »Das Verhüten wurde zum echten Problem. Ich musste mir das Geld dafür vom Essen absparen, habe manchmal zwei oder drei Monate gar nicht verhütet.« Seit der Einführung von Hartz IV sank die Anzahl der Frauen, die immer verhüten, von zwei Dritteln auf ein Drittel. Die Anzahl derjenigen, die nie verhüten, stieg von 6 auf 16 Prozent. Diese Frauen haben keinen Kinderwunsch, sondern schlicht kein Geld für Verhütungsmittel. Denn der Hartz-IV-Satz sieht nur 15 Euro für »Gesundheitspflege« pro Monat vor. Medikamente, Praxisgebühr und Zuzahlung in den Apotheken müssen davon bezahlt werden. Die Pille kostet pro Monat zwischen 10 und 15 Euro, Kondome nur unwesentlich weniger. 27 von 69 der in Köln befragten Frauen wurden noch während der Befragung ungewollt schwanger.
Während der Bund an den Verhütungskosten spart, zahlen die Kommunen die Kosten für die Schwangerschaftsabbrüche von Hartz-IV-Empfängerinnen. Die Bundesregierung sieht keinen Handlungsbedarf. Einige wenige Kommunen und beispielsweise das Land Berlin zahlen bedürftigen Frauen auch über das 21. Lebensjahr hinaus die Verhütungsmittel. Gehen den öffentlichen Haushalten die Gelder aus, wie in Flensburg geschehen, dann stellen sie diese zusätzliche Unterstützung ein.
Der Kampf geht weiter
Die Errungenschaften der letzten Frauenbewegung sind also lange nicht selbstverständlich. In Zeiten wirtschaftlicher Krisen und Umverteilungen in der Gesellschaft zu Gunsten der Wirtschaft und der Reichen regiert der Rotstift. Einmal Erreichtem wie Frauenhäuser und Beratungsstellen drohen dann Kürzungen und das Ende der Arbeit. Finanzielle Eigenständigkeit durch eigene Arbeitsplätze, mit denen genug für ein Leben verdient werden kann, geht verloren.
Für Frauen schränkt sich so die Möglichkeit, sich aus gewalttätigen Beziehungen zu lösen, ein. Und auch konservative Rollenbilder und Ansichten über Sexualität treten wieder verstärkt auf. Zum einen um die Unterdrückung, die die Klassengesellschaft stützt, in Krisenzeiten weiter aufrecht zu erhalten. Zum anderen, weil Menschen sich in Zeiten des eisigen Sozialabbaus wieder vermehrt auf den Schutz der Familie verlassen möchten und müssen.
Mehr »Slutwalks«
So wie es aussieht, brauchen wir noch einige Demonstrationen von der Art der »Slutwalks«, die laut und deutlich sagen, dass ein Nein ein Nein ist. Dafür ist es wichtig, die Debatten um sexuelle Selbstbestimmung und gegen Unterdrückung in den sozialen Bewegungen mitzudiskutieren. Wir sollten Fragen wie die von gleich entlohnten Arbeitsplätzen und bezahlbarer Kinderbetreuung gemeinsam mit denen von selbst bestimmter Sexualität sehen – und sie nicht gegeneinander ausspielen lassen.
Nur beides zusammen thematisiert ein ganzes Bild von der Frauenunterdrückung in dieser Gesellschaft. Wir müssen eine Gegenwehr aufbauen, die auch an die Wurzeln der Entfremdung und der Frauenunterdrückung – die Klassengesellschaft – gehen kann. Und damit gemeinsam mit den materiellen Gründen für die Unterdrückung auch all die Ideologien darüber, wie Menschen sein sollen, wie Sexualität gelebt werden soll, etwas entgegen setzen kann.
Keine Kleiderregeln
Dabei sollten wir uns nicht davon ablenken lassen, unter welchen Schlagworten die Bewegung auf der Straße ist. Der Titel »Schlampenmärsche« (»Slutwalks«) ist sicherlich strittig. »Schlampe« ist eine erniedrigende Bezeichnung für Frauen. Dieses Wort zu nutzen, gibt den Beteiligten nicht notwendigerweise mehr Mut. Es hat aber auch gezeigt, dass es Menschen definitiv nicht davon abhält, demonstrieren zu gehen. In der Geschichte gab es mehrmals Bewegungen, die die Schimpfworte, die gegen sie gerichtet wurden, als stolze Selbstbezeichnung aufgenommen wurden.
Anne Wizorek, eine der Organisatorinnen der Berliner Demonstration, erklärt dazu klar: »Wir gehen aber nicht auf die Straße, weil wir unbedingt tiefe Ausschnitte tragen wollen, wir gehen auf die Straße, weil wir, selbst wenn wir tiefe Ausschnitte tragen, nicht doof angemacht werden wollen, und erst Recht nicht die Schuld an sexuellen Übergriffen zugewiesen bekommen wollen. … Klar, die Medien zeigen vor allem die Halbnackten auf den Slutwalks, und tun so, als gäbe es einen Dresscode. Aber ein Großteil der Leute kommt in Alltagsklamotten, denn auch darum geht es: Es ist eine Illusion, dass man, wenn man sich an irgendwelche Kleiderregeln hält, nicht vergewaltigt wird.«
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- Vergewaltigung, Pornographie und Kapitalismus (Sheila McGregor, 1989)