Migrantinnen und Migranten sollen der Bundesregierung als Feigenblatt für eine diskriminierende Politik dienen, meint Sevim Dagdelen, integrationspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE. marx21 hat mit ihr über den Integrationsgipfel der Regierung und das neue Zuwanderungsrecht gesprochen.
Interview: Jan Maas
Wie bewertest Du das Ergebnis des Integrationsgipfels?
Ich habe den Integrationsgipfel als politische Nebelkerze der Regierung bezeichnet. Das Kalkül der Bundesregierung war, mit dem Integrationsgipfel die katastrophale Bilanz ihrer Integrationspolitik zu verschleiern. Während die Bundesregierung den „Dialog“ im Rahmen des Integrationsgipfels „Integration“ gepredigt hat, wurden im selben Atemzug langfristig geplante integrationsfeindliche, ausgrenzende und diskriminierende Regelungen zur weiteren Verschärfung des Zuwanderungsgesetzes beschlossen. Die Kritik von Verbänden und Sachverständigen ist zwar gehört worden, aber keine der geforderten Veränderungen ist in das Gesetz aufgenommen worden.
Weder ist der Nationale Integrationsplan geeignet, Voraussetzungen für eine gleichberechtigte politische, soziale und gesellschaftliche Partizipation aller im Land lebenden Menschen zu schaffen, noch können die darin enthaltenen unverbindlichen Selbstverpflichtungen die Fehler in der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik ausgleichen, unter denen besonders Migrantinnen und Migranten leiden. Sprach- und Integrationskurse helfen nicht gegen Hartz-Gesetze, Arbeitsverbote und soziale Benachteiligung im Bildungssystem.
Dass Fragen wie die rechtliche Gleichstellung und die gleichberechtigte soziale Partizipation von Migrantinnen und Migranten einerseits und der staatlich sanktionierte Rassismus im Rahmen der Einteilung von Menschen nach ihrer „Nützlichkeit“ andererseits bei der Erstellung des Integrationsplans gar nicht erst diskutiert wurden, verdeutlicht den Show-Charakter des Gipfels. Auch der Ausbau der Integrationskurse und die Aufstockung der dafür vorgesehenen finanziellen Mittel können darüber nicht hinwegtäuschen. Die zusätzlichen 14 Millionen Euro können die 2006 erfolgte Kürzung um 60 Millionen Euro nicht einmal annähernd ausgleichen. Auch wird das Kursangebot nicht über den Kreis der Neuzuwanderinnen und -zuwanderer hinaus erweitert.
Was bleibt ist die Erkenntnis, dass es beim so genannten Integrationsgipfel nicht um tatsächliche Teilhabe und Mitbestimmung geht. Kennzeichnend ist eher das Motto: Dabei sein ist alles. Migrantinnen und Migranten und deren Organisationen sollen als Feigenblatt für eine integrationsfeindliche Politik dienen.
Verschiedene Einwandererverbände kritisieren das Zuwanderungsrecht, das der Bundesrat Anfang Juli beschlossen hat. Sie drohen, den Integrationsgipfel zu boykottieren. Wie stehst du zu dieser Ankündigung?
Der Boykott durch Verbände türkischer Migrantinnen und Migranten ist nur konsequent. Ihre Bedenken gegenüber dem Gipfel sind berechtigt: Der Protest vieler Migrantenorganisationen gegen die massiven Verschärfungen des Zuwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrechts stieß bei der Bundesregierung nur auf taube Ohren. Da hilft auch alles Lügen seitens der Bundesregierung und gerade auch der Bundesbeauftragten Böhmer nicht. Beispielsweise haben die Migranten- und Migrantinnenverbände die Regelung des Familiennachzugs kritisiert. Ohne jede Wirkung. Der Ehegattennachzug zu Deutschen wird im Ausnahmefall davon abhängig gemacht, ob es sich bei den Betroffenen um Doppelstaatlerinnen und -staatler oder um Deutsche handelt, die geraume Zeit im Herkunftsland des Ehegatten gelebt und gearbeitet haben und die Sprache dieses Staates sprechen. Für diese wird das Führen der ehelichen Lebensgemeinschaft im Ausland als zumutbar betrachtet. Das hat nichts mit Integration zu tun, sondern nur mit Abschottung und Diskriminierung gerade der davon am meisten betroffenen Menschen aus der Türkei.
Was sagst du zur Kritik der Verbände am Zuwanderungsrecht? Was bedeutet es für zukünftige Einwanderer?
Nach der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl hat die Koalition nun einen weiteren Angriff auf die Menschenwürde von Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten abgesegnet. Änderungen, deren Notwendigkeit bei einer dreitätigen Sachverständigen-Anhörung deutlich geworden sind, wurden nicht vorgenommen. Zahlreiche offenkundige EU-Rechts- und Grundrechtsverstößen im Gesetzentwurf wurden ignoriert. Nicht einmal zwingende Mindestnormen der EU-Richtlinien wie etwa zum subsidiären Schutz für Kriegsflüchtlinge, zur Beachtung des Kindeswohls und zur Sicherstellung der Behandlung von besonders Schutzbedürftigen werden umgesetzt.
Die Gesetzesänderung folgt der rassistischen Einteilung und der damit verbundenen Abwertung von Menschen nach ihrer ökonomischen Nützlichkeit. Einerseits gehe es um Flüchtlingsabwehr und die Auslese von Fachkräften und Hochqualifizierten für den „globalen Standortwettbewerb“. Mit tödlichen Folgen: Nach Schätzungen sind über 10.000 Menschen im vergangen Jahr bei dem Versuch gestorben, nach Europa zu gelangen. Bundesweit sind 351 Menschen dieser Flüchtlingsabwehrpolitik zum Opfer gefallen. Andererseits gehe es um einschneidende Sanktionen im Rahmen einer sozialpolitischen „Selektion“. Statt beispielsweise die aufenthaltsrechtliche Situation zum Schutz Zwangsverheirateter oder Zwangsverschleppter endlich zu verbessern, beschneidet die Koalition die Rechte vor allem von Migrantinnen.
Selbst die Kritik der Integrations-, Migrations- und Ausländerbeauftragten der Länder wurde ignoriert. Die hatten kritisiert, durch die Reform würden Einbürgerungen und Familiennachzug erschwert und damit Integration insgesamt erschwert.
Die meisten Parteien sind dafür, die Regeln für Zuwanderung zu verschärfen. Was sagst du dazu?
Besonders kritikwürdig ist, dass die SPD ihre Zustimmung zum Gesetzespaket mit all seinen inakzeptablen, grundrechtswidrigen und unbegründbaren Verschärfungen mit der darin enthaltenen so genannten „Altfallregelung“ rechtfertigt. Doch die im Gesetz enthaltene Bleiberechtsregelung wird aufgrund massiver Mängel nur einer Minderheit der Langzeitgeduldeten zugute kommen. Doch die Zustimmung der SPD zur Novelle des Zuwanderungsgesetzes war kein Versehen. Sie war die konsequente Schlussfolgerung ihres politischen Denkens. Die Frage der „Nützlichkeit“ von Menschen spielte in der Politik unter Schwarz-Gelb und Rot-Grün eine zentrale Rolle und erreicht nun unter Schwarz-Rot eine neue Dimension.
Der plumpe Rassismus, der sich wirtschaftlichen Überlegungen und Forderungen entzieht, wich zwar weitgehend zugunsten einer kapitalistisch-rationalen Form. Das heißt, im Diskurs sind völkischer Rassismus und eine undifferenzierte Abschottung nicht mehr primäres Prinzip der Politik, sondern Kontrolle und Steuerung von Migration. Allerdings wird die Frage der „Nützlichkeit“ in der öffentlichen Debatte von fast allen Parteien mit rassistischen Stigmatisierungen und Ressentiments wie beispielsweise einer angeblichen „Integrationsunwilligkeit“ geführt. Die strukturellen und institutionellen Ursachen der sozialen Lage von Menschen mit Migrationshintergrund werden in pauschalisierender und kulturalisierender Weise individualisiert. Es wird der Eindruck vermittelt, dass sie die Prinzipien der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung, Toleranz und Religionsfreiheit nicht oder nur unzureichend verinnerlicht hätten. Ihnen werden durch Pauschalisierungen und Verknüpfung mit Themen wie Terrorismus, „Ehrenmord“, Unterdrückung von Frauen und so weiter per se autoritäre, sexistische und fundamentalistische Grundhaltungen und Verhaltensweisen unterstellt. Diese kollektiven Zuschreibungen befördern tradierte rassistische Stereotype. Ethnisierende und kulturalisierende Zuschreibungen zementieren eine Wahrnehmung, die die reale Schlechterstellung als Folge ihres persönlichen Unvermögens verstehen lassen. Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund werden zum Beispiel nur im Kontext von Debatten um das (Nicht)Tragen eines Kopftuchs, „Ehrenmorde“ und Zwangsverheiratungen wahrgenommen.
Damit wird der Boden bereitet für die breite Akzeptanz staatlicher Sanktionen gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund. So ist im Aufenthaltsrecht der Grundsatz des „Integrationszwangs“ institutionalisiert. Die Formen der Sanktionen können von der Verweigerung der Staatsbürgerschaft über die Kürzung der sozialen Grundsicherung bis zu aufenthaltsrechtlichen Restriktionen reichen.
Was für einen Umgang mit Zuwanderung schlägst du vor?
Migration findet statt und wird weiterhin stattfinden. Nur eine privilegierte Minderheit migriert aus freien Stücken. Die Mehrheit verlässt ihre Herkunftsländer mangels wirtschaftlicher oder politischer Sicherheit, wegen Bürgerkriegen, geschlechtsspezifischer Verfolgung, Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Orientierung und ökologischen Katastrophen. Die Ursache für die ökonomischen, sozialen und politischen Ursachen für diese Migrationsprozesse liegt in der kapitalistisch verfassten Welt.
Wir fordern in unserem kürzlich beschlossenen Integrationskonzept die Beseitigung dieser Ursachen. Ich unterstütze deshalb auch Forderungen nach globaler Bewegungsfreiheit, wie sie als zentrale Forderung auf den Sozialforen und Konferenzen in Bamako, Athen und Rabat 2006 sowie in Nairobi dieses Jahr erhoben wurde. Globale Bewegungsfreiheit ist ein fundamentales Recht und eine Vorbedingung für andere Rechte. Sie ist eine entscheidende Herausforderung für ein Ausbeutungsgefüge, das selbst grenzenlos ist, während es mehr und mehr äußere wie innere Grenzen konstruiert.
Ich unterstütze deshalb die über Ländergrenzen hinweg agierenden sozialen und politischen Widerstandsbewegungen gegen die zunehmende Deregulierung der ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnisse sowohl in den Ländern des Trikonts als auch der Industrieländer.
Was bedeutet Integration für dich?
Was jeder Mensch mit dem anderen Menschen gemeinsam hat, jenseits aller Unterschiede und Differenzierungen, ist, dass ihm politische und soziale Grundrechte zustehen. Von dieser Perspektive notwendiger Gemeinsamkeit ist Integration für mich, die Schaffung der Möglichkeit, dass alle Bevölkerungsteile diese Grundrechte besitzen und auch wahrnehmen können. Bezogen auf die Integrationspolitik bedeutet das, die Herstellung gleicher politischer und sozialer Rechte und gleicher Rechtssicherheit für Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik gewählt haben beziehungsweise wählen mussten. Die gesellschaftliche Ausgrenzung muss überwunden werden und das gleichberechtigte Zusammenleben aller gewährleistet sein.
Was für Voraussetzungen müssten dafür geschaffen werden und wie?
Für den rechtlichen Status eines Menschen muss seine Herkunft und Zugehörigkeit ohne Bedeutung sein. Sie rechtfertigen weder eine bessere noch eine schlechtere Behandlung. Dazu bedarf es einer Änderung des demokratischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik. Das Demokratieprinzip muss für alle in der Bundesrepublik Lebenden und nicht exklusiv nur für deutsche Staatsangehörige gelten. Auch für Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die eine Daueraufenthaltserlaubnis besitzen, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben können oder wollen, müssen Prinzipien der Gleichheit und politischen Partizipation umfassend gelten. Das bedeutet, dass dauerhaften Bewohnerinnen und Bewohnern der Bundesrepublik unabhängig von einer Einbürgerung die Möglichkeit der politischen Mitbestimmung eröffnet werden muss. Durch Änderung des Grundgesetzes und des Wahlrechts müssen mindestens alle Menschen mit einem ständigen Wohnsitz in der Bundesrepublik die Möglichkeit der demokratischen Mitbestimmung durch Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen erhalten.
Untersuchungen belegen allerdings einen eindeutigen Zusammenhang zwischen politischer Partizipation, materieller Sicherheit und Bildungsgrad. Rechtliche und soziale Diskriminierungen liegen oft gemeinsam vor. Rechtliche Gleichstellung bedeutet allerdings nicht automatisch gleichberechtigte soziale Partizipationsmöglichkeiten. Denn die soziale Diskriminierung gerade von Menschen mit Migrationshintergrund besteht unabhängig vom Wahlrecht oder dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit fort.
Neben der rechtlichen Gleichstellung durch erleichterte Einbürgerung brauchen wir also ein Umdenken in der Sozialpolitik. In Bereichen wie Bildung, Gesundheit, Rente, Arbeitsmarkt, Wohnungsbau und anderen würden die Migrantinnen und Migranten von einer Politik der sozialen Gerechtigkeit am stärksten profitieren. Beispielsweise würde die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns nicht zuletzt ihnen zugute kommen, weil der Anteil prekär Beschäftigter unter ihnen überdurchschnittlich hoch ist. Auch die Abschaffung des selektiven dreigliedrigen Schulsystems oder die Einführung von Gemeinschaftsschulen würde vor allem auch ihren Kindern helfen, die zu einem hohen Anteil die Schule ohne Abschluss verlassen oder überproportional an Sonderschulen verwiesen werden.