Selbst für Marxisten gibt es nicht nur ökonomische Themen. Der linke Literaturwissenschaftler Terry Eagleton erklärt, warum auch die Kultur ein Kampffeld ist – und erst der Feminismus Humor in seine Wissenschaft brachte.
In deinem Buch »Was ist Kultur?« verwendest du den Begriff »Culture Wars« (Kulturkriege), um bestimmte Arten von Definitionskämpfen zu beschreiben. Was verstehst du denn genau unter einem »Kulturkrieg«?
Auf den ersten Blick wirkt die Formulierung »Kulturkriege« sehr eigenartig, denn es scheint, als würden darin zwei gegensätzliche Dinge zusammengebracht. Wir stellen uns Kultur als eine Einheit vor, einen Konsens über Grundwerte, der uns ein Zusammengehörigkeitsgefühl gibt. Das war auch in der klassischen bürgerlichen Epoche eine einflussreiche Auffassung. Kultur war eine Alternative zu Konflikten, zu Streiks, denn sie erlaubt uns Begegnungen auf einer sehr grundsätzlichen Ebene unserer Menschlichkeit. Kunst stellte die greifbare Verkörperung dieses abstrakten Konsenses dar.
Terry Eagleton ist Professor für englische Literatur und Autor zahlreicher Bücher. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt »Warum Marx recht hat« (Ullstein 2012). |
Im 20. Jahrhundert hat sich das Verständnis von Kultur gewandelt. Statt einer Lösung für politische Konflikte wurde sie zu einem Teil des Problems. Kultur war nun die politische Sprache, in der Konflikte ausgetragen wurden. Ich denke, das begann mit den revolutionären nationalen Befreiungsbewegungen, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts um die Welt gingen und sie veränderten. Dieser Prozess endete in den frühen 1970er Jahren. Dabei lieferte Kultur im weiten Sinne von Identität, Sprache, Symbolen, Gemeinschaft, Abstammung und Geschichte die Kernbegriffe, mit denen politische Forderungen entwickelt und ausgedrückt wurden. Kultur ist seitdem nicht mehr das Gegenteil von Politik, sondern das Terrain, auf dem verschiedene Arten von Konflikten ausgefochten werden.
In der englischsprachigen Welt versteht man unter Kulturkriegen auch Konflikte zwischen konservativen und progressiven Werten. Diese Kulturkriege entstanden in der Frühphase des Neoliberalismus unter Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien. Was hat es damit auf sich?
Der Neokonservativismus – diese sehr aggressive Form des Konservativismus, die wir mit Reagan und Thatcher verbinden – war nicht nur ein Versuch, neue ökonomische Praktiken oder Ideen einzuführen, sondern die gesamte kulturelle Erscheinung der spätkapitalistischen Welt zu transformieren. Es war ein sehr kühner und dreister Plan. Aber meiner Meinung nach zeigt sich, dass er nicht aufgegangen ist – zumindest in Großbritannien, wo ich herkomme. Trotz Thatchers Feldzug sind die Menschen dort immer noch der irgendwie sozialdemokratische Haufen, der sie immer waren.
Ich denke nicht, dass die konservative »kulturelle Revolution« tatsächlich gelungen ist. Kulturelle Revolutionen ereignen sich natürlich über einen sehr langen Zeitraum.
Dabei meinst du kulturelle Revolution von rechts, oder?
Ja, von der radikalen Rechten. Viele revolutionäre Ideen des 20. Jahrhunderts sind von ihnen gekommen – bedauerlicherweise. So viel großartige Literatur kam eigentlich von der radikalen Rechten und nicht aus der toleranten Mitte.
Kulturelle Revolutionen wie die Revolutionierung des Empfindungsvermögens oder der Subjektivität brauchen sehr, sehr viel Zeit, denn sie versuchen, tief in der Gesellschaft verwurzelte Ansichten und Verhaltensweisen zu ändern. Eine politische Revolution kann über Nacht alles umstürzen, so wie in Ägypten, aber eine kulturelle Revolution dauert viel länger. In Großbritannien zum Beispiel brauchte die Mittelschicht ein paar Jahrhunderte, um die Reste der Monarchie zu beseitigen. Und tatsächlich hat sie gar nicht alle beseitigt. Prinz Charles ist immer noch da… Es hat den Kapitalismus also diese ganze Zeit gekostet, um den Feudalismus zu verdrängen. Mit dem Sozialismus sind ebenfalls sehr umfassende Veränderungen verbunden: Wir reden hier von neuen Menschen, neuartigen Formen von Subjektivität, von Menschen, die sich schon von dem Anblick von Gewalt abgestoßen fühlen – so wie Herbert Marcuse und andere es sich einst erträumten.
Du sprichst von einer »Krise in der Kultur«. Gleichzeitig behauptest du, diese Formulierung sei eine Tautologie – zwei Worte für dieselbe Sache. Also: Kultur gleich Krise?
Ich meine damit, dass Kultur in einem Krisenzustand entstanden ist. Sie wird nicht erst später von einer Krise erfasst. Die Vorstellung von Kultur als einem Raum, wo die kostbarsten Werte kultiviert und mit Abstand vom Alltagsleben erhalten werden können, ist einerseits eine sehr noble Idee und ein großherziges Unterfangen der Bourgeoisie. Marx selbst bewunderte die Bourgeoisie für dieses noble Projekt. Alle, die das ignorieren, sind keine wirklichen Marxisten! Andererseits ist die Tatsache, dass diese Werte in Abgrenzung zum Alltagsleben entwickelt wurden, auch ein großes Problem. Weil es Werte sind, die sich nicht mit einer Marktlogik vereinbaren lassen, wurden sie in eine Ecke verdrängt. Das ist die Krise, in der Kultur geboren wurde.
Auch mit Religion setzt du dich sehr intensiv auseinander. Einmal hast du gesagt, Religion sei »die mit Abstand erfolgreichste Form der Populärkultur, die die Welt jemals gekannt hat«. Wie meinst du das?
Religion ist bei Weitem die allgemeinste, ausdauerndste, am tiefsten verwurzelte, hartnäckigste Form von Populärkultur. Zudem findet man sie in jedem Winkel der Welt.
Allerdings wird diese Form der Kultur von den Kulturwissenschaften ignoriert. Gute, vernünftige, liberale Intellektuelle halten diese Art der Populärkultur, nach deren Vorgaben Milliarden Menschen gelebt haben, nicht für ein angemessenes Studienobjekt. Welche Arroganz!
Die Geschichte des modernen Zeitalters ist voller Versuche, etwas anderes an die Stelle der Religion zu setzen. Nach der Aufklärung verehrte das Bürgertum die Kultur wie eine Religion – auch in der Kultur geht es um symbolische Handlungen, Zugehörigkeit, Loyalität und manchmal absolute Werte. Doch kein einziger dieser Versuche war erfolgreich. Der Kapitalismus nährt mit all seinem Unglauben, seiner Säkularität und seinem Materialismus tatsächlich viele Ängste und Unsicherheiten.
Das bringt Hass und Aggression hervor und führt dann unter anderem zu religiösem Fundamentalismus. Die groteske Ironie ist also, dass der Kapitalismus das Frankensteinmonster mit erschafft, das er dann versucht einzuschläfern. Ich habe daher schon an anderer Stelle gesagt: Die Welt ist geteilt in Menschen, die entweder zu wenig oder zu viel glauben. Und wir sind in einer schrecklichen Dialektik dazwischen gefangen.
Wie sollten sich Linke denn zu Religion verhalten?
Jeder kennt natürlich den Satz von Marx, dass Religion das Opium des Volkes ist. – Übrigens stimmt das heute gar nicht mehr. Sport ist das Opium des Volkes. – Es wird aber immer vergessen, was Marx vor seinem bekannten Satz geschrieben hat: »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.« Mit anderen Worten, in einer herzlosen Welt ist das Beste, was Menschen tun können, an bestimmten Werten festzuhalten – auf was für eine Art auch immer. Es ist interessant, dass sich so viele linke Intellektuelle heute mit Theologie beschäftigten – ich selbst, Žižek, Agamben, Habermas zu einem gewissen Grad, Badiou – aus den unterschiedlichsten Gründen. Ein Grund ist natürlich, dass die Theologie trotz all ihrer Mystifikationen niemals Angst davor hatte, die absolut grundsätzlichen Fragen zu stellen.
Auch in einer Ära, in der andere Diskurse sich davor drücken – die Philosophie wird empiristisch, die Soziologie positivistisch, die Psychologie wird zu irgendetwas anderem. Die Theologie stellt weiterhin Fragen über das menschliche Dasein, was auch immer man über ihre Antworten denken mag. Was ich an der Religion ansprechend finde, ist, dass die Menschheit dort im Grunde immer als tragische Figur dargestellt wird. Damit meine ich nicht, dass alles irgendwann zur Hölle fährt – wobei, einige Leute werden wohl durchaus in der Hölle landen –, sondern dass es ohne einen grundlegenden Umbruch keine Neugestaltung geben kann. Ich denke, das Christentum – wenn man es richtig versteht – und der Marxismus haben in dieser Hinsicht viel gemeinsam.
Du meinst also, auch als Marxist kann man sich auf Religion beziehen? Viele Linke finden ja, das passe gar nicht zusammen.
Der Marxismus war immer ein bisschen zurückhaltend mit der Bezugnahme auf Religion, obwohl Marx ein begeisterter Leser der Propheten des Alten Testaments war.
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Das Interview führten Kate Davison und Ben Stotz.