Warum das Kapital vom Bildungsabbau profitiert, auch wenn dadurch die Mehrheit der Menschen entqualifiziert wird, erklärt Christian Königfeld.
Chancengleichheit ist ein schönes Wort. Deshalb kommt es wohl auch in fast jeder Rede vor, mit der versucht wird, den Betroffenen des Bildungsabbaus ihre Situation schmackhaft zu machen. Es ist die knallbunte Verpackung um die neoliberalen Pillen, die in den letzten Jahren vermehrt auch im Bildungssystem geschluckt werden mussten. Die Realität des deutschen Bildungssystems sieht freilich düster aus. Es wird zunehmend ungerechter und die Reformen der letzten Jahrzehnte werden eine nach der anderen wieder zurückgenommen. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, beweist der Umbau der Universitäten, dass die Herrschenden bereit sind, noch viel weiter zu gehen. Sie wollen ein Bildungssystem, das eine kleine hochqualifizierte Elite hervorbringt und ansonsten möglichst billige Arbeitskräfte – ein Bildungssystem, in dem so viel wie möglich privat getragen werden muss und die soziale Auslese verschärft ist. Dagegen steht das Interesse von Jugendlichen an einer Ausbildung unabhängig von Profitinteressen – ein Interesse, das sich erst in einer anderen Gesellschaft vollständig entfalten kann.
Und zu welcher Klasse gehörst du?
Das deutsche Schulsystem ist ungerechter als das aller anderen mächtigen Industrienationen. Dieser Umstand ist nicht erst seit der ersten PISA-Studie aus dem Jahr 2000 bekannt. Die Aufteilung der Schüler auf Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien unmittelbar nach der Grundschule führt zu einer sozialen Selektion, zu regelrechten „Klassenschulen". Nach wie vor ist die schulische Leistung in den ersten vier Jahren noch sehr stark von der Hilfe der Eltern und damit von deren zeitlichen und intellektuellen Möglichkeiten abhängig. Eine Aufteilung der Schüler auf die verschiedenen weiterführenden Schulen zu diesem Zeitpunkt führt unweigerlich zu einer sozialen Selektion. Auch die zweite PISA-Studie von 2003 kommt zu diesem Schluss. Fast 45 Prozent der Hauptschüler kommen aus der untersten sozialen Schicht, nur etwa sieben Prozent aus der obersten. Je ärmer die Eltern, desto schlechter die Bildungschancen. Im deutschen Schulsystem herrscht also alles andere als Chancengleichheit. Es ist nicht nur ein Spiegel der Klassenspaltung, es stellt sie Tag für Tag wieder neu her. Die Folge des Ganzen: An den Schulen wird für den Arbeitsmarkt vorsortiert und das heißt heute auch für die Arbeitslosigkeit. Haupt- und Sonderschüler haben fast keine Chancen mehr auf dem Arbeitsmarkt, verschwinden in Berufsvorbereitungs- und Beschäftigungsmaßnahmen. Nur wer die Auslese des deutschen Schulsystems mindestens mit einem Realschulabschluss in der Tasche überstanden hat, kann sich ernsthaft Hoffnung auf einen betrieblichen Ausbildungsplatz machen. Aber auch diese Hoffnung schwindet zusehends dahin. In den letzten Jahren wurden mehr und mehr betriebliche Ausbildungsplätze abgebaut. Zwischen 1980 und 2001 sank die Zahl der Auszubildenden in den Betrieben um ein Viertel. Diese Entwicklung beschleunigt nicht zuletzt die Tendenz zur kostenpflichtigen Berufsausbildung. Sicher ist, dass mit außerbetrieblichen Ausbildungsgängen an privaten Berufsfachschulen oder ähnlichen Institutionen schon heute Profit zu machen ist. Jedenfalls lassen sich pro Auszubildendem monatlich einige hundert Euro verdienen. Neu ist die Idee dahinter nicht. Lehrgeld musste schon im 19. Jahrhundert gezahlt werden.
Duales System – viel Ausbeutung, wenig Ausbildung
Dies alles darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Situation im „dualen System" (der „lernend mithelfenden" Ausbildung im Betrieb, ergänzt durch die öffentliche Berufsschule) katastrophal ist. Die Mehrheit wird noch immer in kleinen bis mittleren Betrieben ausgebildet. Das führt dazu, dass viele Auszubildende keine breite Qualifikation erhalten – daran kann auch ein Tag Berufsschule nichts ändern. Stattdessen wird deren billige Arbeitskraft ausgebeutet und sie damit zu Lohndrückern gemacht. Darüber hinaus wird nur ein Teil dieser Auszubildenden von den ausbildenden Betrieben direkt übernommen. Der Rest bildet den Nachwuchs der Großbetriebe für anlernbare Tätigkeiten. Auszubildende, die in Lehrwerkstätten großer Unternehmen lernen, sind zwar besser qualifiziert, aber nicht im Sinne einer umfassenderen Bildung, sondern einer Spezialisierung auf die konkreten Anforderungen in ihrem Betrieb. Zudem ist ihre Zahl gering, da ihre Ausbildung aus Sicht der Wirtschaft teuer ist und nur wenige dieser Spezialkräfte benötigt werden. Welche der im dualen System hergestellten Qualifikationen zukünftig noch gebraucht werden, lässt sich noch nicht sagen. Sicherlich werden aber das „Arbeiten lernen", Anpassungsfähigkeit und „Kooperationsbereitschaft" weiter in den Mittelpunkt des Lehrplans rücken.
Hochschulen unter Beschuss
Ein Teil der früheren Facharbeiterausbildung sowie die Ausbildung höher qualifizierter Arbeitskräfte finden in zunehmendem Maße an Fachhochschulen und in den universitären Bachelor-Studiengängen statt. Die Studiengänge mit Bachelor-Abschluss an Universitäten und Fachhochschulen sind die neueste Entwicklung, was die Angriffe auf eine qualifizierte Ausbildung anbelangt. Die Studierenden sollen wesentlich schneller als bisher einen Abschluss bekommen. Für die Mehrheit wird es bei diesem wenig qualifizierenden und einschränkenden Abschluss bleiben. So wird im Interesse des Kapitals überflüssige Qualifikation abgebaut und der Staat spart Kosten. Nur eine Minderheit wird nach dem Bachelor- ein Masterstudium3 beginnen können, d.h. nur eine Minderheit wird einen Studienabschluss auf dem Niveau eines heutigen Diplom- oder Magister- Abschlusses erreichen. Die Quoten dafür werden sich als variabel erweisen, denn so kann der Zufluss besser qualifizierter Akademiker auf den Arbeitsmarkt reguliert werden. Kurz: Die Masse wird eine noch schlechtere Ausbildung als bisher bekommen, eine sehr kleine Minderheit – deren Studienbedingungen von sinkenden Studierendenzahlen profitieren werden – eine bessere. Dies fügt sich ein in ein ganzes Paket von Maßnahmen, die die Errungenschaften der 68er-Bewegung zugunsten einer „Ökonomisierung der Hochschulen" aufheben sollen. Zu diesem Paket gehören die Kürzungswellen an den Universitäten, die vor allem zur Schließung unrentabler, wirtschaftlich nicht verwertbarer Studiengänge führen. Was keine „Drittmittel" wert ist, wie verschiedene Bereiche in den Sprach-, Kultur und Sozialwissenschaften, wird eingestampft. Zu diesem Paket gehört ebenso die Debatte über Elite-Universitäten, denn wo die eine Seite der Medaille die Entqualifizierung der breiten Masse der Studierenden ist, ist die andere die Heranzüchtung von „Excellenzen" mit extrem teurer Ausbildung, die den „Standort Deutschland" im internationalen Wettbewerb durch Forschung und Entwicklung „verteidigen" können. Das Paket wird schließlich vollendet durch Studiengebühren, deren Nutzen entgegen der Beteuerungen der verantwortlichen Politiker nicht in einer Verbesserung der Studienbedingungen liegt. Viel mehr geht es um die Reduktion der Studierendenzahlen und um die Disziplinierung der Studierenden durch Auslese. Außerdem werden sie die Privatisierung des Hochschulwesens flankieren, um einen Markt für kostenpflichtige private Universitäten und universitäre Weiterbildung zu schaffen. An den Universitäten tritt momentan am deutlichsten zutage, was das Kapital tatsächlich will: Einerseits eine so kostengünstige und darum gering wie möglich qualifizierte Masse für die „einfache" Arbeit. Andererseits eine hervorragend qualifizierte, mit allen erdenklichen finanziellen und infrastrukturellen Möglichkeiten ausgestattete Elite, die an leitender Stelle den Kampf um den Weltmarkt aufnehmen kann.
Entqualifizierung
Wie Karl Marx bereits im ersten Band des Kapitals feststellt, sind die Kosten, die für die Ausbildung eines Arbeiters aufgebracht werden müssen, Teil der Gesamtkosten für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Jede Ware ist eben das wert, was an Arbeit zu ihrer Herstellung aufgewendet werden musste. Daher sind es diese Kosten, die den Wert der Arbeitskraft – und damit das Maß für den Arbeitslohn – bestimmen. Jeder einzelne Kapitalist ist darauf angewiesen, seine Produktionskosten zu senken, um im Wettbewerb bestehen zu können. Aus diesem Grund ist eine Senkung der Bildungskosten im ökonomischen Interesse des Kapitals. Wie viel Geld in das Bildungssystem gesteckt wird, hat aber nicht nur eine direkte Auswirkung auf die Profite. Indirekt beeinflusst es auch die Ansprüche der Arbeitskräfte. Je mehr Qualifikationen ein Arbeiter erworben hat, desto mehr „fühlt er sich wert". Erreicht das Kapital den Abbau von – in seinen Augen – überflüssigen Qualifikationen, beugt es so allzu „unrealistischen" Lohnforderungen vor. Heute wird oft davon ausgegangen, dass die fortschreitende technologische Revolutionierung der Gesellschaft eine höhere Qualifikation der einzelnen Arbeiter zur Folge hätte. Zunächst steigt aber erst einmal nur die gesellschaftlich mögliche Qualifikation. Wie viele Arbeiter letztendlich dieses höchstmögliche Qualifikationsniveau erreichen, hängt von der Zahl der Arbeitsplätze und dem Grad der technologischen Entwicklung der Gesellschaft und des einzelnen Betriebes ab. Tatsächlich existiert eine Tendenz zur Entqualifizierung, die aus zwei grundlegenden Dynamiken des Kapitalismus entsteht: Zum einen aus dem Zwang zur Minimierung der Produktionskosten und damit der Notwendigkeit eines möglichst niedrigen Wertes der Arbeitskraft. Zum anderen aus der permanenten, technologischen Revolutionierung der Gesellschaft, die eine höhere Arbeitsteilung zur Folge hat, welche wiederum die notwendige Qualifikation für die Masse der Arbeitsplätze verringert. Betrachtet man vor diesem Hintergrund noch einmal die Situation des Bildungssystems, wird klar, dass es zunehmend im Sinne des Kapitals funktioniert. Das Schulsystem selektiert die jungen Menschen in diejenigen, die für Ausbildung oder Studium geeignet erscheinen und diejenigen, die nach der vierten Klasse auf die Hautschule gehen und damit de facto vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. Wen wundert es da, dass sich rechte Politiker und Vertreter des Kapitals immer wieder gegen Gesamtschulen aussprechen und von der CDU regierte Länder wie Niedersachsen die Orientierungsstufe abgeschafft haben. Das duale System ist fast vollständig unter der Kontrolle der Institutionen des Kapitals, der Industrie und Handels- sowie der Handwerkskammern. Es bietet der Mehrheit der Auszubildenden keine breite Qualifizierung und wenn sie im späteren Berufsleben zusätzliche Qualifikationen benötigen, sind sie gezwungen, sich weiterzubilden – oft genug auf eigene Kosten. Das duale System liefert so eine Grundlage an Arbeitsqualifikationen, der Zwang zur Weiterbildung in Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt sorgt für den Rest. Die Hochschulen bieten momentan das deutlichste Beispiel der Entqualifizierung. Die Umstellung auf Bachelor/ Master kostet die Mehrheit der Studierenden zwei von fünf Jahren Studium und bedeutet eine unglaubliche Entqualifizierung auf einen Schlag. Die Studiengebühren werden eine Minderheit sogar das ganze Studium kosten. Die staatlich finanzierten Elite-Unis hingegen stehen stellvertretend für den Sektor des Bildungswesens, der massiv ausgebaut werden soll. Wie alles im Kapitalismus muss Bildung sich rechnen. Sie ist nur etwas wert, wenn sie den deutschen Konzernen im internationalen Wettbewerb einen Vorteil verschafft.
Eine andere Bildung ist möglich
Es ist möglich, etwas an diesen Zuständen zu ändern. Angriffe können abgewehrt, Verbesserungen erkämpft und Alternativen umgesetzt werden. Das dreigliedrige Schulsystem könnte zugunsten von Einheitsschulen abgeschafft werden. Die Universitäten könnten allen offen stehen. Das duale System könnte durch staatliche Lehrwerkstätten unter Kontrolle der Gewerkschaften ersetzt werden, wie es die Lehrlingsbewegung in den 70er Jahren forderte. Dies würde es allen Auszubildenden ermöglichen, unabhängig vom Profit und frei von Ausbeutung zu lernen. Sie wären viel weniger abhängig von Ausbildern und Vorgesetzten und damit viel weniger erpressbar als heute. Die Realität läuft freilich gerade in eine andere Richtung. Daher hat der Kampf momentan einen defensiven Charakter. Es gilt aus der Verteidigung gegen die Angriffe auf das Bildungssystem heraus die Stärke zu entwickeln, die nötig ist, um tatsächliche Verbesserungen zu erreichen. Die Grundlage dafür ist die Einheit der Betroffenen. Die Spaltung in Schüler, Studierende und Auszubildende nutzt nur den Herrschenden. Aus diesem Grund müssen alle Bewegungen zur Verteidigung des Bildungssystems gleichermaßen unterstützt werden, seien es die Studierenden im Widerstand gegen Studiengebühren oder die Auszubildenden im Kampf um die Ausbildungsplatzabgabe. Klar ist aber auch, dass unter den Bedingungen des kapitalistischen Systems keine Reform von Dauer ist. Das Kapital wird nur auf den richtigen Moment warten, um sich teure soziale Fortschritte wieder vom Hals zu schaffen, wie es das momentan mit den Errungenschaften von '68 tut. Eine dauerhafte Befreiung der Bildung von den Interessen des Kapitals, ihre Veränderung hin zu einer den Menschen entwickelnden, emanzipatorischen Kraft, kann nur einhergehen mit der Befreiung der ganzen Gesellschaft vom Kapitalismus. Um es mit dem italienischen Revolutionär Antonio Gramsci zu sagen: „Sich selbst zu kennen, will heißen, sein eigenes Sein zu leben, will heißen, Herr seiner Selbst zu sein […] Und das kann man nicht erreichen, wenn man nicht auch die anderen kennt, ihre Geschichte, die Anstrengungen, die sie unternommen haben, um das zu werden, was sie sind, die Gesellschaftsformation zu schaffen, die sie begründet haben, und die wir durch die unsere ersetzen wollen." Bildung ist die Grundlage für die Befreiung der Gesellschaft. Wer sie verändern will, muss wissen, wie sie funktioniert. Eine breite Bildung und die Beschäftigung mit sozialen, politischen und kulturellen Fragen können uns heute schon auf die Zeit vorbereiten, in der die einfachen Menschen selbst die Gesellschaft organisieren werden. Deshalb ist sie zu wertvoll, um sie den Händen des Kapitals zu überlassen.