Auf dem Kongress »MARX IS MUSS« werden Janine Wissler, Fraktionsvorsitzende der hessischen LINKEN, und der slowenische Kulturphilosoph Slavoj Žižek über Alternativen zum Kapitalismus diskutieren. marx21 veröffentlicht vorab Auszüge aus ihren Reden. Diese Veranstaltung wird in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert.
Von Janine Wissler
Zu Beginn des Jahres löste die Parteivorsitzende der LINKEN Gesine Lötzsch mit einem Artikel über »Wege zum Kommunismus« eine hitzige Debatte aus. Der Text wurde von Teilen der Presse als willkommener Anlass genommen, die gesamte LINKE in eine stalinistische und antidemokratische Ecke zu rücken. Auch innerhalb der Partei wurde der Artikel heftig diskutiert: Muss der Begriff »Kommunismus« aus dem Wörterbuch getilgt werden oder ist die Idee, die dahinter steht, auch heute noch aktuell?
Karl Marx definierte den Kommunismus als Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen, als Überwindung von Ausbeutung und Unterdrückung. Aber diese Idee wurde wie alle großen Utopien der Menschheitsgeschichte missbraucht. Im Namen des Kommunismus wurden die Verbrechen des Stalinismus auch in der DDR gerechtfertigt.
Doch das darf kein Grund sein, die Ideen von Karl Marx, Rosa Luxemburg und anderen denen zu überlassen, die sie ins Gegenteil verkehrt haben. Im Gegenteil: Wir sollten anknüpfen an Luxemburgs Vorstellung von einem Sozialismus von unten, der die Selbstaktivität und Selbstemanzipation der Menschen in den Vordergrund stellt.
Sozialismus und Freiheit schließen einander nicht aus, sondern bedingen einander. Wir brauchen ein Wirtschaftssystem, in dem die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen und nicht das Profitstreben an erster Stelle steht. Echte Demokratie und Freiheit bedeuten auch demokratische Entscheidungen über die Wirtschaft. Wir wollen die Eigentumsverhältnisse ändern, weil heute in Deutschland zehn Prozent der Bevölkerung über zwei Drittel des Vermögens verfügen.
Jedes sechste Kind lebt hierzulande in Armut und acht Millionen Menschen arbeiten zu Niedriglöhnen. Zugleich ist die Zahl der Vermögensmillionäre auf Rekordniveau gestiegen. Vier Energiekonzerne bestimmen die Politik der Bundesregierung und machen das Lebensumfeld von hunderttausenden Menschen zu einer radioaktiven Müllkippe. Auch deshalb wollen wir mehr Gemeineigentum und damit mehr öffentliche und demokratische Kontrolle über die Wirtschaft.
Nach der tiefen Krise des Kapitalismus, nach dem Crash an den Börsen und nach milliardenschweren Rettungspaketen ist es nicht nur unser Recht, sondern geradezu unsere Pflicht, über Alternativen zum Kapitalismus nachzudenken. Millionen Hungertote, Kriege, Umweltzerstörung, Massenarmut und Erwerbslosigkeit machen die Suche nach einer anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht nur legitim, sondern unbedingt notwendig.
Hunderttausende sterben weltweit, weil an den internationalen Börsen auf steigende Lebensmittelpreise gewettet wird. Die einen spekulieren, die anderen verhungern. Zynischer und menschenverachtender kann eine Ökonomie kaum funktionieren. Wer dieses System nicht verändern will, der handelt verantwortungslos.
Nach einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung glauben 90 Prozent der Deutschen nicht, dass der Kapitalismus die drängenden sozialen und ökologischen Probleme lösen kann. Drei Viertel der Ostdeutschen und die Hälfte der Westdeutschen halten den Sozialismus für eine gute Idee. Das sind weit mehr als die Wähler der LINKEN. Deshalb sollten wir uns nicht verbieten lassen, auch weiterhin über Alternativen zum Kapitalismus zu diskutieren.
Von Slavoj Žižek
Die wohl prägnanteste Charakterisierung der Epoche, die mit dem Ersten Weltkrieg anbrach, wird dem italienischen Kommunisten Antonio Gramsci zugeschrieben: »Die alte Welt stirbt, und die neue Welt erkämpft sich ihren Platz: die Zeit der Monster ist gekommen.« Waren Faschismus und Stalinismus nicht die Zwillingsmonster des zwanzigsten Jahrhunderts? Der eine die Ausgeburt des verzweifelten Überlebenskampfes der alten Welt, der andere der fehlgeleitete Versuch, eine neue zu errichten. Und was sollen wir von den Monstern halten, die wir heute gebären, angetrieben durch techno-gnostische Träume von einer biogenetisch kontrollierten Gesellschaft? Aus diesem Paradox sollten wir alle notwendigen Konsequenzen ziehen, dass es vielleicht gar keinen direkten Übergang zum Neuen gibt, zumindest nicht, wie wir uns ihn vorgestellt haben, und dass Monster das unausweichliche Ergebnis jeden Versuchs sind, diesen Übergang zu erzwingen.
Unsere Lage ist somit genau das Gegenteil der sehr klassischen Zwickmühle des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Linke sich ihrer Aufgabe der Gründung der Diktatur des Proletariats usw. bewusst war und bloß geduldig die Gelegenheit dazu abzuwarten brauchte. Heute kennen wir unsere Aufgabe nicht, dennoch müssen wir sofort handeln, weil die Folgen eines Nichthandelns katastrophal sein könnten. Wir werden das Risiko eingehen müssen, uns unter gänzlich ungeeigneten Bedingungen in die Schlucht des Neuen zu begeben, wir werden Aspekte des Neuen wiedererfinden müssen, bloß um das Gute im Alten (Bildung, Gesundheitswesen usw.) zu erhalten.
Die Zeitschrift, in der Gramsci seine Schriften in den frühen 1920er Jahren veröffentlichte, hieß »L’Ordine nuovo« (Die neue Ordnung) – eine Überschrift, die später von der extremen Rechten vereinnahmt wurde. In dieser späteren Vereinnahmung sollten wir die »Richtigkeit« von Gramscis Wortwahl erkennen und den Begriff nicht als etwas auffassen, das im Widerspruch zum rebellierenden Freiheitswillen der authentischen Linken steht. Vielmehr sollten wir ihn wieder aufgreifen als Messlatte für den steinigen Weg, jene neue Ordnung zu bestimmen, die jede erfolgreiche Revolution zu etablieren haben wird. Kurz gefasst, unsere Zeit können wir am treffendsten mit den Worten charakterisieren, die Stalin auf die Atombombe verwendete: Sie ist nichts für schwache Nerven.
Der Kommunismus ist nicht die Bezeichnung für eine Lösung, sondern die eines Problems: die vielfältigen Probleme des Gefüges in all seinen Dimensionen – des natürlichen Gefüges als Lebenssubstanz, die Probleme des biogenetischen Gefüges, die Probleme unseres kulturellen Gefüges (»intellektuelle Eigentumsrechte«) und schließlich, aber nicht minder wichtig, die unmittelbaren Probleme des Gefüges als universellen Raums für die Menschheit, aus dem keiner ausgeschlossen werden sollte. Was auch immer die Lösung sein wird, sie wird zumindest dieses Problem lösen müssen.