Vor 100 Jahren starb der Komponist Gustav Mahler. Seine Werke markieren den Einbruch der Moderne in die Welt der Musik. Von den Nazis verboten, nach dem Krieg ignoriert, gewinnt seine Musik heute wieder an Resonanz. Von Simon Behrman
In den vergangenen Jahrzehnten gehörte die Musik des Komponisten Gustav Mahler ohne Zweifel zu den am meisten eingespielten und aufgeführten Werken. Die Allgegenwart seiner Musik auf Konzertbühnen und in CD-Regalen hat mit den doppelten Gedenkjahren 2010 und 2011 noch zugenommen.
Im Jahr 2010 wurde Mahlers Geburt vor 150 Jahren gefeiert. Er kam als Sohn einer armen jüdischen Familie in einer Kleinstadt im tschechischen Gebiet der Habsburger-Monarchie Österreich-Ungarn zur Welt. Dieses Jahr begehen wir seinen Tod vor 100 Jahren in Wien, dem imperialistischen Zentrum der Monarchie. Zu diesem Zeitpunkt war er einer der reichsten und berühmtesten Musiker Europas.
Lebendige Kunst
Zu Lebzeiten beruhte sein Ruhm überwiegend auf seiner Tätigkeit als Dirigent. Leider starb Mahler, ehe sich die Aufzeichnungstechnik verbreitet hatte, weshalb es keine Zeugnisse dafür gibt, wie er dirigierte. Es gibt nur ein paar Aufnahmen auf Klaviernotenrollen. Faktisch war aber jeder große Dirigent von Beginn bis Mitte des 20. Jahrhunderts deutlich von seinem Interpretationsstil beeinflusst.
Dieser Stil geht von der Idee aus, dass die gedruckten Noten kein heiliger Text sind, dem man sich unterwerfen muss. Stattdessen ist Musik eine lebendige Kunst, die nur dann existiert, wenn sie gespielt wird. Und so wie jedes Konzerthaus, jedes Publikum, jeder soziale Kontext sich von dem nächsten unterscheidet, so verändert sich auch die Musik mit jeder Aufführung, selbst wenn es nur auf subtile Weise ist. Dieses Verständnis davon, wie Veränderungen der gesellschaftlichen Bedingungen sich auf den Zuhörer und Ausführenden auswirken, tragen dazu bei, die Wechselfälle in der Rezeption von Mahlers Musik in den vergangenen hundert Jahren zu erklären.
Musik der Moderne
Verglichen mit anderen war Mahler kein besonders produktiver Komponist. Er vollendete nur neun Symphonien und ein paar Liederzyklen. In diesen Werken schaffte er es jedoch, sehr viel über die Gesellschaft, in der er lebte, und die besonderen Neurosen, mit denen die Moderne behaftet ist, auszusagen. Seine religiösen Werke – die zweite und achte Symphonie – stellen keine fromme Lobpreisung Gottes dar, sondern sind Ausdruck von Glaubenszweifeln und des häufig qualvollen Wegs zur Spiritualität (im weitesten Sinne) in unserem brutalen und säkularen Zeitalter.
In seiner fünften, sechsten und neunten Sinfonie und dem »Lied von der Erde« lotet er die Tiefen von Angst und Tod aus. Die Beschwörung des Todes wird noch gesteigert durch das enge Nebeneinander mit dem Klang des vollen Lebens. Mit dieser Engführung von völlig entgegengesetzten Stimmungen setzt sich Mahlers Musik von anderer ab. Im dritten Satz der ersten Symphonie zum Beispiel hören wir das Kinderlied »Bruder Jakob« als Trauermarsch gespielt, der dann plötzlich durch einen übertrieben rustikalen Bläsereinsatz unterbrochen wird. Der Höhepunkt seiner sechsten Symphonie nach fast einer halben Stunde schwankt unablässig zwischen Triumph und Verzweiflung.
Niedergang der Gesellschaft
Das damalige Publikum, das anmutige Melodien und eine selbstbewusste große klassische Tradition gewohnt war, fand seine Musik schwierig. Und doch sprach seine Musik viele Zuhörer an, da Tragödie und Angst wesentliche Merkmale von Mahlers Wien waren. Es war eine Gesellschaft, die nach der bekannten Redewendung auf dem Vulkan tanzte.
Unter dem oberflächlichen Glanz des Habsburger-Reiches entwickelten sich zunehmend gesellschaftliche Spannungen, die erst mit den Verheerungen, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte, und dem Zusammenbruch der Monarchie aufgelöst wurden. Der Niedergang dieser Gesellschaft führte dazu, dass einige sehr hässliche Ideen zu schwären begannen.
Antisemitismus in Wien
Ende der 1890er Jahre, kurz bevor Mahler die Stelle als Direktor der Wiener Hofoper antrat, war der extreme Antisemit Karl Lueger zum Bürgermeister Wiens gewählt worden. Die Politik der Bewegung Luegers wurde zu einer erstrangigen Quelle der Nazis. Mahlers erzwungener Rücktritt als Hofoperndirektor im Jahr 1907 ging vor allem auf einen antisemitischen Feldzug gegen ihn in den Wiener Zeitungen zurück. Mehr als einmal erklärte er, dass er sich wie ein Außenseiter fühle. Nicht nur, dass er ein Provinzler in der Metropole Wien war, sondern er war auch Jude in einer zunehmend antisemitischen Gesellschaft.
Das Geniale in seiner Musik besteht darin, dass er seine eigenen tiefgehenden persönlichen Erfahrungen mit Entfremdung und Angst auf eine Weise vermitteln konnte, die auch bei anderen Anklang fand, die fühlen konnten, dass die Welt auseinanderbrach. In einem Gespräch mit dem finnischen Komponisten Jean Sibelius tat er den berühmten Ausspruch, dass die Sinfonie »wie die Welt sein muss. Sie muss allumfassend sein.« Es gehört zu Mahlers Größe, dass das Persönliche und das Gesellschaftliche in seiner Musik wie im wirklichen Leben immer eng miteinander verflochten sind.
Mahler öffnete Türen
Eine jüngere Generation von Komponisten begriff, dass die alte klassische Tradition wie auch die Gesellschaft, aus der sie kam, an Kraft verlor. Indem Mahler die klassischen Harmonien erbarmungslos zuspitzte, öffnete er die Tür für Arnold Schönbergs Revolution in der Tonalität. Obwohl Mahler die radikal experimentellen Werke des jüngeren Komponisten schwer verständlich fand, begriff er ihren Wert und begrüßte sie zu einer Zeit, als es nur wenige andere taten.
Tatsächlich kann eine direkte Verbindung von Mahler über Schönberg und seine Schüler bis zur Nachkriegsavantgarde wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez gezogen werden. Außerdem wurden viele andere Komponisten des 20. Jahrhunderts deutlich von Mahlers Musik beeinflusst: Richard Strauß, Dimitri Schostakowitsch, Leonard Bernstein, Benjamin Britten, Luciano Berio, Hans Werner Henze, um nur einige zu nennen. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass kein anderer Komponist so viel Einfluss auf die Musik des 20. Jahrhunderts hatte wie Mahler.
Von den Nazis verboten
Seine Musik wurde auch Opfer der Naziherrschaft. In den 1920er Jahren gewannen seine Werke zunehmend Anerkennung in Europa. Aber wegen seiner jüdischen Herkunft und der beunruhigenden Vorwegnahme des Modernismus in seinen Kompositionen wurden seine Arbeiten von den Nazis gerade in den Ländern verboten, wo er am bekanntesten war: in Deutschland 1933, in Österreich ab 1938 und in den Niederlanden ab 1940.
Selbst nach 1945 wurde seine Musik selten aufgeführt. Die Laufbahn vieler Musiker, die zu seinen glühendsten Anhängern gehörten, wurde zerstört oder sie wurden an den Rand gedrängt durch Exil und Krieg. Zudem entwickelte sich in den 1950er und 1960er Jahren die klassische Musik in zwei völlig entgegengesetzte Richtungen, bei der Mahlers Musik durch das Raster fiel.
Musikhallen wie Museen
Die radikalen Avantgardisten wollten vollständig mit der deutschen Tradition brechen, die sie für eine Generation, die sich von den Schrecken des Faschismus und des Kriegs erholte, für unbedeutend hielten. Die Mehrheit der Musiker andererseits verwandelten die Musikhallen langsam in Museen, in denen endlos eine Musik wiedergekäut wurde, die mehr oder weniger ohne Umschweife heroisch, schön oder entspannend war.
Mahlers Verwendung traditioneller klassischer Formen und die sonderbare Gegenüberstellung von gebrochenen Melodien, widerstreitenden Tonalitäten, Kinderliedern, idyllischen Bildern und Trauergesängen passten einfach nicht. Außerdem fand seine Beschwörung einer durch innere Widersprüche zerrissenen Welt in einer Zeit wachsenden Wohlstands und gesellschaftlichen Friedens beim Publikum wenig Gehör.
Aus den Fugen geraten
Erst als Boulez und einige andere versuchten, den untergründigen Strom wiederzuentdecken, der zum Aufstieg ihres Helden Schönberg führte, stießen sie auf Mahler. Auch das Publikum fand in Mahlers Musik wieder eine Stimme, mit der es sich identifizieren konnte, als ab Ende der 1960er Jahre der lange Wirtschaftsaufschwung nach dem Krieg von gesellschaftlicher Rebellion und Wirtschaftskrise abgelöst wurde.
Erneut war die Welt sichtbar aus den Fugen geraten, und sie geht seitdem immer weiter aus den Fugen. Die makabre Welt von Mahlers Musik, in der die Banalitäten bildungsbürgerlicher Elite und Volkskultur eine immer gewalttätigere und sterbende Gesellschaft begleiten, spricht zu uns vielleicht mehr denn je.
(Zuerst erschienen in der britischen Zeitschrift »Socialist Review«. Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning)
Mehr im Internet:
Viele Aufführungen von Mahlers Werken sind beispielsweise über den Onlinedienst Grooveshark kostenlos im Internet verfügbar. Im Text erwähnt wurden zum Beispiel: