Der Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Thüringischen Landtag Bodo Ramelow sagte zur Afghanistanpolitik der LINKEN in der »Welt am Sonntag«: »Uns geht es nicht um einen sofortigen Abzug. Das wäre wie eine Flucht damals aus Vietnam.« Stefan Bornost ist anderer Meinung. Er argumentiert, dass die Bewegung für einen Truppenabzug aus Vietnam ein Lehrbuchbeispiel für einen erfolgreichen Kampf gegen imperialistische Kriege ist.
Im Frühjahr 1965 lehnte der französische Philosoph Jean-Paul Sartre ab, bei einer Kundgebung gegen den Vietnam-Krieg in den USA zu sprechen. Die Begründung: Eine Rede sei »völlige Zeitverschwendung«, denn »das politische Gewicht« jener Amerikaner, die gegen den Krieg seien, »ist gleich null«. Überhaupt erzeugte das Thema Vietnam keine größere Aufregung. Die Verteidigung des korrupten Regimes in Südvietnam gegen die von Kommunisten geführte Vietminh-Bewegung in Nordvietnam unterschied sich für die USA nicht von der Verteidigung der Herrschenden in Taiwan, Südkorea, Iran, Saudi-Arabien, Libanon, Zaire oder Zentralamerika. In Vietnam waren anfänglich nur 400 US-»Militärberater« stationiert. Nach einem Aufstand gegen den südvietnamesischen Diktator Diem 1962 ordnete US-Präsident J F Kennedy die »begrenzte« Bombardierung des vietnamesischen Innenlandes mit Napalm und Splitterbomben an. Jetzt wurde der Vietcong populär. Zehntausende schlossen sich der vietnamesischen Guerilla an.
LBJ
Szenenwechsel: Im November 1964 wurde der Demokrat Lyndon Baine Johnson mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten der USA gewählt. Er hatte mit weitreichenden Reformversprechen, wie zum Beispiel der Auflage eines milliardenschweren »Anti-Armut-Programms«, die Stimmen von Gewerkschaftern, linken Studenten und Schwarzen gewonnen. Doch die Hoffnungen wurden rasant enttäuscht. Die Intervention in Vietnam wurde zum Bombardement, das Bombardement zum Krieg. Die Johnson-Regierung pumpte das Geld nicht in die Sozialsysteme, sondern in den Kampf um Vietnam. Das US-Außenministerium erklärte Anfang 1965, warum: »Die Situation in Vietnam verschlechtert sich, und ohne ein verstärktes US-Engagement ist eine Niederlage innerhalb des nächsten Jahres unabwendbar. Das internationale Prestige der USA und ein beträchtlicher Teil unseres Einflusses stehen in Vietnam auf dem Spiel (…)«
Eskalation
Die Regierung beschloß, den Krieg mit allen Mitteln zu gewinnen. Am 6. März 1965 waren die ersten 10.000 Marines gelandet. Am Ende des Jahres waren es schon 210.000. Anfang 1967 hatten die USA 470.000 Soldaten in Vietnam. Die US-Luftwaffe startete die Operation »Rolling Thunder«, das größte und längste Bombardement der Geschichte. Nordvietnam sollte, wie es ein US-General ausdrückte, »zurück in die Steinzeit« bombardiert werden. Die US-Air Force warf im Schnitt zwei Bomben pro Minute. Allein 1968 wurden über Vietnam mehr Bomben abgeworfen als im gesamten Zweiten Weltkrieg. Militärisch war das Bombardement aber weitgehend nutzlos gegen einen Gegner, der dem Kampf auswich, aus dem Hinterhalt zuschlug und sich in einem großräumigen Tunnelsystem bewegte. Die Produktion in den unterirdischen Fabriken des Vietcong wuchs um mehr als 6% im Jahr. Die Opfer unter der vietnamesischen Bevölkerung gingen derweil in die Hunderttausende.
Teach-ins
Jahrelang hielt das Lügengebäude der USA stand. Langsam aber sickerte die Wahrheit durch. Die Barbarei der Flächenbombardements machte die Kriegspropaganda vom Krieg des freien Westens für die Demokratie zur Farce. Die Anti-Kriegsbewegung ging zunächst von kleinen Aktivistenkernen an den US-Universitäten aus. Sie sorgten dafür, daß sich die Debatte über den Krieg wie ein Lauffeuer von Uni zu Uni ausbreitete. Führende Regierungsvertreter wurden zu öffentlichen Debatten, den Teach-ins, eingeladen. Dort wurden sie vor Tausenden von Studenten durch die Argumente der studentischen Kriegsgegner demontiert. Die Teach-in-Bewegung zog immer größere Schichten von Studenten in die Debatte: 1965 nahmen 3.000 in Ann Arbor teil, 30.000 in Berkeley und schließlich Hunderttausende, als ein Teach-in in Washington über 122 Uni-Radiostationen ins gesamte Land übertragen wurde. Das Interesse am Vietnam-Krieg hatte für viele einen konkreten Grund: Ihre Einberufung zur Armee stand vor der Tür!
Explosion
Der Krieg der US-Regierung entwickelte noch eine weitere Front: 1965-68 explodierten die Ghettos in den USA. Die Enttäuschung über die Johnson-Regierung, die aufgestaute Wut über Elend, Polizeibrutalität und Rassismus entlud sich in Aufständen, die von Mal zu Mal größer wurden. Mitte Juli 1967 kam es nach Polizeiübergriffen zu bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen, bei denen in New Jersey 21 Schwarze von der Nationalgarde erschossen wurden. Fünf Tage lang rebellierte Detroit, die fünftgrößte Stadt der USA. Nach dem Aufstand lagen ganze Straßenzüge in Schutt und Asche, es gab 40 Tote (hauptsächlich Schwarze), 2.250 Verletzte und 4.000 Verhaftungen. Die Schwarzenbewegung radikalisierte sich und begann, die Verbindung zwischen ihrer Unterdrückung in den USA und der Unterdrückung der Vietnamesen durch die USA zu ziehen. Der Box-Weltmeister Muhammad Ali setzte ein Fanal, als er sich seiner Einberufung mit den Worten widersetzte: »No Vietnames ever called me a nigger!« – Kein Vietnamese hat mich je als Nigger beschimpft! Die Schwarzenbewegung inspirierte die Anti-Kriegs-Bewegung und umgekehrt.
Im April 1967 demonstrierten 400.000 in New York, im November spalteten sich bei einer Demo von 100.000 in Washington 30.000 Demonstranten zu einem "Marsch auf das Pentagon" ab, der durch das Militär aufgehalten wurde.
Tet: Der Wendepunkt
Aber die Eskalation beschränkte sich nicht auf die USA und Vietnam. Weltweit saß eine Generation von Jugendlichen in den Startlöchern, deren über Jahre aufgestaute Wut über die herrschenden Zustände nur nach einem Ventil suchte, um sich entladen zu können. Den Initialzünder lieferte erneut der heldenhafte Widerstand des Vietcong. Als zur Jahreswende 67/68 in Saigon Explosionen zu hören waren, dachten die US-Soldaten, es wäre gewöhnliche Böllerei anläßlich von Tet, dem vietnamesischen Neujahrsfest. Doch sie irrten. Der Vietcong hatte über Monate hinweg Tausende von Kämpfern in die Städte eingeschleust. Jetzt startete er mit 84.000 Mann eine Offensive, die zeitgleich auf 36 der 44 Provinzhauptstädte abzielte. In Saigon wurde die US-Botschaft von einem Vietcong-Kommando gestürmt. Die Wirkung auf die linke Jugend in aller Welt war ungeheuerlich. Fünf Jahre nach Beginn der Intervention in Vietnam wurde schlagartig klar: Man kann dem amerikanischen Superimperialisten widerstehen.
Die US-Army brauchte Wochen, um die Tet-Offensive zum Halten zu bringen. Sie legte dafür die angegriffenen Städte systematisch in Schutt und Asche. 14.000 Tote, 24.000 Verwundete und 800.000 Obdachlose unter der südvietnamesischen Zivilbevölkerung – das war die Antwort der USA auf die Tet-Offensive. »Es war notwendig, diese Stadt zu zerstören, um sie zu retten« – so brachte ein Major die US-Strategie auf den Punkt.
Aufbruch
Aber auch die Gegenseite erhöhte die Einsätze: Was als eine Reihe voneinander unabhängiger Bewegungen gegen verschiedene Aspekte des kapitalistischen Systems begonnen hatte, vereinigte sich jetzt zu einer weltweiten Rebellion gegen den Kapitalismus selbst. Speerspitze der Rebellion war das Losbrechen einer internationalen Studentenbewegung. An den Universitäten grassierten revolutionäre Ideen wie ein ideologisches Lauffeuer. Aber 1968 war mehr, als eine internationale Studentenbewegung. In Prag konnte eine Massenbewegung gegen die Diktatur nur durch den Einmarsch der Roten Armee gestoppt werden.
In Paris kämpften die Studenten drei Tage und Nächte hindurch auf den Barrikaden und verteidigten das Studentenviertel Quartier Latin gegen die paramilitärischen Polizeieinheiten der CRS. Der spektakuläre Kampf der Studenten löste in den darauffolgenden Wochen aus, was als der »Pariser Mai« in die Geschichtsbücher einging: Einen Generalstreik von mehr als 10 Millionen Arbeitern.
Die Linke
Hunderte von Millionen Menschen bewegten sich in rasanter Geschwindigkeit nach links. In den Folgejahren schossen revolutionäre Organisationen in der ganzen Welt wie Pilze aus dem Boden. Die Anti-Kriegsbewegung wurde durch die Herausbildung eines organisierten revolutionären Rückgrats zu einem dauerhaften Faktor. In Vietnam selbst ging das militärische Debakel der USA gleichzeitig weiter. Die Stimmung in den USA kippte. Johnson erlitt bei den Vorwahlen zur US-Präsidentschaft eine vernichtende Niederlage.
Sein Nachfolger Richard Nixon sah sich gezwungen, von Truppenabzug zu reden. Im April 1970 verkündete er aber den Einmarsch der USA in Kambodscha. Die Invasion Kambodschas brachte die Anti-Kriegs-Bewegung auf einen neuen Höhepunkt.
Nachdem in Kent bei einer Anti-Kriegs-Demo vier Studenten durch Nationalgarden erschossen wurden, gingen innerhalb von Tagen 350 Unis in einen Streik, dem sich die Schulen anschlossen. An Massendemos am 9.-10.Mai beteiligten sich landesweit vier Millionen Studenten – 60% der gesamten Studentenschaft.
Der Sieg
Der enorme Widerstand an der Heimatfront wirkte auf die Truppen in Vietnam zurück. Zumal die USA auf eigene Verluste keine Rücksicht nahmen: Sie schickten die GIs auf Patrouillengänge in den Dschungel, um den Feind aus dem Hinterhalt zu locken. Wenn der Vietcong angriff, forderten die Offiziere Artillerie- und Luftunterstützung an. Die war zwar innerhalb von Minuten da, tötete aber auch die eigenen Leute. 20% der Verluste der US-Army kamen durch »friendly fire« zustande. Der Haß der Soldaten wuchs. »Splittern« – das Umbringen der eigenen Offiziere mittels Splitterhandgranaten – kam in Mode. 1.013 offiziell nachgewiesene Fälle gibt es zwischen 1968 und 1972. Insgesamt wurden etwa 10% der Offiziere in Vietnam von ihren kriegsmüden Mannschaften getötet. Die Stimmung der Soldaten in der »Hölle von Vietnam« änderte sich unter dem Eindruck der Anti-Kriegsbewegung daheim von schlecht zu katastrophal. 1970 waren 10% der GIs in Vietnam heroinabhängig. 1972 war die US-Armee in Vietnam praktisch kampfunfähig und wurde im Schnellverfahren außer Landes gebracht. Der Kampf um Vietnam ist ein Lehrbuchbeispiel für erfolgreichen Kampf gegen imperialistische Kriege. Drei Faktoren liegen diesem Sieg zugrunde:
- Der zähe und erfolgreiche militärische Widerstand des Vietcong trieb den Preis für das US-Massaker in wahnwitzige Höhe und ermutigte Unterdrückte in aller Welt, sich ebenfalls zur Wehr zu setzen.
- Der Aufbau von Vietnam-Solidaritäts-Komitees schuf eine Struktur, die die Propagandalügen vom »Krieg für die Demokratie« zerstörte. Sie waren die Grundlage einer internationale Anti-Kriegsbewegung.
- Den entschlossensten Elementen dieser Bewegung gelang es, den Kampf um Vietnam mit den Kämpfen gegen Rassismus, Notstandsgesetze, höhere Löhne etc. zu verbinden. Gleichzeitig stampften sie revolutionäre Parteien aus dem Boden, deren politische Klarheit und organisatorische Schlagkraft die Bewegung ausweitete und radikalisierte.
Die Niederlage führte zum »Vientnam-Trauma« der Herrschenden in den USA. Sie hatten den Krieg nicht militärisch verloren. Sie verloren ihn moralisch. Die ruhmreiche US-Army war in Vietnam im wahrsten Sinne des Wortes zerbrochen. Die Herrschenden hatten weder ihre eigene Armee, noch die amerikanische Bevölkerung im Griff behalten können. Dieser Schock saß so tief, dass die US-Armee bis 1983 in keinen einzigen Einsatz geschickt wurde. So »schützte«, der von der Antikriegsbewegung erzwungen Truppenabzug aus Vietnam, die Menschen eine Zeit lang vor der größten imperialistischen Armee der Welt. Die »Flucht aus Vietnam« war der kürzeste Weg zum Frieden. Deswegen ist der »sofortige Abzug aller Truppen aus Afghanistan« zu Recht eine Forderung der LINKEN.
Zum Autor:
Stefan Bornost ist leitender Redakteur von marx21.