Der Sturz Hosni Mubaraks war eine historische Errungenschaft, aber der revolutionäre Prozess geht weiter. Mostafa Omar beschreibt die Kämpfe der Zukunft.
Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass die revolutionäre Erhebung, die sich in Ägypten abspielt, eine der größten Volksrevolutionen der modernen Geschichte ist. Die schiere Anzahl der Menschen, die daran teilgenommen haben, wie auch ihr relativer Anteil an der Gesamtbevölkerung ist beeindruckend und ohne Beispiel.
Es wird geschätzt, dass zwischen dem 25. Januar, als die Demonstrationen anfingen, und dem 11. Februar, als der Diktator Hosni Mubarak vertrieben wurde, mindestens 15 Millionen Menschen bei einer Gesamtbevölkerung von 80 Millionen, also rund 20 Prozent, sich an den Massenmobilisierungen beteiligten.
Aufstand der Massen
Ein Freund von mir in Kairo erinnerte mich daran – und er übertrieb wahrscheinlich ein wenig – dass die Demonstranten von ihrer Anzahl her alle Proteste übertrafen, die in den Ländern Osteuropas zur Zeit des Falls der Mauer 1989 stattfanden.
Es stimmt, dass junge Menschen am 25. Januar an der Spitze der Bewegung standen und dass die meisten der 400 Märtyrer, die im Laufe des Aufstands ermordet wurden, jünger als 30 Jahre waren. Aber die jungen Leute waren auf der Straße nicht allein. Vom ersten Tag an war der ägyptische Aufstand einer der Massen. Vom ersten Tag an beteiligten sich Millionen Arbeiter, arme Bauern, arme Hausfrauen und alle Bereiche der Gesellschaft an den Mobilisierungen im ganzen Land.
Bauern und Hausfrauen
Wenn man über den Tahir-Platz in Kairo lief, sah man eine Gruppe armer Arbeiter und schlecht bezahlter Regierungsangestellter nach der anderen. Man sah Bauern, arme Hausfrauen, die jeden Tag darum kämpfen müssen, ihre Kinder zu ernähren und am Leben zu erhalten. Man sah tausende behinderte Menschen auf Krücken und in Rollstühlen, die von der Regierung seit Jahrzehnten ignoriert werden. Man sah Rentner, die es sich nicht leisten können, sich Fleisch und sogar bestimmte Gemüsesorten zu kaufen. Man sah Männer und Frauen, Muslime und Christen.
All diese Gruppen kamen, um sich einzubringen – und als das Regime zusammenbrach, kamen sie wieder, um die jungen Menschen zu beschützen, die die Besetzung des Tahrir-Platzes anführten.
Soziale Gerechtigkeit
Die Massen der Armen und Arbeiter, die sich an dem Aufstand beteiligten – wie auch alle anderen, die teilnahmen – wollen demokratische Reformen. Aber die Arbeiter und die Armen wollen auch soziale Gerechtigkeit und eine Umverteilung des Wohlstand des Landes nach 30 Jahren der Privatisierungen, der Verarmung und neoliberaler Politik, die auf das Konto des Mubarak-Regimes gehen.
Es war im wahren Sinne ein landesweiter Aufstand: jede Stadt und Provinz in allen Teilen des Landes nahm daran teil. Ob man es glauben will oder nicht, so militant und entschlossen die Revolutionäre in Kairo, von denen die westlichen Medien am meisten berichteten, auch waren, die Revolutionäre in anderen Städten wie Suez oder Alexandria, den beiden nächst größten Städten des Landes, waren noch militante und unerschrockener.
Polizei herausgefordert
Zum Beispiel konzentrierten sich die Demonstranten in Kairo auf den Tahrir-Platz und hielten in ganze 18 Tage besetzt, indem sie sich zahlreichen blutigen Angriffen durch die Polizei und Mubaraks Schlägertrupps widersetzten.
Aber in Alexandria wählten die Aufständischen eine andere Strategie. Sie warteten nicht darauf, dass die Polizei angriffe. Sie kamen jeden einzelnen Tag aus jedem Stadtteil zu zehn- und hunderttausenden, um die Polizei zu konfrontieren – sie wehrten sich gegen den alltäglichen Einsatz von Schusswaffen und Tränengas, bis sie die Polizei in die Knie zwangen.
Keine Hilfe der Zentrale
Ich habe mir im Internet einen faszinierenden Mitschnitt des Polizeifunkverkehrs zwischen dem Hauptquartier in Alexandria und den Einsatzleitern vor Ort angehört, die versuchten, die Flut der wütenden Aufständischen unter Kontrolle zu bringen. In der Aufnahme bitten die Einsatzleiter die zentrale Leitung um Verstärkung, um gegen, wie sie es beschrieben, gewaltige und gefährliche Ansammlungen von 10.000, 20.000 und 30.000 Menschen vorzugehen, die sich ihnen von allen Seiten her näherten.
Die Zentrale konnte ihnen keine Hilfe anbieten, weil alle, buchstäblich alle Beamten im Einsatz um Verstärkung baten. Die Zentrale riet den Einsatzkräften daraufhin, sich in die Reviere zurückzuziehen, und die Einsatzleiter antworteten auf diesen Rat: »Mit Verlaub, die Demonstranten stecken die Reviere in Brand.«
Kontrolle übernommen
Die Aufnahme endet dramatisch mit der Frage des Oberkommandierenden in der Zentrale, der von einem Untergebenen eine Erklärung für die Niederlage der Polizei verlangt. Der Beamte antwortet ihm: »Herr Einsatzleiter, es ist vorbei. Die Menschen haben die Kontrolle übernommen.«
Die Geschichte aus Alexandria wurde in Suez und einer Stadt nach der anderen wiederholt. Demonstranten marschierten auf Polizeireviere und die örtlichen Zentralen der herrschenden Partei des Mubarak-Regimes, der Nationalen Demokratischen Partei (NDP) los, auf städtische Verwaltungsgebäude, die Regierungssitze der Gouverneure und so weiter und so fort. Und so gewaltig die Revolte war, so atemberaubend in ihrer Größe und ihrem Jubel waren die Feiern, die stattfanden, als Mubarak schließlich stürzte.
Menschlichkeit wiederentdeckt
An dem Tag, als Mubarak zurücktrat, feierten fünf Millionen von uns auf dem Tahrir-Platz 24 Stunden lang. Ich dachte, das wäre die größte Feier im Land gewesen. Aber Freunde aus Alexandria wiesen mich auf folgendes hin: »Ihr habt in Kairo eine Bevölkerung von 20 Millionen, und fünf Millionen kamen zum Tahrir Platz. In Alexandria haben wir zehn Millionen Menschen, von denen kamen sieben Millionen auf den völlig überfüllten Mittelmeer-Boulevard, der sich durch die ganze Stadt zieht.
Ich habe in Büchern von großen Revolutionen für soziale Gerechtigkeit gelesen. Ich habe gelesen, dass die Millionen, die an diesen Revolutionen teilnahmen, nicht nur unterdrückerische gesellschaftliche Einrichtungen verändern, sondern dabei auch ihre eigenen Menschlichkeit wiederentdecken.
Stolze Ägypter
Ich muss sagen, dass ich Glück hatte, in den wenigen Wochen des Aufstands in Ägypten unmittelbar Zeuge dieser gesellschaftlichen und menschlichen Verwandlung zu werden.
Ich hab so viele Menschen gesehen und gesprochen, die einem erzählen, dass sie stolz darauf sind, was sie getan haben. Sie haben das Gefühl, endlich nicht mehr Fremde in ihrem Land zu sein. Sie fühlen sich zum ersten Mal in ihrem Leben als menschliche Wesen.
Ich habe nie so viele Millionen Ägypter gesehen, die so stolz aussehen, so stolz darauf, was sie und die anderen Revolutionäre erreicht haben, und so stolz, dass sie etwas getan haben, von dem sie nie geglaubt hätten, dass sie dazu in der Lage wären.
Begeisterung und Hoffnung
Die Menschen sehen entspannter und mehr im Einklang mit sich aus – das kann man auf ihren Gesichtern ablesen. Die Menschen in Ägypten sagen einem: Vergangen sind die Tage, als wir und klein und hilflos fühlten. Vorbei sind die Tage, als die Polizei uns demütigen und foltern konnte. Vorbei sind die Zeiten, als die Reichen und die Geschäftsleute dachten, sie könnten das Land regieren, als ob es ihr privates Unternehmen sei.
Überall haben Menschen die Aufkleber zur Revolution vom 25. Januar angebracht – an ihren Autos, in Cafés, zu hause. Tausende junger Menschen haben Komitees gegründet, um die Straßen in ihren Stadtteilen aufzuräumen. Tausende andere haben Blut gespendet, um denjenigen zu helfen, die während des Aufstands verwundet wurden. Junge Künstler sprühten revolutionäre Graffitis, die sich gegen Korruption richten und die Gleichheit zwischen Muslimen und Christen hochhalten.
In den Tagen und Wochen nach dem 11. Februar konnte man die Begeisterung und Hoffnung in der Luft spüren. Der revolutionäre Aufstand hat tatsächlich große und beeindruckende Veränderungen herbeigeführt.
Bedeutende Zugeständnisse
Der oberste Rat der Streitkräfte, der die Macht von Mubarak mit der Absicht übernommen hat, das Gesellschaftssystem vor dem völligen Zusammenbruch zu bewahren, und der bis auf weiteres das Land regiert, hat unter starkem öffentlichem Druck der Revolution bedeutende Zugeständnisse gemacht.
Zum Beispiel hat der Rat einige korrupten politischen und Geschäftsfreunde von Mubarak festnehmen lassen und ihre Konten eingefroren. Er hat auch Mubaraks eigenes Vermögen eingefroren und versprochen, ihn vor Gericht zu stellen.
Innenminister in Gefängniskleidung
Im ägyptischen Fernsehen kann man viele der verhassten Figuren aus der Geschäftselite und aus dem Regime sehen, die nicht mehr auf hochkarätigen Treffen Zigarren rauchen, sondern in Gefangenenkleidung auf ihren Prozess warten. Man kann den verhassten ehemaligen Innenminister sehen, der den Schussbefehl auf die Demonstranten gab.
Aber er schreitet nicht mehr einher wie ein arroganter Despot, der uns ins Gesicht spuckt, während seine Untergebenen Wortführer der Opposition misshandeln, sondern trägt Gefängniskleidung und wartet auf seinen Prozess.
Tausend kleine Mubaraks
Die Festnahme und Anklage einiger hochrangiger korrupter Amtsträger waren und sind Millionen Menschen Anlass zu Euphorie. Aber viele einfache Menschen erkennen auch, dass sie die Revolution nicht gemacht haben, um ein paar Figuren aus dem alten Regime zu bestrafen, sondern um das ganze Regime zu verändern.
Daher steht Mubaraks Sturz für viele nur für den Anfang der Revolution und nicht für deren Ende. Ihr Slogan wurde sehr rasch: In jedem Winkel Ägyptens, in jeder Fabrik, jeder Schule und jedem Unternehmen gibt es tausend kleinere und korrupte Mubaraks, gegen die wir kämpfen und die wir loswerden müssen.
Unterdrückte Kopten
Am 12. Februar fingen wenige Stunden nach Mubaraks Rücktritt Arbeiter, Studenten und sogar die unterdrückte koptische Minderheit an, das Ende von Jahrzehnten der Ausbeutung und Unterdrückung zu organisieren.
Millionen armer und unterdrückter Menschen haben sich an beeindruckenden und inspirierenden Aktionen für soziale Gerechtigkeit und eine Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche beteiligt.
Weiterhin mächtig
Aber natürlich ist die ägyptische herrschende Klasse, die von dem revolutionären Aufstand verwundet und erschüttert worden ist, weiterhin mächtig und kämpft darum, ihre Macht und ihre Privilegien zu erhalten. Sie tut dies mit der Hilfe und unter der Führung des Obersten Rates der Streitkräfte, was der gesäuberte Name für Mubaraks oberste Garde an Generälen ist.
Unmittelbar nach Mubaraks Sturz begann mit anderen Worten in Ägypten eine Phase intensiver sozialer und Klassenkämpfe. Millionen Arbeiter und Studenten nahmen den Versuch auf, den Verlauf des revolutionären Aufstandes durch eine Reihe gewagter und mutiger Kämpfe zu beeinflussen.
Streiks überall
Ich will einen Eindruck von einigen dieser Kämpfe vermitteln und fange mit der Ausbreitung der Arbeiterkämpfe an. Es ist unzweifelhaft, dass die Streiks der Industriearbeiter, die ab dem 9. Februar in ganz Ägypten stattfanden, einer der ausschlaggebenden Gründe für die Entscheidung der Generäle waren, dass Mubarak weg musste. Das sollte geschehen, bevor der revolutionäre Aufstand weiter in die Tiefe gehen würde und so das ganze gesellschaftliche System gefährde.
Der Rat hatte tatsächlich allen Grund zur Sorge. Seit dem 12. Februar, nur Stunden nach Mubaraks Rücktritt, haben Arbeiter im ganzen Land, in der privaten Wirtschaft wie im öffentlichen Dienst gestreikt, demonstriert oder Sit-Ins organisiert. Die Arbeiter in der Ölindustrie, Lehrer, Krankenpflegepersonal, Busfahrer, Reinigungskräfte, Journalisten und Apotheker und sogar die Angestellten nobler Golfclubs haben sich organisiert und protestiert.
Gegen Privatisierung
Die Forderungen der Arbeiter unterscheiden sich nach Branchen, aber sie alle drehen sich im Kern um vier Themen: Die Arbeiter wollen überall höhere Löhne und Sozialleistungen. Sie fordern Festverträge für die Millionen von befristet Beschäftigten, deren Verträge manchmal nur drei Monate laufen. Sie wollen ein Ende der Privatisierungen öffentlicher Unternehmen, und viele im öffentlichen Dienst fordern die Wiederverstaatlichung von Unternehmen, die privatisiert unter Marktwert an Investoren verkauft wurden. Und sie wollen die Entfernung aller korrupten Firmenchefs, die von Mubarak eingesetzt wurden.
Dieses letzte Thema berührt den Kernbereich des Kampfes um Wirtschaftsdemokratie. In der strategisch wichtigen Industriestadt Mahalla zum Beispiel haben vergangenen Monat 24.000 Arbeiter in der Textilindustrie gestreikt, den korrupten Firmenchef vertrieben und die Armee gezwungen, ihren Alternativkandidaten zu akzeptieren.
Militanz und Zuversicht
Das Gleiche spielt sich in Fabriken und Unternehmen im ganzen Land ab: die Erwartungen der Arbeiter sind sehr hoch, und ihre Militanz und Zuversicht sind phänomenal.
Vor zwei Wochen bekam ich nahe meiner Wohnung in der Kairoer Innenstadt einen Streik hautnah mit. Rund 1.200 Druckangestellte aus einem staatlichen Betrieb, die Schulbücher herstellen, traten in den Streik, um höhere Löhne zu fordern – sie verdienen im Schnitt 100 Dollar im Monat – und gegen das skandalöse Monatseinkommen des Direktors von 60.000 Dollar, respektlosen Umgang am Arbeitsplatz, befristete Verträge, eine unsägliche betriebliche Gesundheitsvorsorge und vieles andere zu protestieren.
Chef eingeschlossen
Dreihundert Arbeiter versuchten, das Gebäude zu stürmen, um zum Büro des Direktors zu kommen, aber eine Einheit der Armee hielt sie auf. Also belagerten die Streikenden das Firmengebäude und schlossen ihren korrupten Chef in seinem Büro im fünften Stock 36 Stunden lang ein.
Der kommandierende Armeeoffizier verhandelte zusammen mit einem Gewerkschaftsvertreter 24 Stunden lang mit dem Firmenchef. Der Armeeoffizier zwang den Chef, auf 90 Prozent der Forderungen der Arbeiter einzugehen, damit er sie nach hause schicken könne. Der Chef gab nach, und der Offizier kam zusammen mit dem Gewerkschaftsvertreter nach unten, um das Verhandlungsergebnis bekannt zu geben. Die Streikenden waren begeistert und kurz davor, ihre Versammlung aufzulösen.
Militante Arbeiterin
Aber einige wütende junge Arbeiter, deren befristete Verträge kürzlich beendet worden waren, waren zornentbrannt und versuchen wiederum, das Gebäude zu stürmen. Gleichzeitig redete eine ältere, militante Arbeiterin auf den Rest der Arbeiter ein, damit sie die Jungen nicht im Stich ließen. Der größte Teil der Streikenden beschloss zu bleiben.
Sie schickten den Offizier und den Gewerkschafter wieder nach oben, um dem Chef aufzutragen, dass er alle befristeten Arbeiter wieder einstellen und ihnen unbefristete Verträge anbieten solle. Und sie trugen ihrem Gewerkschaftsvertreter auf, nicht ohne Zusagen zu jeder einzelnen ihrer Forderungen zurückzukommen.
Freie Gewerkschaften
Dies ist ein Beispiel für die militanten Streiks, Sit-Ins und Hungerstreiks, die jeden Tag in ganz Ägypten stattfinden. Die Arbeiter lösen sich auch vom staatlich geleiteten Gewerkschaftsbund und gründen unabhängige Gewerkschaften. Ein Teil der militanten Arbeiter ist dabei, eine neue politische Partei zu gründen: die Demokratische Arbeiterpartei.
Ich will nun kurz einige der Initiativen und Kämpfe der Studenten beschreiben. Als die Armee nach Mubaraks Abgang die Schulen und Universitäten endlich wieder öffnete, eröffneten Millionen Studenten, Schüler, Lehrer und Professoren, von denen viele am Aufstand des 25. Januar teilgenommen hatten, eine neue Front der Auseinandersetzungen.
Zeltlager auf den Unis
In einer Universität nach der anderen fanden Massenversammlungen von Studenten und Belegschaften statt, um neue Präsidenten und Fachbereichsleiter zu wählen und die loszuwerden, die Mubarak bestimmt hatte. Einige Universitäten haben die Studenten nach dem Vorbild des Tahrir-Platzes mit Zeltlagern besetzt, um ihre Forderungen durchzusetzen. Und in allen Hochschulen haben die Studenten erreicht, dass eine schon vor Jahresfrist ergangene Gerichtsentscheidung umgesetzt wurde, die das Entfernen der Geheimpolizei vom Campus vorschreibt.
Auch die älteren Schüler haben ihre Anliegen und Forderungen formuliert. Sie haben demonstriert, um die Abschaffung der Prügelstrafe und die Entfernung aller Teile des Lehrplans durchzusetzen, die sich auf die so genannten Errungenschaften Mubaraks beziehen. Das Erziehungsministerium ist dem nachgekommen.
Schauspieler rebellieren
Aber das ist nur ein Ausschnitt aus der Welle von Kämpfen um Demokratisierung, die in jeden Winkel und Bereich der Gesellschaft rollt. Journalisten entfernen Mubarak-freundliche Herausgeber. Schauspieler und Angestellte der Filmindustrie rebellieren gegen den autokratischen Gewerkschaftsvorsitzenden. Fans boykottieren viele ihrer einstmals beliebten Schauspieler und Sänger, die Mubarak unterstützten. Fußballschiedsrichter drohen mit Streik für bessere Entlohnung. Sportler verlangen, dass die Vereine aufhören, all ihre Mittel für Fußballspieler auszugeben. Die Pfadfinder verlangen Wahlen – und so weiter und so fort.
Fußballfans gehen in Ägypten zu den Spielen, aber sehr wenige von ihnen vertun ihre Zeit damit, sie sich anzusehen oder ihre Spieler anzufeuern. Organisierte Fangruppen, die an der Revolution teilgenommen und Märtyrer verloren haben sind wütend, dass ihre Idole, die berühmten Erstligaspieler, sich nicht am Tahrir-Platz gezeigt haben und einige von ihnen offen Mubarak unterstützten. Die Fans verspotten diese Spieler mit Gesängen und riesigen Transparenten.
Eines davon bei einem Spiel vor kurzem lautete: »Wir haben dich in jeder Sekunde unterstützt, aber wo warst du, als wir dich brauchten?« Als der Aufstand in Libyen begann, gingen Fans mit einem großen Transparent in den Farben von Libyen, Tunesien und Ägypten zu einem Spiel. Darauf stand: Die freie Republik Nordafrika.
Bei jedem Spiel findet man hunderte Menschen, die weiter Sprechchöre gegen Mubarak und den früheren Innenminister singen oder den Rücktritt von Gouverneuren oder ähnliches fordern.
Bittere Opposition
Natürlich hat die herrschende Klasse dem Aufkommen revolutionärer Kräfte in der ganzen Gesellschaft vom ersten Tag an bittere Opposition entgegengestellt. Die ägyptische kapitalistische Klasse ist stärker und sitzt fester im Sattel als die Elite um Ben Ali in Tunesien oder das libysche Regime von Muammar al-Gaffafi. Jetzt setzt diese herrschende Klasse all ihre ideologischen und manchmal repressiven Mittel ein, um die Flut der Kämpfe von Arbeitern und Armen zu bremsen oder wenigstens zu verlangsamen.
Seit dem 12. Februar verfolgt der Oberste Rat der Streitkräfte die Strategie, alle Forderungen der Revolution vom 25. Januar abzulehnen oder auf die lange Bank zu schieben, um die Menschen zu demoralisieren.
Streikende festnehmen
Der Rat lehnte zum Beispiel ursprünglich die Forderung ab, das letzte von Mubarak geformte Kabinett zu entlassen. Er lehnte ebenso die Forderung ab, den gesamten Apparat der Geheimpolizei aufzulösen, und versprach stattdessen, ihn zu reformieren. Der Rat verunglimpft täglich streikende Arbeiter und ruft sie auf, wieder an die Arbeit zu gehen. In einigen Fällen hat er versucht, Streikende festzunehmen.
Darüber hinaus haben Überbleibsel der NDP und der Geheimpolizei eine koptische Kirche in Helwan südlich von Kairo in Brand gesteckt, um eine Bürgerkriegsatmosphäre zwischen Muslimen und Christen zu erzeugen und so das revolutionäre Lager zu spalten. Dann haben von der NDP organisierte Schlägertruppen Christen attackiert, die gegen den Brandanschlag auf ihre Kirche demonstrierten – und die Polizei sah tatenlos zu. Neun Menschen wurden hierbei umgebracht, Dutzende verletzt.
Folter im Museum
Erst vor kurzem hat die Armee sich geweigert, einen neuen Verfassungsentwurf zu erarbeiten und bestand darauf, die Menschen zu zwingen, über neun Zusätze zu der 1971 unter Mubarak erlassenen Verfassung abzustimmen. Außerdem haben Soldaten am 9. März Demonstranten auf dem Tahrir-Platz misshandelt und dabei elektrische Schlagstöcke eingesetzt. Diejenigen, die sie festnahmen, haben sie stundenlang in ihrem provisorischen Hauptquartier im Ägyptische Museum gefoltert.
Ich muss ehrlich zugeben, dass ein paar Tage lang, Ende Februar, Anfang März, unter Millionen Menschen das Gefühl um sich griff, dass nicht alles gut geht, dass die Revolution bestenfalls unter Belagerung stand und konterrevolutionäre Kräfte im schlimmsten Fall dabei waren zu gewinnen.
Opposition von unten
Zum Glück hat sich die Situation aufgrund der großen revolutionären Hoffnungen und der Kampfbereitschaft für unsere Forderungen gewendet. Zuerst haben Massendemonstrationen und unnachgiebige Opposition von unten den Rat schließlich dazu gezwungen, das Mubarak-Kabinett am 3. März zu entlassen.
Am 4. März dann, während Millionen diesen Sieg feierten fingen Revolutionäre in Alexandria eine Belagerung des Hauptquartiers der Geheimpolizei an und legten es lahm. Am folgenden Tag marschierten Demonstranten in einer Stadt nach der anderen auf die örtlichen Zentralen der Geheimpolizei los. An einigen Orten besetzten die Aufständischen die Gebäude, befreiten politische Gefangene aus Folterkammern und kamen mit Tonnen geheimer Dokumente heraus, die Unterdrückung und Folter detailliert beschreiben.
Geheime Dokumente
Diese mutige Tat von tausenden Aufständischen zwang die Armee, die Geheimpolizeizentralen in zahlreichen Orten zu besetzen und zu schließen. Eine Woche später, als Millionen Menschen immer noch die Dokumente durchlasen, die man aus den Gebäuden gebracht hatte, löste die Armee diese bösartige Einrichtung schließlich auf, setzte Dutzende ihrer Leitungskader fest und klagte sie wegen Korruption und Folter an.
Die Entlassung des Mubarak-Kabinetts und die Niederlage der Geheimpolizei ermutigte alle, die die Revolution unterstützen, gewaltig. In derselben Woche brachten die Massenmobilisierungen der Christen gegen den Brandanschlag auf die Kirche in Helwan einen weiteren wichtigen Sieg für die Revolution. Zehntausende Christen, die von einer großen Zahl Muslime unterstützt wurden, besetzten die Nordseite des Tahrir-Platzes und belagerten so das Gebäude des Fernsehens acht Tage lang. Sie wollten so ihrer Forderung an die Armee Nachdruck verleihen, ihre Kirche wieder aufzubauen und den Christen Schutz zu bieten. Nach acht Tagen gab die Armee nach und baute die Kirche wieder auf.
Christen und Muslime gemeinsam
Dies war nicht nur ein großer Sieg für die Christen, die seit Jahrzehnten systematisch diskriminiert werden. Sondern die weit verbreitete Solidarität von Muslimen für die Demonstranten vor dem Fernsehgebäude und anderswo im Land verstärkte wieder das Gefühl, ein gemeinsames Ziel zu haben, nämlich den Sieg über die Teile-und-Herrsche-Strategie der Konterrevolutionäre.
Die kommenden Tage und Wochen in Ägypten werden mit Sicherheit zu einer weiteren Zuspitzung der sozialen und Klassenpolarisierung führen, die am 11. Februar ausbrach.
Auf der einen Seite haben der Oberste Rat und das neue Kabinett ihre Maßnahmen und Propaganda gegen die Revolution verschärft. Sie werden von weiten Teilen der verängstigten Mittelschicht und selbstverständlich von den Reichen unterstützt.
Weitere Zuspitzung
Das Regierungskabinett hat zum Beispiel vor kurzem ein drakonisches neues Gesetz angekündigt, das künftig bestimmte Arten von Streiks und Protesten in Zeiten des Notstands unter Strafe stellen würde. Die Armee hat ebenso versucht, Gewalt einzusetzen, um ein zehn Tage währendes Sit-In von Studenten des Instituts für Kommunikationswissenschaften an der Kairoer Universität aufzulösen. Die Streikenden fordern die Entlassung des korrupten Fachbereichsleiters.
Armee und Regierung können sich jetzt auf neue Verbündete in ihrem Kampf um »Stabilität« und »Recht und Ordnung« verlassen: die Muslimbruderschaft und die Islamisch Fundamentalistische Gruppe. Die Muslimbruderschaft und reaktionärere Fundamentalisten haben sich die kosmetischen Veränderungen an der Verfassung eingesetzt, die der Oberste Rat vorschlägt. Diese Gruppen haben aus dem Referendum eine Volksabstimmung über die »islamische Identität« des Landes gemacht.
Mubaraks NDP
Sie erzählen den Leuten, dass es ihre religiöse Pflicht sei, mit Ja zu stimmen, um die Gründung eines sekulären Staates mit gleichen Rechten für christliche Minderheit zu verhindern. Es ist kaum zu glauben, aber zu diesem Zweck hat die Muslimbruderschaft eine Koalition mit den Leuten geschlossen, die sie bisher eingesperrt haben: Mubaraks NDP. Die NDP ist diskreditiert, muss aber noch aufgelöst werden. Sie war die einzige weitere politische Gruppe im Land, die den Vorschlag der Armee unterstützt.
Die Fundamentalisten versuchen also, das Land entlang religiöser Linien zu spalten und die Einheit zwischen Christen und Muslimen, die seit dem 25. Januar geschmiedet wurde, zu schwächen. Das kann nur dem alten Regime nutzen.
Attentate der Geheimpolizei
Gleichzeitig verüben Überbleibsel der alten Geheimpolizei eine Serie von Brandanschlägen auf Gebäude des Innenministeriums, um Beweise für ihre Verbrechen zu vernichten, und versuchen im Land Chaos zu verbreiten, indem sie mit Attentaten auf prominente Unterstützer der Revolution wie Mohamed El Baradei und den Kefaya-Anführer George Ishaq drohen.
Trotzdem gab es gegen Mitte März eine Reihe positiver Entwicklungen auf der Seite der Unterstützer der Revolution. Zum einen überdenkt mittlerweile eine wachsende Minderheit der Menschen, die anfänglich den Obersten Rat unterstützten und glaubten, er würde die Revolution verteidigen, ihre Position. Teile der Aktivisten, die bisher still waren, kritisieren den Rat nun öffentlich für seine Halbherzigkeit bei der Erfüllung der Revolutionsforderungen nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Das wäre in den ersten Wochen nach dem 11. Februar unmöglich gewesen. Einige ziehen den Schluss, dass die Armee an den konterrevolutionären Aktivitäten beteiligt ist.
Streiks breiten sich aus
Zweitens breiten sich die Streiks von Arbeitern weiter aus und werden militanter. Am 19. März zum Beispiel veranstalteten tausende Angestellte des Fernsehens ein Sit-In in und vor dem staatlichen Rundfunkgebäude am Tahrir-Platz. Sie forderten die Demokratisierung der Einrichtung, höhere Löhne und die Entlassung aller Manager, die Mubarak unterstützten. Sie drohten damit, das Fernsehen abzuschalten, falls ihre Forderungen nicht erfüllt würden.
Die Bahnangestellten haben den gesamten Zugverkehr im Süden des Landes lahm gelegt und so alle Zugänge zu den touristischen Zentren in Luxor und Assuan blockiert, um ihre Lohnforderungen durchzusetzen. Derweil bauen Arbeiter weiter ihre eigenen Gewerkschaften auf. Am 25. März verkündeten tausende Transportarbeiter, deren Streik während des Aufstandes eine zentrale Rolle dabei spielte, Kairo stillzulegen und Mubarak zu vertreiben, nach vier Jahren des Kampfes gegen den gelben, staatlich dirigierten Gewerkschaftsbund die Gründung einer eigenen Interessenvertretung an.
Neue Gewerkschaften
Am selben Tag gaben hunderte Krankenpfleger, Arbeiter und Ärzte des Manshiat al-Bakri Krankenhauses in Kairo die Gründung einer gemeinsamen unabhängigen Gewerkschaft bekannt, nachdem sie zwei Monate lang fieberhaft Proteste veranstaltet und sich organisiert hatten. Die Textilarbeiter in Mahalla haben ebenso wie viele andere auch neue Gewerkschaften gegründet.
Alle diese Gruppen schließen sich dem neu gegründeten Ägyptischen Bund Unabhängiger Gewerkschaften an, und Mitte März zwang der Druck aus Streiks und Protesten die neue Regierung, die alten Arbeitsgesetze zu ändern und alle unabhängigen Gewerkschaften anzuerkennen.
Linke Parteien
Während die Muslimbrüder, Islamisten und Liberale alle eifrig damit beschäftigt sind, noch vor den Wahlen, die für den Verlauf des Jahres geplant sind, neue politische Parteien zu gründen, schaffen auch Arbeiter und die Linke ihre eigenen Organisationen und Parteien, um für die Forderungen der Arbeiter und radikale Demokratie kämpfen zu können. Hunderte militanter Gewerkschafter haben sich zum Beispiel zusammengetan, um die Demokratische Arbeiterpartei zu gründen.
Außerdem haben hunderte Sozialisten, Progressive und Gewerkschafter eine breite linke Sammelpartei namen Volkskoalition gegründet. An den Universitäten haben viele Professoren und Dozenten alle möglichen Mobilisierungen der Studenten unterstützt, die die Hochschulen demokratisieren wollen.
Volkskomitees in Stadtteilen
In den Stadtteilen gründen sich Volkskomitees, um die Revolution zu verteidigen. Diese wurden von Sozialisten und anderen Aktivisten des Tahrir-Platzes ins Leben gerufen und sind mittlerweile in elf Gouvernements, den ägyptischen Entsprechungen der Bundesländern, verbreitet. Die Komitees haben tausende von Mobilisierungen um soziale Anliegen und zur Abschaffung der letzten Überreste des Mubarak-Regimes organisiert.
Im Gegensatz zum Obersten Rat und dem Kabinett, die Frauen bei der Besetzung der Ministerposten und des Verfassungskomitees komplett übergangen haben, spielen Frauen ein weit größere Rolle in den neuen Gewerkschaften, linken Parteien und den Volkskomitees zur Verteidigung der Revolution.
Bewusstsein entwickelt sich
Die meisten demokratischen Errungenschaften der ägyptischen Revolution seit dem 11. Februar lässt sich nur auf massiven Druck von unten und die mutigen Mobilisierungen tausender Revolutionäre wie zum Beispiel die Besetzungen der Geheimpolizeizentralen zurückführen. Ein Bewusstsein für die neue Lage entwickelt erst. Millionen von Menschen, die die Revolution unterstützen, haben sich den Aktionen noch nicht selbst angeschlossen. Sie warten immer noch darauf, dass der Oberste Rat und die neue Regierung ihre Versprechen erfüllen, die Gehälter erhöhen und die Korruption der führenden Geschäftswelt beenden.
Der Rat und seine Regierung stellen jedoch täglich ihre Verachtung für diese Massen armer Menschen zur Schau – bis zu dem Punkt, wo der neue Premierminister streikende Arbeiter mit Straßenschläger verglich. Im Laufe der Zeit und wenn die Verteidiger des alten Systems weiter ihre Versprechen brechen, könnten die Revolutionäre Millionen neuer Anhänger für ihre Anstrengungen gewinnen. Und indem Millionen sich der revolutionären Welle in der arabischen Welt anschließen, könnte sich das Gleichgewicht weiter gegen die alte Ordnung verschieben.
Die gegenwärtigen Anstrengungen von Arbeitern, Studenten und politischen Aktivisten, neue Organisationen zu schaffen, legen das Fundament sowohl für weitere Runden von Kämpfen und für eine Alternative zu den reaktionären Projekten der alten herrschenden Klasse und der Fundamentalisten. Wie ein Revolutionär gern sagt: »Der Frühling der ägyptischen Revolution ist gerade erst angebrochen.«
Zum Artikel
Dieser Text ist die Mitschrift einer Rede, die Mostafa Omar Ende März in New York City gehalten hat. Er erschien zuerst auf www.socialistworker.org. Aus dem Englischen von David Meienreis.
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